Kern­fu­sion der Ideen: Wie Frauen den Bau eines Atom­kraft­werks verhinderten

Femi­ni­sti­sche und ökolo­gi­sche Anliegen werden immer häufiger mitein­ander verbunden. Schon in den 1970er-Jahren ist es den Frauen der Badi­schen Frau­en­in­itia­tive gelungen, sich gegen ein umwelt­zer­stö­re­ri­sches Projekt zusam­men­zu­schliessen. Dabei war ihre Rolle als Mütter und Sorge­ar­bei­tende zentral. 
Stricken, protestieren und Kinder hüten gehörten in diesem Protestcamp in Marckolsheim im Jahr 1975 zusammen. (Foto: Meinrad Schwörer / Privatarchiv von Axel Mayer)


Im Sommer 1973 wurde bekannt, dass in Wyhl, einer kleinen Gemeinde in der Nähe von Frei­burg im Breisgau, ein neues Kern­kraft­werk (KKW) gebaut werden sollte. Die Behörden verspra­chen Moder­nität, Wohl­stand und Arbeits­plätze. Doch viele Anwohner*innen reagierten mit Argwohn und Misstrauen. 

In Wyhl und den umlie­genden Gemeinden grün­deten sie Bürger*inneninitiativen, um sich wissen­schaft­lich mit dem Thema ausein­an­der­setzen und die Bevöl­ke­rung aufzu­klären. Dieser Wider­stand reichte bis nach Frei­burg, wo das Frei­burger Frau­en­kol­lektiv im Sommer 1974 die „Frei­burger Initia­tiv­gruppe KKW NEIN“ gründete.

Diese Initia­tive stiess auch unter den Frauen der Schweizer Anti-Atom­kraft­be­we­gung auf Inter­esse. Denn auch in Kaiser­augst formierte sich damals ein breiter Wider­stand gegen den Bau eines Atom­kraft­werkes. Von der Arbeit des Frau­en­kol­lek­tivs Frei­burg begei­stert, bat die „Gewalt­freie Aktion Kaiser­augst“ ihre süddeut­schen Freun­dinnen in einem Brief um „drin­gende“ Bera­tung. Denn sie sahen im Kampf gegen die Atom­kraft ein femi­ni­sti­sches Anliegen. Ein Erfah­rungs­be­richt des Frau­en­kol­lek­tivs Frei­burg, das 1975 in der Zeit­schrift Frau­en­of­fen­sive publi­ziert wurde, gibt Aufschluss über die Entste­hung dieser ökofe­mi­ni­sti­schen Bewe­gung in Wyhl und Umgebung.

Keine ökofe­mi­ni­sti­sche Theorie

Die 1970er-Jahre waren die Geburts­stunde des Ökofe­mi­nismus: Als Reak­tion auf verschie­dene Umwelt­ka­ta­stro­phen wie zum Beispiel der Chemie­un­fall im italie­ni­schen Seveso von 1976 schlossen sich Frau­en­gruppen zusammen und zogen Paral­lelen zwischen der Zerstö­rung und Ausnut­zung der Natur und der Unter­drückung von Frauen. Das patri­ar­chale System, das weib­liche Körper unter­warf und verge­wal­tigte, war für sie auch eines, das die Natur verschan­delte, umwelt­schäd­liche Tech­niken wie die Atom­kraft entwickelte und krie­ge­ri­sche Konflikte schürte.

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Der Begriff geht auf die fran­zö­si­sche Femi­ni­stin Fran­çoise d’Eaubonne zurück. Die Frei­burger Femi­ni­stinnen kannten jedoch weder Fran­çoise D’Eaubonnes Buch „Femi­nismus oder Tod“ noch benutzten sie den Begriff Ökofe­mi­nismus. Dennoch ist ihre Aktion ein Beispiel von vielen welt­weit, bei denen Femi­ni­stinnen in die Umwelt­be­we­gung inter­ve­nierten und dabei die Über­zeu­gung vertraten, dass es ohne Geschlech­ter­ge­rech­tig­keit keine Nach­hal­tig­keit gibt.

Am Anfang des Enga­ge­ments der Frei­burger Frauen stand also keine ökofe­mi­ni­sti­sche Theorie. „Damals“, erin­nerten sie sich in ihrem Erfah­rungs­be­richt, „kam noch niemand von uns auf den Gedanken, dass ökolo­gi­sche Fragen viel­leicht ein Teil der Frau­en­po­litik sind. Wir sahen nur, dass sich in der unmit­tel­baren Umge­bung von Frei­burg eine wich­tige Bewe­gung entwickelte und wollten mitar­beiten.“ Das sollte sich jedoch ändern.

Städ­ti­sche Femi­ni­stinnen treffen auf Landfrauen

Als Teil einer Koali­tion verschie­dener Bürger*inneninitiativen fuhren die Freiburger*innen im Herbst 1974 minde­stens einmal pro Woche zu einem Treffen in einem der vom Bau des Kern­kraft­werks betrof­fenen Dörfer. 

Dabei stellte sich ihnen jedoch der Sexismus in den Weg: Die bislang gegrün­deten lokalen Bürger*inneninitiativen gegen das Atom­kraft­werk waren sehr männer­do­mi­niert. Immer wieder wurden die Frei­bur­ge­rinnen von den Männern als „fesche Polit-Miezen aus der Stadt“ bezeichnet. Die Frauen fanden einen Ausweg aus dieser patri­ar­chalen Feind­se­lig­keit, indem sie diese Räume mieden und mit Frauen zusam­men­zu­ar­beiten begannen.

Ein Impuls für diese Zusam­men­ar­beit unter Frauen kam von der anderen Seite der Grenze, wo die Bevöl­ke­rung den Bau eines neuen Blei­werks verhin­dern wollte: Im fran­zö­si­schen Nach­barort Marck­ols­heim besetzen am 20. September 1974 einige hundert Menschen aus den umlie­genden Dörfern beider Länder sowie Aktivist*innen, die von weither kamen, den Bauplatz des Bleiwerks. 

Auf der Beset­zung enga­gierten sich alle so, wie es ihnen am besten passte: Bauern und Bäue­rinnen brachten Brenn­holz, Kartof­feln, Trauben oder Wein auf den Platz; Musiker*innen spielten ein Ständ­chen; elsäs­si­sche Frauen über­nahmen die Verpflegung.

Frauen spielten bei der Beset­zung eine beson­ders wich­tige Rolle. Sie waren jeden Tag auf dem Platz, nahmen ihre Kinder mit, arbei­teten zusammen, kochten gemeinsam, schwatzten.

Frauen spielten bei der Beset­zung eine beson­ders wich­tige Rolle. Sie waren jeden Tag auf dem Platz, nahmen ihre Kinder mit, arbei­teten zusammen, kochten gemeinsam, schwatzten. Der Strass­burger Präfekt reagierte auf die Beset­zung, indem er für die badi­schen Demon­strie­renden die Grenzen schliessen liess. 

Darauf antwor­teten vor allem weib­liche Akti­vi­stinnen, indem sie stun­den­lang den Grenz­ver­kehr blockierten. „Während sich viele Männer abwar­tend und eher ‚anständig‘ verhielten“, erin­nerten sich die Frei­burger Femi­ni­stinnen in ihrem Erfah­rungs­be­richt, „stellten sich die Frauen in Gruppen auf die Brücken und schrien und schimpfen derart, dass die Grenze schliess­lich für alle wieder geöffnet werden musste.“

In Marck­ols­heim wurde ein Platz für Menschen mit unter­schied­li­chen Hinter­gründen geschaffen. In der Beset­zung fielen private und öffent­liche Sphäre zusammen. Die Gemein­schafts­küche wurde zum Ort, wo sich Frauen treffen konnten und – ohne mit ihrer gesell­schaft­li­chen Rolle als Haus­frauen zu brechen – sich gegen­seitig als poli­ti­sche Subjekte erfuhren. “Frau­en­zu­sam­men­ar­beit”, wie die Frei­bur­ge­rinnen es nannten, wurde nicht nur möglich, sondern notwendig.

„Elemen­tare Sorge des Überlebens“

Nach dieser ersten Erfah­rung der “Frau­en­zu­sam­men­ar­beit” auf der Platz­be­set­zung in Marck­ols­heim trafen sich am 4. Oktober 1974 einige Frauen aus der Frei­burger Initia­tive mit Frauen aus der Umge­bung von Wyhl. Die Frei­bur­ge­rinnen wollten sich über die nega­tiven Erfah­rungen in den männer­do­mi­nierten Bürger*inneninitiativen gegen das Atom­kraft­werk Wyhl austau­schen. Ihnen wurde bald klar, dass sich ihre Anliegen massiv von denje­nigen der Männer in den Bürger*inneninitiativen unterschieden.

Sie vergli­chen die Stim­mung bei den männ­lich domi­nierten Bürger­initia­tiven mit dem Umgang unter Frauen: „Dort Demon­stra­tion von Stärke oder Resi­gna­tion, hier Äusse­rungen von persön­li­cher Betrof­fen­heit, Angst, Hoff­nung. Dort Inter­esse an Sachen und Sach­zu­sam­men­hängen, hier Inter­esse an Personen. Dort Sorge um die land­wirt­schaft­liche Existenz, hier die viel elemen­tarere Sorge um das Über­leben und die Gesund­heit der Familienangehörigen.“

Die Frauen orga­ni­sierten weitere Treffen, mobi­li­sierten Frauen aus der ganzen Region gegen Atom­kraft und indu­stri­elle Verschmut­zung und bildeten gemeinsam die Badi­sche Frau­en­in­itia­tive. Dabei ging es ihnen nicht primär darum, gegen den Sexismus der Männer in den Bürger*inneninitiativen vorzu­gehen oder femi­ni­sti­sche Inhalte zu disku­tieren. Ihr haupt­säch­li­ches Enga­ge­ment galt nach wie vor der Gefahr der Atom­kraft und der indu­stri­ellen Verschmutzung.

Sie bauten eine Macht auf, indem sie auf den Alltag und die Lebens­er­fah­rung von Frauen auf dem Land eingingen.

Dabei schafften es die Frei­bur­ge­rinnen – Frauen aus der Stadt – sich gemeinsam mit hunderten Frauen vom Land zu orga­ni­sieren. Sie bauten eine Macht auf, indem sie auf den Alltag und die Lebens­er­fah­rung von Frauen auf dem Land eingingen. Sie schufen einen Raum ausschliess­lich für Frauen, der nicht von männ­li­chen Struk­turen und Vorstel­lungen geordnet wurde. Aus den Lebens­rea­li­täten der Frauen als Mütter und Sorge­ar­bei­tende konzen­trierte sich der Fokus auf “die viel elemen­tarere Sorge des Über­le­bens” und insbe­son­dere das Wohl der Kinder.

“Keine Frau­en­be­we­gung im übli­chen Sinn”

All diese Erfah­rungen schrieben die Frei­burger Frauen für ihre Freun­dinnen aus Kaiser­augst auf. Doch aus Sicht der Schweizer Femi­ni­stinnen war dieser Bericht womög­lich enttäu­schend. Denn die Frei­bur­ge­rinnen unter­stri­chen, dass die Badi­sche Frau­en­in­itia­tive keine „Frau­en­be­we­gung im übli­chen Sinn“ gewesen sei.

Tatsäch­lich sahen es nicht alle Femi­ni­stinnen der dama­ligen Zeit gern, wenn Frauen als Mütter und Sorge­ar­bei­tende aktiv wurden. Frauen, so ein breit geteilter femi­ni­sti­scher Konsens, hatten sich eher von ihrem Mutter­sein zu befreien, hatten den öffent­li­chen Raum als freie, selbst­be­stimmte Indi­vi­duen einzunehmen.

Die badi­schen Frauen aber entwickelten ihre Argu­mente und Ziele gerade aus ihrer Lebens­rea­lität als Mütter und Sorge­ar­bei­tende heraus. Anfäng­liche Selbst­zweifel scheinen dabei durch eine kollek­tive Ermäch­ti­gung immer kleiner geworden zu sein: Ein Beispiel dafür ist die Entschei­dung, nur noch Frauen an Infor­ma­ti­ons­ver­an­stal­tungen einzu­laden, nachdem sich einer der zwei männ­li­chen Refe­renten als “totaler Rein­fall” und “lang­weilig” herausstellte.

Somit half der Rück­griff auf bestehende Geschlech­ter­rollen und Lebens­rea­li­täten nicht nur der ökolo­gi­schen Bewe­gung, sondern brachte der Frau­en­in­itia­tive schliess­lich auch femi­ni­sti­sche Erkennt­nisse wie die Macht der Frauen als Kollektiv und das Recht, sich am poli­ti­schen Diskurs zu beteiligen.

„Ein natio­naler und inter­na­tio­naler Präzedenzfall“

Vor allem aber war die Frau­en­in­itia­tive erfolg­reich. Der Bauplatz in Marck­ols­heim wurde über mehrere Monate besetzt, und die Baupläne für die Blei­fa­brik wurden noch im Jahr 1975 einge­stellt. Kurz darauf besetzten Atomkraftgegner*innen eben­falls den Bauplatz des Atom­kraft­werks in Wyhl. Wie auch in Marck­ols­heim spielten die Frauen dabei eine tragende Rolle: Sie bewachten die Beset­zung, während die Männer bei der Arbeit waren und stellten sich oft stra­te­gisch an die vorderste Front, um gegen die Polizei anzu­kommen. Das Bauvor­haben wurde schliess­lich eingestellt.

Demon­stra­tion am Oster­montag 1975 in Wyhl. Am Mikrofon Anne­marie Sacherer aus Deutsch­land, neben ihr Solange Fernex aus Frank­reich. (Foto: Meinrad Schwörer / Privat­ar­chiv von Axel Mayer)

Als erster Sieg gegen die Atom­kraft erhielten die massen­haften Proteste in Wyhl grosse Aufmerk­sam­keit, sowohl lokal als auch inter­na­tional: „Wyhl ist ein natio­naler und inter­na­tio­naler Präze­denz­fall geworden“, schrieben die Frei­bur­ge­rinnen in ihrem Bericht. Ein Erfolg, der die Umwelt­schutz- und Anti-Atom­be­we­gung stärkte und der ohne diese Frauen nicht möglich gewesen wäre.

Im Kampf gegen die Atom­kraft entdeckten viele Frauen ihre poli­ti­sche Macht und versuchten, sich aus ihrer patri­ar­chalen Lebens­rea­lität zu befreien. Die badi­sche Frau­en­in­itia­tive ging von der direkten Betrof­fen­heit der Frauen als Mütter und Sorge­ar­bei­tende aus, um den weib­li­chen Wider­stand gegen Umwelt­zer­stö­rung aufzu­bauen. Sie vereinten sich als Frauen oder Mütter, wenn auch nicht bewusst als Feminist*innen. Viele Frauen machten durch diese Bewe­gungen auch ihre ersten Erfah­rungen mit poli­ti­schem Akti­vismus und wurden so über ökolo­gi­sche Anliegen hinaus poli­ti­siert. Dies unter anderem, weil sie viel Gegen­wehr von Männern über­winden mussten, die die Ansicht vertraten, dass Frauen sich nicht in der Politik zu betä­tigen hätten.

Bis heute es ist bitter nötig, Femi­nismus und Klima­schutz zusam­men­zu­denken: Die Klima­krise ist akuter denn je und betrifft Frauen, Lesben, inter, nicht binäre, trans und agender Personen (FLINTA) beson­ders stark. Laut den UN Women Deutsch­land sterben Frauen und Kinder bei Umwelt­ka­ta­stro­phen 14-mal häufiger, weil sie aufgrund ihrer gender­spe­zi­fi­schen Lebens­um­stände später gewarnt werden, seltener schwimmen können und sich auch auf der Flucht um Ange­hö­rige kümmern müssen.

Es ist daher wenig verwun­der­lich, dass immer mehr Initia­tiven ökolo­gi­sche Fragen mit femi­ni­sti­schen Anliegen verbinden. Dabei könnte das Beispiel aus Marck­ols­heim und Wyhl lehr­reich sein. Denn die dort enga­gierten Aktivist*innen haben gezeigt: Auch das lähmende Gefühl der Sorge um Mitmen­schen kann ein Antrieb für den poli­ti­schen Kampf sein.

Die Autor*innen studieren an der Univer­sität Basel. Sie haben diesen Artikel im Rahmen eines Kurses über die Geschichte des Ökofe­mi­nismus im 20. und 21. Jahr­hun­dert verfasst.


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