Endlich wieder träumen

Die linke AHV-Politik steckt in einer Zwick­mühle. Das ist auch selbst verschuldet. 
Bürgerliche Altersvorsorge. (Foto: Schweizerisches Sozialarchiv / F 5045-Ka)

Es ist der Kern linker Politik, immer wieder darauf hinzu­weisen, dass die Dinge nicht so sein müssen, wie sie sind; dass Krisen keine Notwen­dig­keiten, sondern die Konse­quenzen von poli­ti­schen Entschei­dungen sind; dass eine bessere Welt möglich ist, auch, oder gerade, wenn diese Vorstel­lung dem „gesunden Menschen­ver­stand“ widerspricht.

Das gilt auch im Kleinen, also für die Schweiz. Kaum an einem anderen Ort scheint die Idee, eine nach­hal­tige und soziale poli­ti­sche Lösung finden zu können, so hoff­nungslos wie in der Alters­vor­sorge. Beson­ders die AHV, so die Erzäh­lung, befindet sich in einer zyklisch wieder­keh­renden Krise. 

Um diese zu mildern, tischt die Politik der Stimm­be­völ­ke­rung seit Jahren die immer­glei­chen Lösungs­vor­schläge auf, um angeb­liche Lücken zu stopfen: Erhö­hung des Renten­al­ters, Senkung des Umwand­lungs­satzes in der zweiten Säule, höhere Mehr­wert­steuer. Ein unap­pe­tit­li­ches Büffet an Tief­kühl­speisen, die man alle paar Jahre in der parla­men­ta­ri­schen Mikro­welle wieder aufwärmt.

Auf dem Rücken der Frauen

Auch die aktu­elle AHV-Reform, über welche die Stimm­be­völ­ke­rung diesen Sonntag abstimmt, reiht sich in diese Tradi­tion ein. 25 Jahre nach der letzten erfolg­rei­chen AHV-Reform sollen erneut Frauen die AHV sanieren, und das, obwohl sie heute rund 35 Prozent weniger Rente erhalten. 

Zwar ist das Gleich­stel­lungs­ar­gu­ment der Befürworter*innen der Vorlage nicht mehr als ein Feigen­blatt, aber es ist trotzdem wichtig aufzu­zeigen, welche Unver­schämt­heit sich dahinter versteckt: Die erste Frau, die aufgrund der AHV-Reform länger arbeiten müsste, war 10, als Frauen sich das Stimm­recht erkämpften und die Schweiz eine Demo­kratie wurde; sie war 27, als 1988 das Eherecht revi­diert wurde. Bis zu diesem Zeit­punkt durfte ihr Ehemann ihr verbieten, zu arbeiten.

Letztes Jahr verschärfte das Bundes­ge­richt für diese Frau auch noch das Unter­halts­recht (das Lamm berich­tete), was ihr Armuts­ri­siko nach der Schei­dung weiter erhöhen dürfte: Bereits heute ist die Wahr­schein­lich­keit, erst­malig Sozi­al­hilfe bean­tragen zu müssen, für Frauen nach einer Schei­dung mehr als 300 Prozent höher als für ihre Ex-Partner. Und diese Frau soll jetzt länger arbeiten, um das wich­tigste Sozi­al­werk einer Gesell­schaft zu sanieren, die ihr Verspre­chen für mate­ri­elle Gleich­stel­lung nie einge­löst hat.

Es sollte also ein Einfa­ches sein, dieser fanta­sie­losen Politik einen Gegen­ent­wurf gegen­über­zu­stellen und aufzu­zeigen, dass die Krise in der Alters­vor­sorge keine Notwen­dig­keit ist – dass alles auch ganz anders sein könnte.

Doch viel zu oft haben die SP und die Gewerk­schaften genau diese Chance vergeben.

Ein verhäng­nis­voller Kompromiss

Als sich vor genau 50 Jahren, nach einer langen Phase der Hoch­kon­junktur, die reale Chance bot, die AHV zu einer staat­li­chen Volks­pen­sion auszu­bauen, die minde­stens 60 Prozent des Lohns vor der Pension versi­chern sollte, kniffen SP und die Gewerkschaften. 

Die Partei der Arbeit (PdA) wollte mit einer Initia­tive die AHV auf Kosten der damals noch frei­wil­ligen betrieb­li­chen Pensi­ons­kassen ausbauen und den Bundes­teil auf minde­stens einen Drittel fest­legen. Dafür hätten Unter­nehmen und Wohl­ha­bende stärker zur Kasse gebeten werden sollen. Fern von einer perfekten Lösung, aber doch ein Fenster in eine bessere Welt.

Doch es kam ganz anders, die SP und die Gewerk­schaften – letz­tere sorgten sich um ihre Posten in den betrieb­li­chen Pensi­ons­kassen – schlossen sich im Natio­nalrat dem Gegen­vor­schlag zur PdA-Initia­tive der Bürger­li­chen an. Die SP zog für diesen Kompro­miss sogar ihre eigene AHV-Ausbau­in­itia­tive zurück, die PdA-Initia­tive erlitt in der Folge Schiff­bruch an der Urne und das Drei-Säulen-System, mit all seinen insti­tu­tio­na­li­sierten Unge­rech­tig­keiten, war geboren. 

Als es 1984 dann darum ging, ihren Teil des Kompro­misses von 1972 einzu­lösen, igno­rierten die bürger­li­chen Parteien in der Ausar­bei­tung des BVG-Gesetzes ihr Verspre­chen, dass die AHV und Pensi­ons­kasse zusammen die gewohnte Lebens­füh­rung garan­tieren sollten. Sie setzten den Einstiegs­lohn so hoch an, dass viele Frauen mit ihren nied­rigen Löhnen und mit ihrer Teil­zeit­ar­beit erst gar nicht in der zweiten Säule versi­chert wurden. „Die Linke wurden 1972 über den Tisch gezogen“, behauptet nicht der Autor dieser Zeilen, sondern der Basler Histo­riker Martin Leng­wiler.

Aber es greift zu kurz, die Linke als Opfer eines gewieften Taschen­spie­lers darzu­stellen. In den vergan­genen Jahren hat sie immer wieder mitge­holfen, die Krise der AHV als Fakt darzu­stellen und die glei­chen Lösungen, die heute als Abbau verschrien werden, aufgetischt.

Für mehr soziale Gerechtigkeit

2017 schrieb die SP in ihren Unter­lagen zur Alters­vor­sorge 2020, welche die erste und die zweite Säule gemeinsam refor­mieren wollte, dass bei der AHV der Finanz­be­darf steige, wenn die Baby­boom-Gene­ra­tion pensio­niert werde. „Ohne Gegen­mass­nahmen wird sich dieser Trend noch verstärken.“ Deswegen sollten, neben deut­lich sozia­leren Ausgleichs­mass­nahmen als bei der aktu­ellen Vorlage, das Renten­alter der Frauen steigen, der Umwand­lungs­satz in der zweiten Säule sinken und die Mehr­wert­steuer steigen. 

Alt-Bundes­rätin Ruth Drei­fuss (SP) vertei­digte damals die Erhö­hung des Frau­en­ren­ten­al­ters gegen linke Einwände damit, dass „Renten­alter und Lohn­gleich­heit nicht am selben Tisch verhan­delt [werden]. Das eine kann nicht gegen das andere einge­tauscht werden.“ Beide Argu­mente werden heute von der Gegen­seite bemüht.

In welche Zwick­mühle sich die linke AHV-Politik seit 1972 manö­vriert hat, zeigt sich nicht zuletzt daran, dass man sich die letzten 0,3 Lohn­pro­zente – die primäre Finan­zie­rungs­quelle der AHV – 2019 mit milli­ar­den­schweren Steu­er­ge­schenken an Unter­nehmen erkaufen musste. 1972 lagen bis zu 25 Lohn­pro­zente auf dem Tisch. 

Es ist aber nicht so, als gäbe es keine linken Vorschläge für eine nach­hal­tige und gerechte Alters­vor­sorge. Die Gewerk­schaften haben eine Initia­tive für eine 13. AHV-Rente einge­reicht. SP-Natio­nal­rätin Jaque­line Badran wird nicht müde zu erklären, dass man deut­lich mehr Lohn­pro­zente von der inef­fi­zi­enten zweiten Säule in die AHV verschieben müsste. Beide haben recht. 

Und es ist ermu­ti­gend, mit welcher Vehe­menz sich SP und Gewerk­schaften gegen die vorlie­gende AHV-Reform stellen – nicht aus iden­ti­täts­po­li­ti­schem Kitsch, wie die Gegner*innen unred­li­cher­weise behaupten, sondern für mehr soziale Gerechtigkeit. 

Deswegen braucht es ein doppeltes Nein, und in Zukunft wieder mehr Mut, Chance für eine bessere Welt dann zu ergreifen, wenn sie sich präsentiert.

Dieser Artikel ist zuerst bei der P.S.-Zeitung erschienen. Die P.S.-Zeitung gehört wie das Lamm zu den verlags­un­ab­hän­gigen Medien der Schweiz.


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