Für einen Wandel im Schweizer Behindertenwesen

Das Behin­der­ten­wesen in der Schweiz gewähr­leiste das Menschen­recht auf Inklu­sion von Menschen mit Behin­de­rungen nicht, kriti­sieren „Tatkraft“ und „Inclu­sion Handicap“. Sie setzen auf unter­schied­liche Mittel, um die Gleich­stel­lung und Selbst­be­stim­mung von Menschen mit Behin­de­rungen zu fördern und das aktu­elle System zu verändern. 
Rechte für Menschen mit Behinderungen werden laut der UN-Behindertenrechtskonvention in der Schweiz noch nicht gewährleistet. (Foto: Palle Knudsen / Unsplash)

„Wir sind die Rebell:innen des heutigen Systems“, sagt Islam Alijaj, während er seinen Cappuc­cino mit einem Röhr­chen trinkt. An einem sonnigen Herbst­nach­mittag spricht er im Restau­rant Rauti in Altstetten über das Behin­der­ten­wesen in der Schweiz. Es geht um die Behin­der­ten­po­litik, Einrich­tungen für Menschen mit Behin­de­rungen sowie um die Rolle von Behin­der­ten­or­ga­ni­sa­tionen. Das Restau­rant Rauti bietet geschützte Arbeits­plätze für Menschen mit IV-Rente an. Islam Alijaj, der selbst mit einer Behin­de­rung lebt, enga­giert sich seit über zehn Jahren für die Gleich­stel­lung und Inklu­sion von Menschen mit Behinderungen.

Im Gespräch wird unver­züg­lich klar, dass im Behin­der­ten­wesen grund­le­gender Reform­be­darf besteht. Als Präsi­dent des Vereins Tatkraft strebt er deshalb mit weiteren Betrof­fenen einen Wandel und den Aufbau einer Behin­der­ten­be­we­gung an. Ihr näch­stes Projekt: eine Initia­tive auf natio­naler Ebene. Die Forde­rungen der Inklu­si­ons­in­itia­tive sind das Produkt eines Bedürf­nisses nach echter Gleich­stel­lung, Aner­ken­nung auf Augen­höhe, gesell­schaft­li­cher Teil­habe und Inklusion.

Was ist los im Schweizer Behin­der­ten­wesen? Weshalb lehnen sich die Betrof­fenen dagegen auf? Was muss sich verän­dern und wo bleibt die poli­ti­sche und öffent­liche Aufmerk­sam­keit für die Anliegen von Menschen mit Behinderungen?

Baustellen bei der Inklusion

In der Schweiz leben 1.6 Millionen Menschen mit Behin­de­rungen. Ein Drittel gilt als „stark beein­träch­tigt“. Da die Führung eines selbst­stän­digen Lebens zu Hause für sie schwierig ist, sind sie oft gezwungen, in Heimen oder Insti­tu­tionen zu leben. Laut der Behin­der­ten­rechts­kon­ven­tion der UNO (UN-BRK) zählen als Menschen mit Behin­de­rungen jene Personen, die „lang­fri­stige körper­liche, seeli­sche, geistige oder Sinnes­be­ein­träch­ti­gungen haben“. Diese Beein­träch­ti­gungen erschweren ihnen eine gleich­be­rech­tigte Teil­habe am gesell­schaft­li­chen Leben. Wesent­lich für eine inklu­sive Gesell­schaft ist, dass jeder Mensch das Recht darauf hat, ein gleich­be­rech­tigter Teil der Gesell­schaft zu sein. In diesem Kontext ist die Debatte um die gesell­schaft­li­chen Pflichten gegen­über Menschen mit Behin­de­rungen nicht zu umgehen.

Im Jahr 2014 hat die Schweiz die UN-BRK rati­fi­ziert. Dabei handelt es sich um ein Über­ein­kommen für die Rechte von Menschen mit Behin­de­rungen. „Das Ziel der Konven­tion ist die Gewähr­lei­stung und Förde­rung der Menschen­rechte von allen Menschen mit Behin­de­rungen. Sie sollen möglichst selbst­be­stimmt am gesell­schaft­li­chen Leben teil­nehmen können“, erklärt Caro­line Hess-Klein von Inclu­sion Handicap, dem Dach­ver­band der Behin­derten-Orga­ni­sa­tionen. In einem Jahr über­prüft der UNO-Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behin­de­rungen die Umset­zung der Konven­tion in der Schweiz. Inclu­sion Handicap iden­ti­fi­ziert zurzeit in fünf Berei­chen grosse Mängel.

Das erste Problem betrifft die Hand­lungs­fä­hig­keit von Menschen mit Behin­de­rungen, selbst­ständig Rechts­ver­träge abzu­schliessen. Oftmals wird Betrof­fenen aufgrund ihrer kogni­tiven oder psychi­schen Behin­de­rung mit der Beistand­schaft die Hand­lungs­fä­hig­keit entzogen. Zudem haben Menschen, die mental beein­träch­tigt sind, keine poli­ti­schen Rechte, wenn sie unter Beistand­schaft stehen. Dieser kate­go­ri­sche Ausschluss beruhe auf der Vorstel­lung, dass mental beein­träch­tige Personen zur poli­ti­schen Meinungs­bil­dung nicht fähig seien, was der Realität nicht gerecht werde und der UN-BRK wider­spreche. Deshalb fordert Inclu­sion Handicap einen konse­quenten Einbezug von Menschen mit Behin­de­rungen in den poli­ti­schen Prozess. 

Eine weitere Schwach­stelle betrifft das Recht auf ein selbst­be­stimmtes Leben. Im heutigen System erhalten Menschen mit Behin­de­rungen vorwie­gend in Heimen und Insti­tu­tionen Unter­stüt­zung und Betreuung. Das Geld von Bund und Kantonen fliesst somit nicht direkt zu den betrof­fenen Personen. „Aktuell wider­spricht dieses System der UN-BRK“, betont Hess-Klein. Es habe zur Folge, dass viele Menschen mit Behin­de­rungen sich mangels Alter­na­tiven gezwungen sehen, in einer Insti­tu­tion zu leben. Gemäss UN-BRK sollen Menschen mit Behin­de­rungen aber selber entscheiden können, wie und wo sie wohnen möchten. Damit das Geld direkt zu den Betrof­fenen fliesst, seien Mass­nahmen zur De-Insti­tu­tio­na­li­sie­rung des Behin­der­ten­we­sens zentral. 

Weiter ist die Inklu­sion von Menschen mit Behin­de­rungen weder auf dem Arbeits­markt noch im Bildungs­sy­stem gewähr­lei­stet. Im Rahmen von privaten Arbeits­ver­hält­nissen sei die Lage beson­ders prekär, da kein Schutz vor Diskri­mi­nie­rung bestehe: „Dazu gibt es unzäh­lige Beispiele, wie etwa jemand, der wegen Gehör­lo­sig­keit nicht ange­stellt wird, oder die Person im Roll­stuhl, die nicht beför­dert wird.“

Von diesen Mängeln sind Menschen mit Behin­de­rungen folg­lich in verschie­denen Lebens­be­rei­chen betroffen. Hinzu kommt, dass es sich bei der Umset­zung einer inklu­siven Behin­der­ten­po­litik für eine Gruppe von 1.6 Millionen Menschen, die in ihrem Alltag mit sehr unter­schied­li­chen Problemen konfron­tiert sind, um eine komplexe Aufgabe handelt. Trotzdem sind sich Alijaj und Hess-Klein einig, dass die Politik mehr machen könnte. Dabei nehmen sie Bezug zu Nach­bar­län­dern wie Deutsch­land oder Öster­reich, die bei der Umset­zung der Konven­tion deut­lich voraus sind.

Selbst­be­stim­mung durch ausrei­chende Assistenz

Mit der Inklu­si­ons­in­itia­tive fokus­sieren die Initiant:innen auf die Selbst­be­stim­mung. Um Menschen mit Behin­de­rungen eine unab­hän­gige Lebens­füh­rung zu ermög­li­chen, bräuchten diese einen freien Zugang zu voll­um­fäng­li­cher Assi­stenz. Heute haben IV-Bezüger:innen, die zu Hause leben möchten und dabei auf regel­mäs­sige Hilfe ange­wiesen sind, Anspruch auf zusätz­liche Beiträge für eine Assi­stenz. Aktuell sieht Alijaj dies­be­züg­lich aber mehrere Probleme. Die Assi­stenz­bei­träge werden haupt­säch­lich für die Bereiche Wohnen und Frei­zeit gespro­chen. „Das reicht hinten und vorne nicht. Wir wissen alle, dass das Leben ganz andere Facetten beinhaltet. Ich erhalte heute ca. 100 Stunden Assi­stenz­bei­träge pro Monat, was unge­fähr 3’200 Franken entspricht. Ich bräuchte aber eigent­lich doppelt so viel, um meinen Unter­stüt­zungs­be­darf zu decken.“ 

Mit den Assi­stenz­bei­trägen sollen Menschen mit Behin­de­rungen Heraus­for­de­rungen, denen sie mit ihrer Behin­de­rung begegnen, ausglei­chen können. Zum Beispiel ist Alijaj neben Tatkraft auch bei der Sozi­al­de­mo­kra­ti­schen Partei aktiv. Um als Poli­tiker eine Rede zu halten, stellt seine Sprach­be­hin­de­rung jedoch eine Hürde dar. Demnach sollte er Anspruch auf eine Assi­stenz haben, die es ihm ermög­licht, an einem Redner:innenpult seine Ideen und Argu­mente einem Publikum vorzu­stellen. Die Beiträge sollten daher nicht nur die Bereiche Wohnen und Frei­zeit betreffen, sondern alle Bereiche des gesell­schaft­li­chen Lebens abdecken.

Neben einer Auswei­tung der Assi­stenz­bei­träge fordern die Initiant:innen schliess­lich eine Neude­fi­ni­tion des Begriffs der Assi­stenz. Bisher defi­niert die IV Assi­stenz in Form von Dienst­lei­stungen, die durch Personen verrichtet werden. „Aber auch mein Smart­phone dient mir als Assi­stenz“, erklärt Alijaj. Tech­ni­sche Hilfs­mittel gewinnen für Menschen mit Behin­de­rungen zur Bewäl­ti­gung ihres Alltags stark an Bedeu­tung und müssten deshalb eben­falls in den Assi­stenz­bei­trägen vorge­sehen sein. Auch bei der Lancie­rung der Initia­tive dienen ihnen tech­ni­sche Mittel: „Ohne WeCollect, das eine digi­tale Unter­schrif­ten­samm­lung ermög­licht, hätten wir nie die Kraft gehabt, das selber zu meistern. Die Digi­ta­li­sie­rung ermäch­tigt uns im poli­ti­schen Prozess.“ 

Inclu­sion Handicap unter­stützt das Anliegen der Initiant:innen. „Wir müssen aber auch disku­tieren, wie die Schweiz durch eine Verfas­sungs­än­de­rung eine möglichst gute Grund­lage für die Umset­zung der UN-BRK bekommt“, ergänzt Hess-Klein.

Mit der Inklu­si­ons­in­itia­tive will Alijaj bei den Assi­stenz­bei­trägen einen Anfang machen. „Inklu­sion ist ein breites Themen­ge­biet. In einer Volks­in­itia­tive muss man sich aber begrenzen, um die Bevöl­ke­rung abzu­holen.“ Mit den Assi­stenz­bei­trägen werde ein zentrales Thema ange­spro­chen: „Mit ausrei­chend Assi­stenz befä­higt man Menschen mit Behin­de­rungen. Man macht sie sichtbar. Nicht nur in der Politik, sondern auch in der Wirt­schaft und in der Kultur.“ Im Januar soll eine öffent­liche Vernehm­las­sung statt­finden, um den Initia­tiv­text zu verfassen.

Gleich­stel­lung mit Selbstvertretung

Wie so oft, wenn es um Gleich­stel­lung geht, ist die recht­liche Gleich­stel­lung nur ein erster, aber drin­gend notwen­diger Schritt. Neben Hürden bei der IV und den Assi­stenz­bei­trägen, Selbst­be­stim­mung und poli­ti­schen Rechten ist das Bild von Menschen mit Behin­de­rungen in der Gesell­schaft elementar. 

Inter­es­sant ist in diesem Zusam­men­hang ein Blick auf die Termi­no­logie im Behin­der­ten­wesen. Bei der Inva­li­den­ver­si­che­rung gibt es die Unter­ka­te­gorie „Hilf­lo­sen­ent­schä­di­gung“- eine Leistungsart, die genau Menschen mit Behin­de­rungen betrifft, die Hilfe bei alltäg­li­chen Lebens­ver­rich­tungen benö­tigen. Und selbst das Wort „invalid“ heisst über­setzt „wertlos“. „Die Gesell­schaft sieht uns als wert­lose und arme Geschöpfe an. Mit den Spen­den­kam­pa­gnen der Behin­der­ten­or­ga­ni­sa­tionen wird dieses Bild umso mehr zemen­tiert“, bekräf­tigt Alijaj. „Wir müssen selber aktiv werden, denn Gleich­stel­lung errei­chen wir nur mit Selbst­ver­tre­tung. Das können wir wiederum nur, wenn wir genü­gend Assi­stenz erhalten.“

Zugleich scheint die Situa­tion für Menschen mit Behin­de­rungen poli­tisch sowie öffent­lich nicht weit oben auf der Agenda zu stehen. Alijaj sieht dafür verschie­dene Gründe. „Wir sind fremd­be­stimmt. Sogar in den eigenen Orga­ni­sa­tionen sind wir unter­re­prä­sen­tiert.“ Viel Geld und viele Arbeits­plätze seien vom heutigen System mit seinen Insti­tu­tionen abhängig, weshalb der notwen­dige Wandel nur schlep­pend voran­gehe, argu­men­tiert Alijaj.

Ausserdem hätten viele Behin­der­ten­or­ga­ni­sa­tionen im Gegen­satz zu selbst­or­ga­ni­sierten Vereinen wie Tatkraft zwei Hüte auf: „Einer­seits vertreten sie unsere poli­ti­schen Inter­essen, ande­rer­seits sind sie auch Dienst­lei­ster, die Produkte für uns anbieten.“ Diese Dienst­lei­stungen, wie zum Beispiel Rechts­be­ra­tung oder Betreu­ungs­an­ge­bote, würden wiederum vom Staat bezahlt. Eine Person, die Unter­stüt­zung bei alltäg­li­chen Tätig­keiten wie Einkaufen oder Körper­hy­giene braucht, kann sich für eine Assi­stenz an eine Orga­ni­sa­tion wenden. Diese Kosten werden dann durch die Assi­stenz­bei­träge der IV gedeckt.

„Viele Linke, und das sage ich als Linker, unter­stützen dieses System, weil sie zu wenig Ahnung davon haben, wie das Behin­der­ten­wesen funk­tio­niert. Wenn sie eine Frage haben, spre­chen sie in den Orga­ni­sa­tionen mit nicht-behin­derten Menschen über uns.“ Gleich­zeitig weisen die Orga­ni­sa­tionen oftmals der Politik die Schuld für Miss­stände zu, sagt Alijai. Aus diesen Gründen sieht er es als Aufgabe der Betrof­fenen, mit der Inklu­si­ons­in­itia­tive das System grund­le­gend weiterzuentwickeln. 

Menschen mit Behin­de­rungen für diese Bewe­gung zu mobi­li­sieren sei aber unter den bestehenden Einschrän­kungen und den gesell­schaft­li­chen Benach­tei­li­gungen schwierig. Trotzdem stimmt ihn ein Refe­renz­punkt, der noch nicht weit zurück­liegt, hoff­nungs­voll: „Auch die Frauen in den 70er-Jahren haben selber für ihre Rechte gekämpft. Damals waren sie Spin­ne­rinnen, die sich gegen ihre Fami­lien aufge­lehnt haben. Heute bezeichnen wir sie als Heldinnen.“


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