Sachbuch: CO2-Ausstoß zum Nulltarif
Auf der Grundlage dieser Artikelserie ist ein Sachbuch entstanden, welches am 18.02.2024 beim Rotpunktverlag in Zürich erschienen ist. Das Buch „CO2-Ausstoß zum Nulltarif – Das Schweizer Emissionshandelssystem und wer davon profitiert“ ist bei uns im Shop oder in der Buchfiliale deines Vertrauens erhältlich.
In Kürze
- Dem Staat entgingen nicht nur fast drei Milliarden Franken an Einnahmen, er verschenkte auch noch potenzielle Millionengewinne an die klimaschädlichsten Konzerne der Schweiz.
- Die Folge davon: Die Emissionen der subventionierten Konzerne sind mangels finanziellem Druck nur bedingt gesunken.
- Unsere Recherche zeigt zudem: In wirklich transformative Massnahmen wurde wenig investiert.
- Es war und ist gerade die EHS-Industrie, die sich gegen die Einführung von klaren Anreizen gestellt hat.
Es sind Milliarden, die dem Staat bereits durch die Lappen gingen. Milliarden an nicht eingenommenen Abgaben, weil rund 40 Firmen im Schweizer Emissionshandelssystem (EHS) eine Dauerflatrate auf ihre Monsteremissionen genossen, anstatt wie alle anderen die CO2-Abgaben zu bezahlen.
Hätten diese Firmen in der letzten EHS-Handelsperiode von 2013 bis 2020 die übliche CO2-Abgabe bezahlen müssen, hätte sie das 2.9 Milliarden Franken gekostet. Im EHS haben sie für dieselbe Menge an Emissionen schätzungsweise nur 92 Millionen Franken bezahlt. Dies zeigen Recherchen von das Lamm.
Das EHS war für die Firmen also um Welten billiger als die CO2-Abgabe. Der Hauptgrund dafür: Im EHS müssen die Firmen den Grossteil der Emissionsrechte gar nicht kaufen, sondern erhalten sie vom Bundesamt für Umwelt gratis zugeteilt. Einige EHS-Konzerne konnten diese Emissionsrechte gar anhäufen und könnten sie heute auf dem Emissionsmarkt verkaufen. Der aktuelle Gegenwert aller angehäuften Emissionsrechte beläuft sich laut den Berechnungen von das Lamm, Stand 25. Januar 2023, schätzungsweise auf 361 Millionen Franken.
Dem Staat entgingen also nicht nur 2.9 Milliarden Franken an Einnahmen, er verschenkte auch noch potenzielle Millionengewinne. Und das an die klimaschädlichsten Konzerne der Schweiz.
Dass es sich bei den erlassenen EHS-Milliarden in Form von verschenkten Gratiszertifikaten um Subventionen handelt, darüber sind sich Expert*innen grösstenteils einig – so listet etwa auch der Kieler Subventionsbericht des Instituts für Weltwirtschaft die gratis zugeteilten EHS-Zertifikate als Subventionen auf. Schwieriger zu beantworten ist hingegen die Frage, ob diese Subventionen gerechtfertigt sind.
Haben die Subventionen ihren Zweck erfüllt?
So viel vorneweg: Die Subventionierung in Form von Gratiszertifikaten hat das sogenannte Carbon-Leakage, also das Abwandern von Emissionen oder ganzer Produktionsstätten ins Ausland, verhindert. Ob Carbon-Leakage jedoch auch mit weniger grossen Subventionen hätte verhindert werden können – das kann bei der vorhandenen Datenlage niemand abschliessend beurteilen.
Was jedoch klar ist: Die Emissionen der subventionierten Konzerne sind mangels finanziellem Druck nur bedingt gesunken. Auch wenn die EHS-Unternehmen ihre Emissionen teilweise reduzieren konnten – in anderen Sektoren wurde deutlich mehr erreicht.
Berechnungen von das Lamm zeigen: Im besten Fall konnten die EHS-Firmen ihre Emissionen in der letzten Handelsperiode um rund 10 Prozent senken. Laut dem offiziellen Treibhausgasinventar der Schweiz haben bei den Privathaushalten die Emissionen im selben Zeitraum um ganze 32 Prozent abgenommen.
Firmen, die ihre Klimakosten unter dem Emissionshandelssystem abrechnen dürfen, bezahlen keine CO2-Abgabe. Stattdessen müssen sie für jede ausgestossene Tonne CO2 ein entsprechendes Zertifikat erwerben. Diese Zertifikate sind nichts anderes als Emissionsrechte. Dabei gibt es nur eine bestimmte Menge an Zertifikaten und diese Menge, der sogenannte Cap, wird schrittweise gesenkt. Diese Verknappung soll den Preis der Zertifikate erhöhen.
Die Firmen können die Zertifikate auf zwei Arten beziehen: Entweder sie erwerben sie käuflich oder sie bekommen sie geschenkt. Das Bundesamt für Umwelt (BAFU) verteilt jedes Jahr eine grosse Menge an Gratiszertifikaten an die Schweizer EHS-Firmen, um zu verhindern, dass sie ihre Emissionen ins Ausland verlagern.
Zeitlich ist das EHS in mehrjährigen Handelsperioden mit mehr oder weniger gleichbleibenden Regeln organisiert. Die letzte Handelsperiode lief von 2013 bis 2020.
Wichtig: Die Zertifikate im Emissionshandelssystem sind nicht an Projekte gekoppelt, die der Atmosphäre Klimagase entziehen, wie man das zum Beispiel von Kompensationen für Flugreisen kennt. Bei diesen freiwilligen Kompensationszahlungen spricht man zwar oft auch von “Zertifikaten”, diese haben aber nichts mit dem EHS zu tun.
Wer darf beim EHS mitmachen?
Grundsätzlich sind im EHS Firmen aus den Branchen mit den höchsten Treibhausgasemissionen vertreten. Dabei gibt es solche, die beim EHS mitmachen „müssen“, weil sie im Anhang 6 der CO2-Verordnung stehen. Auf dieser Liste sind beispielsweise die Metall- oder die Zementindustrie. Dieses „müssen“ kann jedoch zu Missverständnissen führen. Denn die Firmen werden hier zu etwas gezwungen, das ihnen bis jetzt vor allem Vorteile verschafft hat.
Zusätzlich gibt es Branchen, die freiwillig beim EHS mitmachen können. Diese stehen im Anhang 7 der CO2-Verordnung. Hier befinden sich zum Beispiel die Chemie‑, die Papier- oder die Holzindustrie. Kurzum: Im EHS versammeln sich die Grosskonzerne aus der Energieproduktion und der Schwerindustrie.
Der überwiegende Teil der Schweizer Firmen darf aber nicht am EHS teilnehmen. Diese zahlen stattdessen für jede Tonne Klimagase eine CO2-Abgabe von 120.– Franken.
Im EHS registriert werden genau genommen nicht die Firmen selbst, sondern die verschiedenen Industrieanlagen der Firmen – also ein Zementwerk, ein Stahlwerk oder ein Heizwerk. Deshalb kann eine Firma auch mit mehreren Standorten im EHS vertreten sein.
Wie wird bestimmt, wer wie viele Gratiszertifikate erhält?
Die Anzahl Gratiszertifikate, die eine Firma vom BAFU erhält, ist von zwei Faktoren abhängig. Einerseits erhalten Firmen, die bereits eine gute CO2-Bilanz haben, mehr Gratiszertifikate als solche, die schlecht dastehen. Was man dabei aber nicht vergessen darf: Auch Firmen beziehungsweise deren Produktionsanlagen, die in diesem Ranking zu den besten zählen, emittieren immer noch Unmengen an Klimagasen.
Anderseits erhalten Firmen, die für ihre Produkte den sogenannten Carbon-Leakage-Status beanspruchen, mehr Gratiszertifikate als solche ohne. Von Carbon-Leakage spricht man dann, wenn die Klimagasemissionen wegen hoher Abgaben, Steuern oder anderen Klimaschutzmassnahmen in ein anderes Land verlagert werden, in dem es billiger ist, CO2 zu emittieren.
In der Handelsperiode von 2013 bis 2020 mussten alle Schweizer EHS-Firmen zusammen 39 Millionen Zertifikate abgeben. Vom BAFU wurden 38 Millionen Zertifikate gratis verteilt. Viele Schweizer EHS-Firmen haben deshalb eine beträchtliche Menge EHS-Zertifikate beiseitelegen können. Diese Reservebildung schwächt die Wirkung des EHS-Konzepts ab.
Wie kommen die EHS-Firmen zu den restlichen Zertifikaten?
Einerseits führt das BAFU regelmässig Versteigerungen durch. Andererseits handeln die EHS-Firmen sowie andere am CO2-Markt interessierte Akteur*innen untereinander mit den Emissionsrechten. Dieser Handel läuft über mehrere Energiebörsen – zum Beispiel über die European Energy Exchange (EEX) mit Sitz in Leipzig.
Verknüpft mit dem europäischen EHS und trotzdem anders. Wie geht das?
Seit dem 1. Januar 2020 ist das Schweizer EHS mit dem europäischen EHS verknüpft. Deshalb gelten in beiden Systemen grundsätzlich dieselben Regeln. Da diese EHS-Regeln aber in eine nationale Klimagesetzgebung eingebettet sind, bedeutet die Teilnahme am EHS für eine europäische Firma trotzdem nicht zu hundert Prozent dasselbe wie für eine Schweizer Firma. Ein Beispiel: Anders als in den meisten EU-Ländern bezahlen die Firmen, die nicht im EHS sind, in der Schweiz auf fossile Brennstoffe eine CO2-Lenkungsabgabe. Diese liegt momentan bei 120 Franken pro Tonne CO2.
Diese Lenkungsabgabe wird grösstenteils an die Schweizer Bevölkerung zurückverteilt. Aber auch EHS-Firmen erhalten bei dieser Rückverteilung Geld, obwohl sie gar keine CO2-Abgabe bezahlt haben. Diese zusätzlichen Einnahmen aus der nationalen CO2-Abgabe erhalten europäische EHS-Firmen nicht.
Entsprechend wollten wir von den EHS-Konzernen wissen, ob sie diese finanziell überprivilegierte Position wenigstens dafür genutzt haben, um in die Dekarbonisierung ihrer Produktionsabläufe zu investieren. Doch eine Antwort auf unsere Frage fällt vielen Firmen sichtlich schwer. Der Grund: Es fehlen die entsprechenden Zahlen.
Keine Daten zu Klimainvestitionen
Die in der Energieversorgung tätige Transitgas AG schreibt auf Anfrage, dass man uns die gewünschten Daten nicht liefern könne, weil man „vieles erst 2020 angepackt“ habe. Auch der Flughafen Zürich kann keine konkrete Zahl für seine Klimainvestitionen nennen, da man die Klimaschutzkosten nicht separat erhebe. „So gilt beispielsweise die Erneuerung einer Gesamtbeleuchtung mit Umstellung auf LED nicht als Klimaschutzmassnahme, auch wenn dadurch der Strombedarf mehr als halbiert werden kann“, schreibt die Mediensprecherin des Flughafens auf Anfrage.
Laut dem Bundesamt für Energie (BFE) brauchen wir für den klimagerechten Umbau der Schweiz über die nächsten 25 Jahre hinweg 109 Milliarden Franken zusätzliche Klimainvestitionen.
Nicht mit eingerechnet sind Unterstützungsgelder für die Länder des globalen Südens, zu denen sich die Schweiz zusammen mit allen anderen Industriestaaten im Pariser Klimaabkommen im Sinne der ausgleichenden Gerechtigkeit verpflichtet hat. Doch diese Abmachung war von Anfang an ungenau. Vor allem, weil nie festgelegt wurde, wer wie viel bezahlen muss. Stattdessen soll jedes Industrieland selbst entscheiden, welcher Betrag angemessen ist – je nachdem, wie hoch die eigenen Emissionen waren und je nach den finanziellen Mitteln, die dem Land zur Verfügung stehen. Sprich: Reiche Länder mit hohen Emissionen sollen mehr bezahlen. Je nach Quelle liegt der faire Anteil der Schweiz laut diesen Kriterien zwischen 500 und 800 Millionen Franken pro Jahr.
Bei etwaigen Wiedergutmachungsklagen, zum Beispiel weil ein im Ozean versunkener Inselstaat von den weltweit grössten Emittent*innen Schadensersatz einfordert, könnte sich dieser Betrag aber massiv erhöhen. Verfahren dieser Art gegen den Schweizer Staat laufen bis dato zwar noch keine. Eine Klage von Inselbewohner*innen gegen den Schweizer Betonkonzern Holcim sorgte jedoch jüngst für Aufsehen.
Politisch steht für die Klimafinanzierung bis anhin nur ein konkreter Vorschlag zur Diskussion: die Klimafonds-Initiative. Sie wurde gemeinsam von der SP und den Grünen initiiert. Die Initiative fordert, dass der Bund jedes Jahr zwischen 3.5 und 7 Milliarden Franken in die ökologische Wende investiert. Die zwei Parteien sammeln dafür seit vergangenem September Unterschriften.
Ähnlich schwammig klingt es bei Perlen Papier im luzernischen Perlen: „Wir investieren pro Jahr insgesamt 20 bis 30 Millionen Franken in neue Kapazitäten, Anlagen und Effizienzverbesserungen“, schreibt uns der Kommunikationsleiter der Papierfabrik als Antwort. Diese Massnahmen seien zwar auch klimarelevant, der Effekt werde aber nicht gesondert ausgewiesen.
Trotzdem lohnt es sich, diese Investitionen mit den Subventionen via EHS zu vergleichen. Von 2013 bis 2020 sparte Perlen Papier laut den Berechnungen von das Lamm rund 15 Millionen Franken an CO2-Abgaben ein. Zudem hat kaum eine andere Fabrik im EHS einen grösseren Überschuss an Gratiszertifikaten erhalten. Die nicht verwendeten EHS-Zertifikate entsprechen mit dem Zertifikatspreis Ende Januar 2023 einem geschätzten Gegenwert von 81 Millionen Franken.
Vom Zementhersteller Vigier Ciment erhalten wir noch weniger klare Angaben zu den getätigten Klimaschutzinvestitionen: „Wir bevorzugen es, die Investitionskosten in Klimaschutzmassnahmen nicht zu kommunizieren”, schreibt uns die Pressestelle auf Anfrage und verweist für spezifische Umweltschutzmassnahmen auf ihren Nachhaltigkeitsbericht.
Den dort aufgeführten Massnahmen haftet aber etwas Verzweifeltes an. „Der seit 2018 in Betrieb genommene elektrische E‑Dumper ‚Lynx‘ (Anmerkung der Redaktion: ein riesiger elektronischer Muldenkipper) spart jährlich [...] 130 Tonnen CO2”, liest man unter der Rubrik „Klima“. Zur Einordnung: 2020 emittierte der Konzern 470’000 Tonnen CO2. E‑Dumper hin oder her. Oder anders gesagt: Da müssen noch einige E‑Dumper angeschafft werden, bevor sich die Klimabilanz sehen lassen kann.
Auch die Klimagerechtigkeitsbewegung rühmt sich hin und wieder damit Emissionen aus dem Industriesektor verhindert zu haben – und zwar indem sie durch Aktionen des zivilen Ungehorsams fossile Infrastruktur blockiert. Sprich: Die Klimaaktivist*innen besetzen für einige Stunden, selten für wenige Tage, Kohlebagger oder ketten sich an Gleise, die die Kohle von der Grube zum Kraftwerk transportieren. Bezüglich Grössenordnung können es die Aktivist*innen durchaus mit Klimaschutzmassnahmen der Grosskonzerne aufnehmen. Im Braunkohlekraftwerk Neurath sollen laut Angaben der Aktivist*innen mit nur einer Aktion 8’000 Tonnen CO2 verhindert worden sein.
Ein wenig konkreter fällt die Antwort des Baustoffriesen Holcim aus: „In den letzten Jahren investierte Holcim Schweiz im zweistelligen Millionenbereich in Projekte für Umweltmassnahmen.“ Berechnungen von das Lamm zeigen jedoch: Dank der Teilnahme am EHS sparte Holcim von 2013 bis 2020 satte 831 Millionen Franken CO2-Abgaben ein. Zudem haben die EHS-Zertifikate, die Holcim umsonst und überschüssig vom Staat erhalten hat, mit dem aktuellen Zertifikatspreis einen geschätzten Wert von 202 Millionen Franken.
Auf Anfrage schickt uns Holcim die Medienmitteilungen zu drei konkreten Umweltschutzmassnahmen zu. In der ersten Medienmitteilung geht es um eine neu entwickelte Zementsorte, die 10 Prozent weniger CO2-Emissionen verursacht. Damit konnte Holcim 2020 laut eigenen Angaben 7’000 Tonnen CO2-Emissionen einsparen. Laut der zweiten Medienmitteilung hat Holcim in einem seiner drei Werke eine Turbine in Betrieb genommen, mit der die bei der Zementproduktion entstehende Abwärme zur Stromerzeugung genutzt werden kann. In der dritten uns zugeschickten Medienmitteilung gibt Holcim an, dass den Mitarbeiter*innen und Besucher*innen im Zementwerk in Eclépens dank einer neuen Solaranlage nun eine Ladestation für ihre E‑Autos zur Verfügung steht.
Das alles klingt nett, ist aber höchstens ein Tröpfchen auf den heissen Stein: 2020 haben die drei Anlagen, die Holcim im EHS abrechnet, zusammen satte 1.3 Millionen Tonnen CO2 emittiert – oder anders: Rund drei Prozent aller Emissionen auf Schweizer Territorium gehen auf die Kappe des Zementherstellers.
Wir brauchen transformative Massnahmen
Auch der Wirtschaftswissenschaftler Michael Pahle ist gegenüber das Lamm skeptisch, dass Konzerne mit E‑Dumpern und Firmen-E-Autos substanziell etwas gegen die Klimakrise tun können. Pahle arbeitet am Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung zum Emissionshandelssystem und forscht an Strategien, wie Klimaneutralität erreicht werden kann.
„Es gibt marginale Massnahmen, wie Effizienzsteigerungen oder dass man E‑Autos auf dem Gelände einführt, und es gibt transformative Massnahmen“, erklärt Pahle per Videocall. Was wirklich zähle, sei jedoch ganz klar Letzteres, denn nur das ändere die Geschäftsstrategie nachhaltig. „Grundsätzlich muss man also schauen, wo für dezidiert emissionsfreie Anlagen wirklich Geld in die Hand genommen wird. Alles andere ist zu wenig, um in den noch verbleibenden zwei Jahrzehnten auf Netto-Null zu kommen.“
Im Januar 2022 gab die Varo Energy Group bekannt, dass sie die leistungsstärkste Freiflächensolaranlage der Schweiz bauen wird. Laut eigenen Angaben könnte diese den Strom für 2000 bis 2500 Haushalte produzieren. Dort wird der Strom jedoch nie ankommen, denn das grösste Solarfeld der Schweiz soll nicht etwa die Wohnungen im neuenburgischen Cressier mit Strom versorgen, sondern die letzte noch verbliebene Erdölraffinerie des Landes. „Bei voller Leistung deckt die Anlage mehr als 60 Prozent des Strombedarfs der Raffinerie ab“, ist auf der Webseite von Varo zu lesen. Dort steht auch, dass man damit zur Energiewende beitragen will. Doch: Für eine wirklich transformative Energiewende müssten die Solarpanels die umliegenden Haushalte mit Strom versorgen, anstatt einer Infrastruktur aus dem fossilen Zeitalter ein grünes Mäntelchen umzulegen.
In dieser Hinsicht hat von den angefragten EHS-Firmen nur eine wirklich etwas zu bieten: die Stahlverarbeiterin Steeltec AG in Emmenbrücke. Steeltec setzt nicht nur auf Effizienzsteigerung, sondern elektrifiziert ihre Stahlverarbeitung und spielt damit in einer anderen Liga als die Firmen mit den E‑Autos. Denn indem Steeltec auf Elektrostahlöfen umstellte, investierte sie in eine Technik, mit der sie ihr Kerngeschäft, sprich die Verarbeitung von Recyclingstahl, von fossilen Energieträgern befreit – vorausgesetzt, der für diese Technik genutzte Strom wird ohne Kohle, Erdgas oder Erdöl erzeugt.
Genügen die Klimainvestitionen?
Ein bisschen etwas hat sich also getan, jedoch unter Vorbehalten: Einerseits zählen die angefragten Firmen insgesamt nur wenige transformative Massnahmen auf. Zum anderen sind die Subventionen via EHS zum Teil weitaus höher als die von den Firmen genannten Klimaschutzinvestitionen. Um der Klimakrise die Stirn zu bieten, müsste deutlich mehr Geld fliessen.
Das sieht auch Tobias Schmidt, Professor für Energie- und Technologiepolitik an der ETH Zürich, so. Wir erreichen ihn per Videocall. Auf die Frage, ob die Schweizer Industrie genug in den klimaverträglichen Umbau investiere, antwortet er: „Nein, zumindest im Moment noch nicht.“ Finanziert vom Bundesamt für Energie arbeitet Schmidt zur Zeit an einer Studie, die aufzeigen soll, wie sich die Schweizer Industrie von der fossilen Energie befreien kann. Das Problem: „Es fehlen die Anreize und es gibt regulatorische Unsicherheiten“, so Schmidt. „Wenn ich als Zementkonzern nicht weiss, ob ich in 10 Jahren noch produzieren darf oder nicht, investiere ich nicht in eine teure Anlage, die Jahrzehnte braucht, um sich zu amortisieren.“
Das ist nachvollziehbar. Aber: Es war und ist gerade die EHS-Industrie, die sich gegen die Einführung von klaren Anreizen gestellt hat. Etwa als in der SRF-Arena im Jahr 1995 über eine mögliche CO2-Abgabe diskutiert wurde. Was sowohl Ursula Renold, die damalige Sprecherin der Schweizerischen Energiestiftung SES, als auch SP-Nationalrat Elmar Ledergerber dort sagten, erinnert stark an die Aussage von Schmidt: Die Wirtschaft braucht Anreize und klare Preissignale, damit sie ihre Produktion in Richtung weniger Emissionen und mehr Klimaverträglichkeit umstellt.
Nicht selten wird das EHS als Ablasshandel kritisiert. Es sei unmoralisch, sich davon freikaufen zu wollen, wirklich etwas für eine klimastabile Zukunft zu tun. Doch diese Kritik greift zu kurz. Das EHS ist kein Ablasshandel. Denn bei einem Ablasshandel müsste man ja immerhin etwas dafür bezahlen, wenn man die Welt an die Wand fährt. Im EHS wandern jedoch rund 95 Prozent der Emissionsrechte gratis über den Tresen.
Und auch die von links gern bediente Marktkeule greift zu kurz, um das EHS zu kritisieren: Probleme, die ihren Ursprung im Kapitalismus selbst haben, mit einem marktwirtschaftlichen Instrument lösen zu wollen, könne ja nicht funktionieren. Denn diese Analyse übersieht etwas Entscheidendes: Seit über zehn Jahren versucht man im EHS vergeblich einen Preis für das Zerstören des Planeten einzuführen – doch wo kein Preis ist, da ist auch kein Markt. Das Nichtfunktionieren des EHS ist kein Marktversagen. Denn damit ein Markt versagen kann, muss es ihn zuerst einmal geben.
Nicht selten wird das EHS als Ablasshandel kritisiert. Es sei unmoralisch, sich davon freikaufen zu wollen, wirklich etwas für eine klimastabile Zukunft zu tun. Doch diese Kritik greift zu kurz. Das EHS ist kein Ablasshandel. Denn bei einem Ablasshandel müsste man ja immerhin etwas dafür bezahlen, wenn man die Welt an die Wand fährt. Im EHS wandern jedoch rund 95 Prozent der Emissionsrechte gratis über den Tresen.
Heute, fast 30 Jahre später, fehlen die von SP und SES bereits damals geforderten Marktsignale für die klimaschädlichsten Industriezweige noch immer. Der Grund: Diejenigen auf der anderen Seite der damaligen Diskussionsrunde wollten keine solchen Anreize. Angesprochen auf eine mögliche CO2-Abgabe meinte Rolf Hartl von der Erdölvereinigung bereits 1995: „Wir sind demgegenüber relativ kritisch eingestellt.“ Auch Jacob Schmidheiny von der Zürcher Ziegeleien Holding sprach sich in der Sendung gegen eine CO2-Abgabe aus. „Für uns heisst das, ein Drittel des Profits ist weg.“
Aus der bereits 1995 geführten Diskussion resultierte tatsächlich eine, wie von Renold geforderte, langsam aber stetig steigende CO2-Abgabe auf fossile Brennstoffe. Nur: Die Zürcher Ziegeleien sind zusammen mit allen anderen energieintensiven Branchen nach wie vor davon befreit. Heute rechnen die Zürcher Ziegeleien, unter dem Namen ZZ Wancor, im EHS ab, anstatt die teuren CO2-Abgaben zu bezahlen.
Leider werden wir wahrscheinlich nie herausfinden, welchen Einfluss die damalige Einführung einer CO2-Abgabe tatsächlich auf die Ziegeleien und die anderen EHS-Firmen gehabt hätte. Möglich wären zwei Optionen: Entweder hätten Schmidheiny und Co. wegen der neuen Klimaabgaben auf einen Teil ihres Profits verzichten müssen oder aber die betroffenen Industrieunternehmen hätten es sich wahrhaftig nicht leisten können, die echten Klimakosten ihrer Produktion zu bezahlen und wären möglicherweise ins Ausland abgewandert.
Ob Option eins oder zwei zutrifft, ist schlussendlich gar nicht so entscheidend. Denn beide Optionen hinterlassen hinsichtlich der millionenschweren Subventionen, die die Zürcher Ziegeleien und deren Mitstreiter*innen seither erhalten haben, einen bitteren Nachgeschmack.
Denn anstatt fossilen Dinosauriern Milliardensubventionen zuzustupfen, täten die Schweizer Klimagesetzgebung und die dafür verantwortlichen Politiker*innen gut daran, die Branchen, Firmen und Ideen zu unterstützen, die rentabel wirtschaften, ohne das Klima an die Wand zu fahren.
Von der Vergangenheit in die Zukunft. Die EU feilt daran, dem EHS mehr Biss zu verleihen. Was sich womöglich ändern könnte und wie schnell das gehen wird, erfahrt ihr im nächsten Teil.
Übersichtsartikel
Emissionshandelssystem: Eine Flatrate auf Monsteremissionen
Der Bund erliess den grössten Umweltverschmutzern von 2013 bis 2020 drei Milliarden Franken an CO2-Abgaben und schenkte ihnen gleichzeitig Emissionsrechte im Wert von schätzungsweise 361 Millionen Franken. Das zeigen bislang unveröffentlichte Berechnungen vom Onlinemagazin das Lamm.
Artikel 1
Weniger CO2 dank Emissionshandel? Eine Bilanz der letzten Jahre
Die Konzerne mit den meisten Klimagasemissionen rechnen ihre CO2-Kosten im Emissionshandelssystem ab. Das sollte die Klimaverschmutzung bremsen. Gewirkt hat es kaum.
ArtikeL 2
Selbstsabotage beim Klimaschutz. Der Grund: die Wettbewerbsfähigkeit
Damit Klimaverschmutzung für die Verursacher*innen etwas kostet, führte man in der Schweiz 2008 den Zertifikatshandel ein. Weil das für emissionsintensive Firmen ziemlich teuer werden kann, verschenkt der Staat kostenlose Zertifikate. Unsere Recherche zeigt auf, wer die meisten Gratiszertifikate erhalten hat.
Artikel 3
Klimaumverteilung: Von den KMUs zu den Grosskonzernen
Nur ein paar wenige Firmen dürfen ihre CO2-Emissionen im Emissionshandelssystem abrechnen. Damit ist es für sie nicht nur günstiger, Emissionen zu verursachen. Sie profitieren auch ganz direkt von den CO2-Abgaben der KMU.
Artikel 4
Klimamilliarden für Holcim, Lonza, BASF und Co.
Erstmals zeigen Berechnungen von das Lamm: Der Staat erliess Grosskonzernen CO2-Abgaben in Milliardenhöhe. Wer hat wie stark davon profitiert? Wir bringen Licht in das letzte Jahrzehnt Emissionshandelsdunst.
Artikel 5
Ein Spezialdeal für die Klimakiller. Warum eigentlich?
Von 2013 bis 2020 subventionierte der Staat die emissionsintensivsten Firmen des Landes mit rund 3 Milliarden Franken. Ob das gerechtfertigt ist oder nicht, diskutierte man bereits vor 30 Jahren.
Artikel 6
Wann fällt die Dauerflatrate?
Die EU plant Reformen. Diese könnten das EHS raus aus der Geiselhaft der globalisierten Industrie und rein in eine tatsächliche Dekarbonisierung führen. Der Wermutstropfen: So bald wird sich kaum etwas ändern.
Artikel 7
Braucht es das EHS?
Wer heute Klimagase verursacht, der zahlt. Nur zahlen bis jetzt nicht alle gleich viel, wenn sie das Klima zerstören. Das ist nicht nur unfair, sondern bremst auch die notwendigen CO2-Reduktionen aus. Gehört das EHS deshalb abgeschafft? Eine Einordnung.
Die Recherchen für diesen Artikel wurden vom Peter Hans Hofschneider-Recherchepreis für Wissenschafts- und Medizinjournalismus der Stiftung Experimentelle Biomedizin unterstützt. Der Recherchepreis wird in Zusammenarbeit mit dem Netzwerk Recherche vergeben.
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