El Salvador: „Der Ausnah­me­zu­stand ist zur Norma­lität geworden“

Massen­ver­haf­tungen, Folter und ein fehlender Rechts­staat – die Menschen­recht­lerin Ruth Hurtado spricht im Inter­view über die aktu­elle Situa­tion in El Salvador. 
Seit März 2022 ist in El Salvador das Militär auf der Strasse. In den eigenen Kanälen zeigt sich die Regierung martialisch. (Foto: Presidencia de El Salvador)

El Salvador gehört zu den unsi­cher­sten Ländern der Welt. Im Jahr 2015 war der latein­ame­ri­ka­ni­sche Staat das Land mit der höch­sten Mord­rate welt­weit. Auf 100’000 Einwohner*innen kamen 103 Morde pro Jahr. Schuld daran ist die grosse Armut und die soge­nannten Maras, krimi­nelle Banden, die nach dem Bürger­krieg von 1980 bis 1992 und im Zug massiver Abschie­bungen Krimi­neller aus den USA entstanden sind.

Der derzei­tige Präsi­dent Nayib Bukele trat im Jahr 2019 mit dem Verspre­chen an, die Banden­kri­mi­na­lität zu bekämpfen. Und tatsäch­lich: Zwei Jahre später lag die Mord­rate laut offi­zi­ellen Angaben bei 20 Morden pro 100‘000 Einwohner*innen und Jahr. In der Schweiz liegt diese Zahl bei 0.6.

Recher­chen der lokalen Zeitung El Faro zeigten aber, dass zumin­dest ein Teil des Erfolgs auf Basis von Verhand­lungen und geheimen Verein­ba­rungen zwischen der Regie­rung und den Banden basierte.

Mitt­ler­weile ist dieser Pakt jedoch gebro­chen und der Präsi­dent Nayib Bukele regiert mit harter Hand und auf der Grund­lage eines Ausnah­me­zu­standes. Das Lamm sprach mit Ruth Hurtado, der Anwältin und Mitar­bei­terin der christ­li­chen Menschen­rechts­or­ga­ni­sa­tion Cristosol, über die derzei­tige Lage in El Salvador.

Das Lamm: In El Salvador herrscht seit dem 26. März 2022 der Ausnah­me­zu­stand. Warum?

Ruth Hurtado: Ende März stieg die Zahl der Morde durch krimi­nelle Banden inner­halb von drei Tagen stark an. Die Bilanz: 87 Tote. Als Reak­tion auf die Morde rief das Parla­ment am 26. März auf Antrag der Regie­rung den Ausnah­me­zu­stand aus. Seitdem ist das Militär auf den Strassen. Bei Massen­ver­haf­tungen sind bis dato über 50‘000 Menschen ins Gefängnis gekommen.

Die Anwältin Ruth Hurtado (Foto: zVg) 

Die Notstands­re­ge­lung gilt dabei offi­ziell als Instru­ment zur Unter­drückung krimi­neller Banden. Natür­lich sind wir uns alle einig, dass die Banden den salva­do­ria­ni­schen Bürger*innen grossen Schaden zuge­fügt haben. Es geht um den Verlust von Fami­li­en­mit­glie­dern, Morde, Entfüh­rungen und Erpres­sungen, die an der Tages­ord­nung liegen. Hinzu kommen Vertrei­bungen, bei denen Fami­lien und ganze Gemein­schaften aus ihrem Herkunftsort fliehen müssen, weil sie bedroht, gefol­tert und ihre Ange­hö­rigen ermordet werden.

Aller­dings stellen wir derzeit fest, dass weder die Erpres­sungen noch die Vertrei­bungen in Umfang und Inten­sität seit Beginn des Ausnah­me­zu­stands abge­nommen haben. Das bedeutet, dass die Banden weiterhin operieren und die Regie­rung ihr ange­kün­digtes Ziel nicht erreicht hat.

Was bedeutet dieser Zustand für die Menschen in El Salvador?

Wir leben derzeit unter einem Regime des konstanten Macht­miss­brauchs. Die Regie­rung unter Nayib Bukele (siehe Kasten) respek­tiert die gesetz­li­chen Stan­dards zum Schutz der persön­li­chen Grund­rechte nicht mehr. Mit der Ausru­fung des Ausnah­me­zu­stands sind das Recht auf Privat­sphäre, Versamm­lungs- und Verei­ni­gungs­frei­heit sowie Grund­rechte für Inhaf­tierte ausser Kraft gesetzt worden.

Menschen werden bei einer Verhaf­tung nicht über ihre Rechte infor­miert. Zudem muss eine Inhaf­tie­rung von den Behörden weder vor den Verhaf­teten noch vor Richter*innen begründet werden. Die Präven­tiv­haft wurde von 72 Stunden auf 15 Tage verlän­gert. Derzeit kann jemand also ohne vorhe­rige poli­zei­liche Unter­su­chung und ohne Richter*in für 15 Tage inhaf­tiert werden. Den Inhaf­tierten werden keine Pflichtverteidiger*innen mehr bereitgestellt.

All dies führt dazu, dass Verhaf­tungen auf der Grund­lage von Stig­ma­ti­sie­rungen wie Tattoos oder von Armut betrof­fenen Menschen statt­finden. Zum Teil gibt es will­kür­liche und anonyme Denun­zie­rungen. Von all dem sind vor allem Männer zwischen 18 und 30 Jahren betroffen.

Seit 2019 regiert in El Salvador der Unter­neh­mer­sohn Nayib Bukele. Selbst rechte Zeitungen wie das argen­ti­ni­sche Infobae bezeichnen ihn derweil als Narzissten. Bukele folgen auf Insta­gram und Twitter mehrere Millionen Menschen.

Poli­tisch gibt er sich als Macher und Anti­po­li­tiker, wobei er eine Karriere hinter sich hat, in der er zeit­weise in fast allen Parteien von El Salvador mitwirkte. Im Jahr 2017 grün­dete er schluss­end­lich die Partei Nuevas Ideas, die fest auf seine Person ausge­richtet ist.

Unter Bukeles Herr­schaft hat die Verfol­gung der freien Presse extrem zuge­nommen. Reporter ohne Grenzen spricht von „gene­ra­li­sierter Gewalt“ gegen Medien und führen das Land auf Platz 112 von 180 im Index der Pres­se­frei­heit. Im April 2022 beschloss das Parla­ment zudem das soge­nannte Knebel­ge­setz, welches jegliche Bericht­erstat­tung über Banden­ak­ti­vi­täten verbietet. Medien vermuten, dass das Gesetz zur Verschleie­rung diente. Es sollte verhin­dern, dass die Verhand­lungen zwischen der Regie­rung und den krimi­nellen Banden öffent­lich werden.

Derweil geniesst der Präsi­dent enorm grosse Zustim­mung inner­halb des Landes. Manche Umfragen gehen davon aus, dass bis zu 95 Prozent der Bevöl­ke­rung den repres­siven Kurs der Regie­rung unterstützt.

Was bedeutet das für die Ange­hö­rigen der betrof­fenen Personen?

Das Vorgehen der Regie­rung hat tief­grei­fende Auswir­kungen auf das unmit­tel­bare Umfeld. Denn letzt­lich sind es die Mütter, Schwe­stern oder Lebens­part­ne­rinnen, die den Kampf um die Frei­las­sung der inhaf­tierten Männer und die finan­zi­elle Unter­stüt­zung aufrecht­erhalten müssen.

Darüber hinaus hat die Regie­rung gesetz­liche Reformen durch­ge­führt, die ein Beloh­nungs­sy­stem für anonyme Bürger*innenbeschwerden geschaffen haben. Und da für die Verhaf­tungen keine Ermitt­lungen erfor­der­lich sind, werden viele fami­liäre und geschäft­liche Strei­tig­keiten auf diese Weise ausgefochten.

Inzwi­schen spricht die Regie­rung sogar von einem „Krieg gegen die Banden“. Ist diese Bezeich­nung zutreffend?

Für einen Krieg muss es einen krie­ge­ri­schen Konflikt geben. Es kommt in El Salvador nicht zu bewaff­neten Zusam­men­stössen oder ähnli­chen Handlungen.

Wie würden Sie den aktu­ellen Zustand denn tref­fender umschreiben?

Ich denke, die derzei­tige Unter­drückung ist Teil der bevor­ste­henden Wahl­kam­pa­gnen. Im Jahr 2024 stehen in El Salvador Wahlen an. Bukele will dann zumin­dest zeigen, dass er der Erlöser von El Salvador, „der einzige Retter El Salva­dors“ ist. Dieses Narrativ beruht darauf, dass es keine Führung neben ihm geben kann, die stärker, kraft­voller und repres­siver ist als er.

Die Fest­nahme, Inhaf­tie­rung, Verfol­gung und Verur­tei­lung eines Banden­mit­glieds erfor­dert an sich keinen Ausnah­me­zu­stand. Aller­dings braucht man einen Ausnah­me­zu­stand, um unschul­dige Menschen fest­zu­nehmen und zu verhaften. Daher glaube ich, dass dieser „Krieg“ im Wesent­li­chen für die poli­ti­schen Gegner*innen bestimmt ist. Gewerkschafter*innen oder führende Vertreter*innen von Gemeinden und indi­genen Völkern wurden verhaftet. Darüber hinaus wird unter dem Vorwand der Banden­be­kämp­fung jede inhaf­tierte Person von der Gesell­schaft als krimi­nell betrachtet.

Aller­dings schenkt die Bevöl­ke­rung der Regie­rung ange­sichts der Zahl der Inhaf­tierten und der Todes­fälle in den Gefäng­nissen langsam immer weniger Glauben. Allein bei unserer Menschen­rechts­or­ga­ni­sa­tion Cristosal haben wir Bericht über 72 Männer und 2 Frauen, die in den Gefäng­nissen umge­kommen sind. Einige von ihnen starben eines gewalt­samen Todes, andere aufgrund mangelnder medi­zi­ni­scher Versor­gung. Menschen mit Diabetes, Blut­hoch­druck, psychi­scher Beein­träch­ti­gung und anderen chro­ni­schen Krank­heiten wurde die medi­zi­ni­sche Versor­gung verwei­gert, was in der Folge zum Tod führte.

In vielen Fällen werden die Ange­hö­rigen erst viele Wochen später infor­miert, da kein Recht mehr besteht, den Aufent­haltsort des inhaf­tierten Ange­hö­rigen zu erfahren.

Was umfasst ihre Arbeit in der Menschen­rechts­or­ga­ni­sa­tion in diesem Kontext?

Erstens doku­men­tieren wir die Fälle, damit die Infor­ma­tionen an die Medien, also auch an Sie in der Schweiz, weiter­ge­geben werden können. Zwei­tens begleiten wir die Ange­hö­rigen, indem wir Habeas Corpus bei der Verfas­sungs­kammer einrei­chen – das ist ein Rechts­an­spruch, der den Staat theo­re­tisch dazu verpflichtet, über den Verbleib der inhaf­tierten Person Rechen­schaft abzu­legen. Natür­lich gibt es keine Antwort. Dieses Vorgehen ermög­licht es uns, zu einem späteren Zeit­punkt den Inter­ame­ri­ka­ni­schen Gerichtshof für Menschen­rechte anzu­rufen, um den Staat El Salvador zu verklagen.

Das hat zwar keine unmit­tel­bare recht­liche Wirkung, aber sie zeigt das wahre Gesicht der Regie­rung Bukele auf inter­na­tio­naler Ebene. Bukele ist sehr an seinem Image inter­es­siert – dem eines unbe­fleckten, sauberen, weissen und ’neuen‘ Menschen. Ein Bild, das dem real existie­renden auto­ri­tären Regime in El Salvador widerspricht.

Vor einem Monat wurde ein Bericht über die ersten 100 Tage des Notstands­re­gimes vom Obser­va­torio Univer­sa­torio de Derechos Humanos veröf­fent­licht. Was man dort liest, beschreibt eine Diktatur: Massen­ver­haf­tungen, Folter, Todes­fälle in Gefäng­nissen und kein Rechts­schutz für die Opfer. Was hat das für Auswirkungen?

Wir leben in einem auto­ri­tären Regime, dessen Notstands­be­fug­nisse und Macht im Allge­meinen von keinem Kontroll­organ mehr in die Schranken gewiesen wird, denn alle zustän­digen öffent­li­chen Insti­tu­tionen sind kooptiert.

Als die Regie­rung und Bukele im Jahr 2019 antrat, schickte sie sich sofort an, das System der poli­ti­schen und insti­tu­tio­nellen Kontrolle abzu­bauen und in allen Kontroll­be­rei­chen wie etwa im Justiz­wesen regie­rungs­hö­rige Menschen einzu­setzen. Wir haben heute kein Justiz­sy­stem, kein System der Trans­pa­renz und keine von der Regie­rung unab­hän­gige Ombuds­stelle für Menschen­rechte. Das bedeutet einen Mangel an Schutz und Garan­tien für die Rechte der Bürger*innen.

Das heisst, die Praxis den Ausnah­me­zu­stand einzu­be­rufen, ist nicht neu?

Wir haben bereits während der Pandemie ein Ausnah­me­re­gime erlebt, bei dem die Regie­rung keinen anderen Weg fand, die Pandemie zu bekämpfen als durch den Miss­brauch von Gewalt. Menschen, die gegen die Ausgangs­sperre verstiessen, wurden ohne Vorfüh­rung vor einem*r Richter*in fest­ge­nommen und zum Teil tage­lang in soge­nannten Quaran­tä­ne­sta­tionen festgehalten.

Und jetzt haben wir wieder eine Ausnah­me­re­ge­lung, die nicht mehr mit der Gesund­heit, sondern mit der Sicher­heit der Menschen begründet wird. In beiden Fällen wird dabei durch das ausser Kraft setzen von Mindest­stan­dards ein System der Korrup­tion aufge­baut und eine Nach­ver­fol­gung verunmöglicht.

Dennoch erfreut sich die Regie­rung Bukele weiterhin grosser Beliebt­heit und hat die letzten Wahlen mit grossem Vorsprung gewonnen. Woran liegt das?

Hierfür gibt es viele Gründe. Ein wich­tiger Punkt ist die poli­ti­sche Kultur El Salva­dors, die nach einem Caudillo, also einem Herr­scher und Retter verlangt. Ein weiteres Element ist die Korrup­tion, die in früheren Regie­rungen unter den tradi­tio­nellen poli­ti­schen Parteien statt­ge­funden hat. Dies führte zu einer Entfrem­dung der Bürger*innen von den poli­ti­schen Parteien.

Hinzu kommt das umfang­reiche staat­liche Kommu­ni­ka­ti­ons­sy­stem. Die Regie­rung hat durch staat­liche und private Kanäle im Radio und Fern­sehen eine enorme Deutungs­ho­heit, die es verhin­dert, dass die Bevöl­ke­rung die reale Lage der Nation kennen­lernt. Dies ist inso­fern wichtig, als dass der Kampf gegen die Korrup­tion das wich­tigste Verspre­chen im Wahl­kampf von Bukele war. Bukele kann sich dank der Medien, die er selbst kontrol­liert, trotz eigent­lich weit verbrei­teter Korrup­tion weiterhin als „Sauber­mann“ präsentieren.

Wie sah die Politik zur Bekämp­fung krimi­neller Banden in El Salvador vor dem Notstands­re­gime aus?

Bei seinem Amts­an­tritt führte Bukele einen soge­nannten terri­to­rialen Kontroll­plan ein. Der Inhalt dieses Plans wurde nie veröf­fent­licht. Das Einzige, was der Öffent­lich­keit zugäng­lich gemacht wurde, war eine Art Werbe­ka­talog, in dem von bestimmten Phasen des Plans die Rede war. Es hiess, dieser Plan sei wirksam gewesen, da er die Zahl der Morde in El Salvador effektiv verrin­gert hatte.

Der Plan verschlang enorme Summen an öffent­li­chen Finanz­mit­teln. Hinzu kommt aller­dings, dass zwar die Zahl der Tötungs­de­likte zurück­ge­gangen ist, aber nicht etwa die der Entfüh­rungen. Das heisst, die Sicher­heit hat sich nur in einigen Fällen verbes­sert. Weitaus nicht so sehr, wie Bukele behauptet.

Wie sind die Aussichten, dass sich etwas zum Besseren ändert?

Die Regie­rung hat bereits erklärt, dass der Ausnah­me­zu­stand so lange fort­be­stehen wird, wie die Banden existieren. Nach dieser Logik werden alle Salvadorianer*innen für immer unter diesem Regime leben. Es handelt sich also nicht mehr um ein Ausnah­me­re­gime. Das Ausser­ge­wöhn­liche ist vorbei.


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