Game over: „Das Social-Credit-System ist bitterernst“

Für Europäer*innen eine dysto­pi­sche Vorstel­lung, für Chines*innen sehr bald Realität: das Social Credit System. Mit der Corona-Pandemie rückt die Über­wa­chung durch Daten­samm­lung auch in Europa noch mehr in den Fokus. 

Schon vor einem Jahr konnte man in China an jeder Ecke Kameras finden, ganze Masten mit rundum Video­über­wa­chung und akusti­schen Aufnah­me­ge­räten: auf dem Tian’anmen-Platz, im öffent­li­chen Verkehr, in und an Gebäuden – für Schweizer Tourist*innen unan­ge­nehm, für Chines*innen bereits unsichtbar. Die Volks­re­pu­blik verwan­delt sich allmäh­lich in ein tota­li­täres System der Massen­über­wa­chung, das George Orwells „Big Brother“ in nichts nach­steht. Wie spielen die Über­wa­chung und das Social-Credit-System zusammen?

Die Idee des Social-Credit-Systems entstand in China schon 2007. Sieben Jahre später folgte die offi­zi­elle Ankün­di­gung des Projekts zur Konstruk­tion des Systems, das bis 2020 allmäh­lich imple­men­tiert und gete­stet wurde. Die offi­zi­elle Ankün­di­gung lässt keinen Zweifel daran, dass das Kern­ziel des Systems darin liegt, das Verhalten der Bevöl­ke­rung und Insti­tu­tionen entlang von mora­li­schen Normen wie Ehrlich­keit und Vertrau­ens­wür­dig­keit zu formen. Inter­es­sant dabei ist: Der Begriff xìnyòng (信用), der in der offi­zi­ellen Bezeich­nung des Systems vorkommt und „Kredit“, „Glaub­wür­dig­keit“ und „Vertrau­ens­wür­dig­keit“ bedeuten kann, geht auf die Kern­phi­lo­so­phie des Philo­so­phen Konfu­zius zurück. Dieser lebte zur Zeit der Östli­chen Zhou-Dyna­stie, etwa von 551 bis 479 vor Chri­stus. Gemäss Konfu­zius’ von strengen Hier­ar­chien geprägten Lehre soll jede Person Recht­schaf­fen­heit und Sitt­lich­keit anstreben, aber auch Mitmensch­lich­keit, Weis­heit und Aufrich­tig­keit. Diese fünf mora­lisch-ethi­schen Grund­sätze sollen die Harmonie zwischen Mensch und Gesell­schaft herstellen. Mit dem Bezug auf Konfu­zius wird die Über­wa­chung auch philo­so­phisch legitimiert.

Wer Gerüchte verbreitet, muss mit Sank­tionen rechnen

Im Social-Credit-System besitzen alle ein persön­li­ches Punk­te­konto. Wer in den Augen der Partei richtig handelt, bekommt Punkte und wer sich falsch benimmt, Abzüge. Konkret kann das zum Beispiel heissen: Wer Armen hilft, Blut­spenden geht oder die Regie­rung in den sozialen Netz­werken lobt, wird positiv bewertet. Wer bei Online-Spielen schum­melt, Gerüchte verbreitet oder ‚unauf­rich­tige‘ Entschul­di­gungen für began­gene Verbre­chen gibt, wird negativ beur­teilt. Je höher ihr Punk­te­stand, desto mehr Privi­le­gien geniessen die Bürger*innen. So könnte man beruf­lich bei einer Beför­de­rung bevor­zugt werden, kostenlos ins Fitness­studio oder bei Anstel­lungen oder der Zulas­sung zu Schulen prio­ri­siert werden. Auf der anderen Seite führt ein nied­riger Punk­te­stand zu Bestra­fungen und Sank­tionen. Dazu zählen etwa der erschwerte Zugang zu Krediten, die Verwei­ge­rung von Sozi­al­lei­stungen oder die öffent­liche Brand­mar­kung. Letz­teres geschieht etwa durch die Bekannt­gabe des Namens oder der Publi­ka­tion von Fotos der Person auf der schwarzen Liste online oder auf Bild­schirmen im öffent­li­chen Raum.

Auch Unter­nehmen im Fokus der Überwachung

Im vergan­genen März disku­tierten eine Jour­na­li­stin, ein China­kenner und ein Gaming-Experte an einer Podi­ums­dis­kus­sion im Zürcher Kultur­lokal Kosmos über das Social-Credit-System. Einer der Teil­neh­menden war Markus Herr­mann, Co-Programm­leiter Asien bei Sino­ly­tics, einer auf China spezia­li­sierten Forschungs- und Bera­tungs­firma mit Sitz in Zürich und Berlin. Im Kosmos sagte er, dass nicht nur Privat­per­sonen, sondern auch Unter­nehmen laufend bewertet würden: „Im Kern geht es um Vertrau­ens­wür­dig­keit und diese soll die Wett­be­werbs­fä­hig­keit stei­gern. Ein mora­li­scheres China soll entstehen.“ Dabei würden die Unter­nehmen holi­stisch, also als Ganzes, betrachtet. So führe ein Zoll­ver­gehen in einem anderen unter­neh­me­ri­schen Bereich zu Sank­tionen. „Die Unter­nehmen sollen dazu gebracht werden, in jeder Hinsicht aufrichtig zu handeln und keinen Aspekt zu vernach­läs­sigen“, sagte Herr­mann weiter. Adri­enne Fichter, Jour­na­li­stin bei der Repu­blik, fügt hinzu: „Die Idee ist: Wenn alle über­wacht werden, kann niemand betrügen und wenn niemand betrügen kann, sind alle ‘erzogen’ und es entsteht Vertrauen.“

René Bauer, Leiter der MA-Vertie­fung Game Design an der ZHdK, hob in der Diskus­sion die Gami­fi­ca­tion-Prin­zi­pien des Systems hervor: „Laut dem Sozio­logen Baudril­lard akzep­tieren wir beim Gamen viel härtere Strafen. Auf den ersten Blick erscheint es wie ein Spiel – aber es ist bitter­ernst.“ Im Social-Credit-System müssen alle perma­nent mora­lisch sein. Man kann nie aus dem Game austreten, es gibt keine Pause. Bauer empfindet die so entste­hende Lebens­rea­lität als „unend­liche Kampfbahn“.

Funda­men­taler Unter­schied zwischen Uber und dem Social-Credit-System

Auch in der Schweiz sind Gami­fi­ca­tion-Konzepte nicht unbe­kannt: Wer fleissig in der Migros oder im Coop einkauft, gewinnt Punkte und wird belohnt. Bei der App der Kran­ken­kasse Helsana konnte man persön­liche Daten gegen Punkte und Prämi­en­ver­bil­li­gungen tauschen. „Das ist jedoch nicht ganz mit dem chine­si­schen Social-Credit-System zu verglei­chen, weil wir hier nur Beloh­nungen, jedoch keine Bestra­fungen erhalten“, sagt Bauer.

Bei Uber, Airbnb und Ricardo bekommen Kunden und Anbieter Bewer­tungen, die zukünf­tige Käufe und Aufträge beein­flussen. Doch auch diese Appli­ka­tionen unter­scheiden sich funda­mental vom Social-Credit-System. Das chine­si­sche Massen­über­wa­chungs­sy­stem wird von der Kommu­ni­sti­schen Partei, einer tota­li­tären, allein­herr­schenden Einheits­partei, aufge­baut. Die Partei ist für schwer­wie­gende Menschen­rechts­ver­let­zungen verant­wort­lich, darunter die gemäss Amnesty Inter­na­tional „syste­ma­ti­sche Demü­ti­gung, Strafe und Folter“ der musli­mi­schen Volks­gruppe der Uiguren.

Mit der Über­wa­chung durch die im ganzen Land instal­lierten etwa 170 Millionen CCTV-Kameras wird eine enorme Menge Daten ange­häuft. Gleich­zeitig herrscht wenig Trans­pa­renz über die Algo­rithmen, die das Scoring berechnen. „Bewer­tungs­kri­te­rien und Gewich­tung können von oben stets modi­fi­ziert werden“, sagte Markus Herr­mann am Podium. Das bedeutet auch, dass nicht klar ist, ob die Bevöl­ke­rung vor Daten­miss­brauch geschützt wird. Die Daten könnten etwa für Verhal­tens­ana­lysen verwendet werden.

Daten werden zum inter­na­tio­nalen Wettbewerbsvorteil

Die COVID-19-Pandemie bringt die Themen Über­wa­chung und Daten­schutz mit neuer Dring­lich­keit auf die Agenda: Diverse Staaten stehen vor dem Dilemma, Mass­nahmen für die Sicher­heit der Bevöl­ke­rung zu treffen, ohne dabei grund­sätz­liche demo­kra­ti­sche Rechte zu beschneiden. Indem die Bewe­gungs­daten der Bürger*innen ausge­wertet werden, könnte mittels Handy-Tracking sicher­ge­stellt werden, dass sich jede Person an die Regeln zum Schutz vor dem Virus hält. Doch damit das geht, müssten die Staaten den Persön­lich­keits­schutz brechen. So könnte das Social-Credit-System als warnendes Beispiel dafür dienen, wohin uns die Kombi­na­tion aus Ausnah­me­zu­stand und der Digi­ta­li­sie­rung vieler Lebens­be­reiche nicht führen sollte.

Schon heute kämpfen Unter­nehmen und Staaten im Handel mit den Daten über unsere Präfe­renzen und Bedürf­nisse um Vorteile im inter­na­tio­nalen Wett­be­werb. Daten­handel wird laut Herr­mann in Zukunft mass­geb­lich zum Wohl­stand von Ländern beitragen. Natür­lich lassen sich Digi­ta­li­sie­rung und die damit einher­ge­hende Samm­lung von Daten ebenso wenig aufhalten wie der Handel mit diesen Daten. Doch wir sollten dafür kämpfen, dass dabei der Persön­lich­keits­schutz nicht verloren geht.


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