Seit einigen Wochen erscheint Chile auf den Titelblättern von Zeitungen auf der ganzen Welt. Die Bevölkerung steht gegen das neoliberale Regime auf und fordert eine grundlegende Reform des politischen und wirtschaftlichen Systems (das Lamm berichtete). Die Regierung reagiert auf die Forderungen mit dem Einsatz des Militärs – das zum Teil mit Schweizer Waffen ausgerüstet war und ist. Bilder von Mowag-Panzern und SIG-Gewehren in den Händen chilenischer Soldaten gehen ein weiteres Mal um die Welt. Um den von Präsident Piñera ausgerufenen Krieg gegen die Bevölkerung und die unheimliche Allianz von chilenischen Militärs und Schweizer Waffenfirmen zu verstehen, muss man in noch dunklere Jahre der Geschichte des Andenstaats zurückgehen.
Am 11. September 1973 putschte das Militär in Chile und installierte ein 17 Jahre andauerndes Terrorregime. In einer darauffolgenden Repressionswelle wurden Tausende von Menschen verschleppt, gefoltert und ermordet. Bis heute fehlt von vielen Verschleppten jede Spur.
Der Putsch, gefördert durch die CIA, war unter anderem möglich dank der militärischen Aufrüstung in den 60er Jahren – mit Schweizer Waffen. In einem ersten Teil dieser Artikelserie wurde darüber berichtet, wie das Militär und die Polizei sich mit Mowag-Panzern und SIG-Gewehren gegen kommende Kriege und Aufstände ausrüsteten. Am Tag des Putschs kamen die Waffen zum ersten Mal gegen die eigene Bevölkerung zum Einsatz.
Auch in den kommenden Jahren war das Militär bemüht, seine Streitkräfte gegen innere und äussere Feinde aufzurüsten. Beihilfe leisteten dabei erneut Schweizer Waffenschmieden. Letztere arbeiteten eifrig, um Schweizer Exportgesetze zu umgehen und mit dem Regime Geschäfte zu machen. Das belegen mehrere Dokumente, die das Lamm in verschiedenen Archiven in Chile und in der Schweiz gesichtet hat.
Düsenjäger für den Diktator
Die berühmtesten Bilder des Putsches entstanden bei der Belagerung des Regierungspalastes „Moneda“ durch die chilenischen Truppen. Innerhalb der Moneda befand sich der Präsident Salvador Allende und verteidigte mit einer Handvoll Menschen und ein paar wenigen Waffen die demokratische Regierung. Draussen stand das hochgerüstete Militär, mit Mowag-Panzern und SIG-Gewehren. Hinzu kamen die Hunterjäger, die den Präsidentenpalast bombardierten. Es war der bis dato zweite kriegerische Einsatz der chilenischen Luftwaffe. Zuvor hatte sie im Jahr 1931 die Hafenstadt Coquimbo bei einem Aufstand eines Teils der Marine bombardiert.
Ein Jahr nach dem erfolgreichen Putsch gegen Allende mussten die Antriebe der Kampfflugzeuge überholt werden. Sie wurden zurück in die Rolls-Royce-Fabrik in Schottland verschifft. Dort angekommen weigerten sich die Arbeiter aus Solidarität mit der chilenischen Linken, die Maschinen zu reparieren und setzten sie auf dem Fabrikgelände in Kisten fest. Felipe Bustos Sierra erzählt diesen Konflikt in seinem 2018 erschienenen Dokumentarfilm „Nae Pasaran“ nach. Protagonisten des Films sind vier schottische Arbeiter, welche die Maschinen vier Jahre lang bewachten und jegliche Reparatur daran verunmöglichten. Bis 1978 in einer Nacht-und-Nebel-Aktion die Flugzeugkisten vom Rolls-Royce-Werksgelände verschwanden – und später in Chile repariert wieder auftauchten. Der Dokumentarfilmer Bustos konnte nicht herausfinden, wer die Reparatur des Antriebs vorgenommen hatte.
Das Lamm hat im Bundesarchiv sowie im Archiv des chilenischen Aussenministeriums jetzt aber die Lösung des Rätsels entdeckt: Es war die Zuger Fred-Air AG, die sich für den Auftrag, die Flugzeuge zu reparieren, angeboten hatte. Und die die Reparatur schliesslich auch durchführte. Mit daran beteiligt waren das Rümlanger Unternehmen Airtechnik AG und die Firma Saurer aus Arbon. Dokumente aus der chilenischen Botschaft zeigen, dass sich das Schweizer Unternehmen Fred-Air bereits 1977 im Kontakt mit den chilenischen Behörden befand. Also schon ein Jahr vor der Durchführung der Reparatur.
Lange bemühte sich die Fred-Air AG beim Bund um eine Bewilligung des Waffendeals. Dabei waren ihr die Menschenrechtsverletzungen ihres potenziellen Vertragspartners durchaus bekannt. Der Bund verweigerte der Firma aber die Bewilligung der Flugzeugrevision. Die Schweizer Firma führte dennoch den Auftrag des chilenischen Regimes durch. Einfach nicht in der Schweiz, sondern in einem Werk in Italien
Panzer und Sturmgewehre für das Regime
„Mein Vorgesetzter gab mir sein SIG-Gewehr und befahl mir, Herrn Márquez zu erschiessen. Ich gehorchte dem Befehl, da ich ihn für angemessen befand.“
– Auszug aus einem Bericht des verurteilten Mayor Carlos Herrera Jiménez über die Ermordung mehrerer Gefangener in einem Konzentrationslagers des chilenischen Militärs.
Nach dem Putsch 1973 versuchte das chilenische Militär vergebens, Schweizer Waffen zu kaufen. Nicht nur, um einen blutigen Kampf gegen die eigene Bevölkerung zu führen, sondern auch, um sich auf einen Krieg mit Peru oder Argentinien vorzubereiten. Mit dem blau-weissen Nachbarstaat stand Chile 1978 am Rande eines bewaffneten Konflikts, der kurz vor Ausbruch durch eine Intervention des Papstes verhindert werden konnte.
Doch zu den ersehnten Verkäufen der Schweizer Waffenfirmen kam es nicht. Die Bemühungen der Schweizer Waffenschmieden SIG und Mowag, eine Bewilligung für den Export nach Chile zu erhalten, blieben bis 1980 ohne Erfolg. Das Problem umgehen konnten sie, indem sie Anfang der 80er Jahre mit Carlos Cardoen zusammenzuarbeiten begannen.
Carlos Cardoen hatte das seit 1976 international geltende Waffenembargo genutzt, um eine florierende Kriegsindustrie aufzubauen. Weil keine Waffen mehr nach Chile importiert werden konnten, waren seine eigenen Produktionen praktisch konkurrenzlos. Zuerst produzierte er nur für den chilenischen Staat. Relativ bald begann er aber, auch an andere isolierte Staaten, wie etwa das Apartheit-Südafrika und den Irak, Waffen zu verkaufen. Zu seiner Errungenschaft gehört die Weiterentwicklung der Streubombe, welche später unter anderem vom Irak im Krieg gegen den Iran eingesetzt wurde. Für den Verkauf der Bombe an Saddam Hussein liessen die USA schliesslich einen internationalen Haftbefehl ausrufen. Cardoen, durch seine Waffen reich geworden, konnte von diesem Moment an das Land nicht mehr verlassen. Seine politischen Beziehungen verhindern jedoch eine Auslieferung an die USA.
Aus Dokumenten der staatlichen chilenischen Waffenfabrik FAMAE geht hervor, dass die Schweizer Waffenschmieden genau mit dieser Person als Mittelsmann einen Deal mit der FAMAE zustande brachten – und fortan damit Geld verdienten, ihr Produktionslizenzen zu verkaufen. In seiner selbst verfassten Unternehmensgeschichte verkündet das chilenische Unternehmen stolz, dass ab dem Jahr 1980 mindestens 373 Radwagenpanzer der Mowag in Chile produziert wurden. Der Historiker Peter Hug berichtet, dass zur gleichen Zeit die SIG der FAMAE eine Lizenz samt Maschinen zur Produktion verkaufte.
Interne Dokumente der chilenischen Botschaft beweisen ausserdem, dass regelmässig hohe Militärs zur SIG nach Neuhausen gereist sind, um sich in der Produktion der Maschinengewehre fortbilden zu lassen. Die staatliche chilenische Waffenfabrik würdigte die SIG sogar mit der Benennung der neuen Produktionsstätte nach der Schweizer Firma. Diese nahm laut der FAMAE 1986 die Produktion auf. Schweizer Waffenqualität, hergestellt von einer der schlimmsten Militärdiktaturen Lateinamerikas. Es bestehen keine Zweifel, dass so Schweizer Technologie über Carlos Cardoen und die FAMAE auch an weitere international geächtete Staaten weiterverkauft wurden.
Das Geschäftsmodell mit den Produktionslizenzen wurde für die Beteiligten ein langanhaltender Erfolg: Es hielt bis zum Ende der Diktatur an. Deren letzte Jahre waren von tiefgreifenden Protestwellen gegen die neoliberalen Wirtschaftsreformen geprägt. Das Militär wurde zur Niederschlagung der Proteste eingesetzt. Ein ehemaliger Soldat erzählt dazu: „Sie gaben uns ein SIG-Gewehr und drei Patronenschachteln. Am Ende des Tages mussten diese leer sein.“
Trotz der Rückkehr zu demokratischen Wahlen wurde die Führungsriege der Diktatur nie zur Verantwortung gezogen. Das Militär entkam fast jeglichen demokratischen Reformen und huldigt zum Teil bis heute anerkannten Menschenrechtsverletzern.
Auch nach dem Abgang Augusto Pinochets 1990 kooperierten Schweizer Waffenfirmen mit dem Andenstaat. Die Panzer der Mowag werden weiterhin in Chile produziert und das SIG-Sturmgewehr ist im Militär weit verbreitet. Jeder Soldat erhält am Anfang seines Dienstes ein fúsil SIG. Mit diesem muss er dann schiessen. Heute wie damals: auf die eigene Bevölkerung.
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