Frei­wil­li­gen­ar­beit in Spitä­lern: Hobby oder unbe­zahlte Care-Arbeit?

Frei­wil­lige Mitar­bei­tende sind keine Selten­heit im Spital: Sie besu­chen Patient*innen am Bett oder begleiten sie auf einen Spazier­gang. Diese Arbeit wird haupt­säch­lich von Frauen ausge­führt. Einen Lohn bekommen sie nicht, dafür viel Dank­bar­keit. Ist die Welt der Frei­wil­li­gen­ar­beit so heil, wie sie scheint? Eine Spurensuche. 

Es ist ein kalter Novem­ber­morgen, der Nebel steht tief und hüllt alles in graue Watte. Ein Spital­be­such ist wegen Corona ausge­schlossen, also muss ein Spazier­gang herhalten. „Es ist einfach ein Bedürfnis von mir“, antwortet Corinne Hertzog auf die Frage, wieso sie sich frei­willig enga­giere. Die 42-Jährige ist seit etwa einem Jahr als Frei­wil­lige im Stadt­spital Triemli tätig.

Hertzog gilt dabei fast als Küken: Im Durch­schnitt sind die Frei­wil­ligen in den Zürcher Spitä­lern über 60 Jahre alt – und meistens pensio­niert. Nicht so Hertzog, die bis vor Kurzem noch Voll­zeit gear­beitet hat. Trotzdem inve­stiert sie zwei Halb­tage im Monat in die Frei­wil­li­gen­ar­beit im Triemli. Wieso schon jetzt? „Ich brauche die Frei­wil­li­gen­ar­beit, wie andere den Sport“, sagt sie.

Corinne Hertzog nimmt die Patient*innen auch gerne mal auf einen Spazier­gang mit. (Foto: Emma-Louise Steiner)

Wenn Hertzog im Dienst ist, besucht sie Patient*innen und verbringt Zeit mit ihnen. Meistens ergeben sich dabei gute Gespräche, die von lustig bis traurig reichen können. Eine Begeg­nung sei Hertzog beson­ders geblieben: „Der Patient lag im Sterben und hat sich darum sehr intensiv mit dem eigenen Tod ausein­an­der­ge­setzt. Das ist mir ziem­lich nahe gegangen, weil ich darauf nicht vorbe­reitet gewesen war.“

Die meisten Begeg­nungen seien jedoch sehr positiv, und genau das schätzt Hertzog an der Frei­wil­li­gen­ar­beit im Spital: „Ich bekomme viel Dank­bar­keit. Und diese Menschen begleiten mich danach auf eine Art. Das finde ich sehr bereichernd.“

Das Stadt­spital Triemli gehört neben dem Univer­si­täts­spital Zürich und dem Kantons­spital Winter­thur zu den drei grössten Allge­mein­spi­tä­lern im Kanton Zürich. Sie haben je über 100 Frei­wil­lige ange­stellt, die regel­mässig im Einsatz sind. Wer sind diese Frei­wil­ligen und wieso gehen sie dieser Tätig­keit nach?

Ein Hobby nach der Pensionierung

„Schenken Sie Zuwen­dung und Zeit!“, schreibt das Univer­si­täts­spital Zürich (USZ) auf seiner Webseite. Frei­wil­li­gen­ar­beit sei zwar eine Arbeit ohne Lohn, dafür aber mit persön­li­chem Gewinn, steht weiter. Das klingt viel­ver­spre­chend – doch was bedeutet es konkret?

In Spitä­lern umfasst die Frei­wil­li­gen­ar­beit übli­cher­weise Informations‑, Begleit- und Besuchs­dienste: Im Fokus steht dabei immer der Kontakt zu den Patient*innen. Gemäss der Dach­or­ga­ni­sa­tion für Frei­wil­li­gen­ar­beit Benevol Schweiz sollte dabei die Arbeits­zeit auf durch­schnitt­lich sechs Stunden pro Woche begrenzt sein.

Die Frei­wil­ligen besu­chen die Patient*innen am Bett, begleiten sie in die Cafe­teria oder gehen mit ihnen spazieren. „Die Patient*innen wissen es sehr zu schätzen, dass wir uns Zeit für sie nehmen“, sagt Elisa­beth Zumstein. Sie ist seit sechs Jahren als Frei­wil­lige im Kantons­spital Winter­thur (KSW) tätig und arbeitet jeden Montag­nach­mittag im Kaffee- und Besuchsdienst.

Elisa­beth Zumstein zog vor sechs Jahren von Hergiswil nach Winter­thur. (Foto: Corinne Glanzmann)

Als 74-jährige Rent­nerin passt sie perfekt ins Team: Der Alters­durch­schnitt der Frei­wil­ligen in den drei Zürcher Allge­mein­spi­tä­lern liegt bei 65. Ist Frei­wil­li­gen­ar­beit ein Hobby für die Zeit nach der Pensio­nie­rung? Für Zumstein schon: „Ich hatte das Bedürfnis, mit Menschen Kontakt zu haben und meinem Rent­ne­rinnen-Dasein etwas Struktur zu geben.“

Das Schönste dabei sei, anderen Menschen etwas Gutes zu tun – und die Dank­bar­keit, die sie dafür erhalte. Dass die Arbeit unbe­zahlt ist, stört Zumstein nicht. Im Gegen­teil: „Ich würde diese Arbeit nicht machen, wenn sie bezahlt werden würde. Denn dann würde mir ein Teil der Moti­va­tion weggenommen.“

Statt einem Lohn erhalten die Frei­wil­ligen andere Zuwen­dungen, erklärt Corina Schmid, Leiterin des Frei­wil­li­gen­dien­stes IDEM im KSW: „Sie können sich im Perso­nal­re­stau­rant verpflegen, profi­tieren von Spesen­ver­gün­sti­gungen und werden jähr­lich zu einem Ausflug und einem Weih­nachts­essen eingeladen.“

Ähnlich ist es im USZ und im Triemli. Die Spitäler scheinen grossen Wert darauf zu legen, den Frei­wil­ligen ihre Wert­schät­zung zu zeigen, obwohl (oder eben weil) sie ihnen keinen Lohn zahlen.

Menschen können nicht schneller gepflegt werden

Was die Frei­wil­ligen in Spitä­lern leisten, ist Care-Arbeit: Sie kümmern sich um die körper­li­chen, psychi­schen und emotio­nalen Bedürf­nisse der Patient*innen.

Der Frau­en­an­teil in der Care-Arbeit ist allge­mein gross: 61 Prozent in der privaten Kinder- und Verwand­ten­be­treuung, 85 Prozent in der Pflege und 92 Prozent in der fami­lien- und schul­er­gän­zenden Kinder­be­treuung. Dieser Trend lässt sich auch bei der Frei­wil­li­gen­ar­beit in den Spitä­lern beob­achten: Der Frau­en­an­teil in den drei grössten Zürcher Allge­mein­spi­tä­lern liegt zwischen 85 und 93 Prozent.

Frauen machen den Löwen­an­teil der Frei­wil­ligen in den Spitä­lern aus. (Grafik: Emma-Louise Steiner)

Dass Care-Arbeit gene­rell schlecht bis gar nicht bezahlt wird, ist nichts Neues. Das finan­zi­elle Dilemma der Care-Arbeit liegt darin, dass sie sehr perso­nal­in­tensiv ist und nicht ratio­na­li­siert werden kann. Die Ökonomin Mascha Madörin veran­schau­licht es so: Anders als ein Auto, das immer schneller mit weniger Arbeits­kraft produ­ziert werden kann, können Menschen nicht schneller gepflegt werden.

Wenn im Gesund­heits­sektor eine Spar­runde ansteht, wird der grösste Ausga­ben­punkt ange­schnitten: der Perso­nal­auf­wand. Darunter leiden sowohl die Pfle­genden wie auch die Gepflegten. Weniger Personal erhöht den Zeit­druck, weil die Anzahl Patient*innen gleich bleibt oder sogar steigt. Als erstes flöten geht, was verzichtbar scheint: das Zwischenmenschliche.

Nicht erstaun­lich also, dass im USZ 250, im KSW 150 und im Triemli 120 Frei­wil­lige ange­stellt sind. Womög­lich, um genau diese Lücke zu füllen. Mit durch­schnitt­lich drei Stunden Arbeit pro Woche und Person füllt die Frei­wil­li­gen­ar­beit im USZ 18, im KSW elf und im Triemli neun Vollzeitstellen.

Die Geschäfts­lei­terin des Schweizer Berufs­ver­bands der Pfle­ge­fach­frauen und Pfle­ge­fach­männer (SBK) in Zürich, Regina Soder, sieht das anders: Frei­wil­lige würden nicht Pfle­gende, sondern fehlende Ange­hö­rige ersetzen. Es seien „Menschen, die ihre freie Zeit bewusst und sinn­voll für andere Menschen einsetzen möchten“.

Fiora Pedrina, Gewerk­schafts­se­kre­tärin beim VPOD Zürich, kann sich hingegen gut vorstellen, dass zwischen dem Fach­kräf­te­mangel in der Pflege und den Frei­wil­ligen ein Zusam­men­hang besteht. „Die Frei­wil­ligen können den perso­nellen und finan­zi­ellen Druck kurz­fri­stig entla­sten. Hier muss aber ein poli­ti­sches Umdenken statt­finden.“ Für eine gute Gesund­heits­ver­sor­gung brauche es gut ausge­bil­detes und bezahltes Personal mit genü­gend Zeit, sagt Pedrina. „Care-Arbeit kostet, und das muss sich unsere Gesell­schaft leisten.“

Das unter dem Zeit­druck leidende Pfle­ge­per­sonal hat oft wenig mit den Frei­wil­ligen zu tun. Für Inter­ak­tion bleibt selbst­re­dend nicht viel Zeit – und nach einem kurzen Infor­ma­ti­ons­aus­tausch im Stati­ons­zimmer scheiden sich die Wege. Auf Anfrage von das Lamm wollte sich darum keine Pfle­ge­fach­person zu den Frei­wil­ligen in den Spitä­lern äussern.

Nur eine Frage der Motivation

Könnten die Arbeits­stunden der Frei­wil­ligen bezahlt werden? Die Erfolgs­rech­nungen des USZ, KSW und Triemli zeigen deut­lich: Der Lohn des Perso­nals macht mit Abstand den grössten Teil des Betriebs­auf­wands aus. Doch der poten­zi­elle Aufwand für die Bezah­lung der Frei­wil­li­gen­ar­beit ist im Vergleich zum Perso­nal­auf­wand und dem Gewinn des jewei­ligen Spitals verschwin­dend klein.

Diese von Frei­wil­ligen ausge­führte Care-Arbeit nicht zu bezahlen hat weniger mit den Spital-Finanzen als mit dem vorherr­schenden System zu tun. Mascha Madörin erklärt es mit der neoklas­si­schen Ökonomie: Es gebe zwei verschie­dene Anreize, um Menschen zum Arbeiten zu bringen: einer­seits intrin­si­sche Anreize wie Näch­sten­liebe und Mitge­fühl, ande­rer­seits extrin­si­sche Anreize in Form von Geld oder Ruhm.

Der intrin­si­sche Anreiz solle dabei nicht durch Geld­an­reize „verdorben“ werden. Die Frage der Bezah­lung der Pfle­ge­ar­beit werde also abge­wälzt auf die ethi­sche Frage der rich­tigen Moti­va­tion in der Pflege, schreibt Madörin weiter.

Diese Argu­men­ta­tion lässt sich auch in der Frei­wil­li­gen­ar­beit beob­achten. An vorder­ster Front bei den Frei­wil­ligen selbst: Ihre Moti­va­tion für die Arbeit ist der Drang, etwas Gutes zu tun. Wie Elisa­beth Zumstein, die die Arbeit nicht machen würde, wenn sie bezahlt wäre.

Die Spitäler sind froh um die billige Arbeits­kraft, die Frei­wil­ligen sind froh um die sinn­volle Arbeit, die Patient*innen sind froh um die Aufmerk­sam­keit. Win-win-win, sozu­sagen. Dass aber Care-Arbeit auch in der Form der Frei­wil­li­gen­ar­beit in Spitä­lern mehr­heit­lich von Frauen gelei­stet wird und wiederum nicht bezahlt wird, repro­du­ziert ein ausbeu­te­ri­sches System. Ein System, in dem Wert­schät­zung durch Bezah­lung gezeigt wird – ausser für eine Arbeit, die fast ausschliess­lich von Frauen gemacht wird.


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