Konsens muss geübt sein

Konsens ist etwas Posi­tives, Grenzen hingegen empfinden wir meist als negativ. Und trotzdem funk­tio­niert das Eine nicht ohne das Andere. Ein Plädoyer für mehr Konsens-Findung bei sich selbst. 
Wir müssen unsere eigenen Wünsche und Grenzen spüren, bevor wir Konsens herstellen können (Foto: Unsplash / Alexander Grey).

Am Valen­tinstag haben mein Freund und ich uns statt Scho­ko­lade und Blumen einen Konsens-Work­shop gegönnt. Orga­ni­siert wurde die Veran­stal­tung von „Die Femi­ni­sten“, durch­ge­führt wurde sie von „Zwischen­welten“ – zwei Vereine, die ich wärm­stens empfehlen kann.

Passend zum hete­ro­nor­ma­tiven Kitsch-Feiertag ging es grund­sätz­lich um Konsens beim Sex bezie­hungs­weise Konsens in zwischen­mensch­li­chen Bezie­hungen. Es war ein schöner, inten­siver Abend, an dem wir viel zuge­hört, gefragt und geübt haben.

Bei mir ist nach den drei Work­shop-Stunden vor allem ein Aspekt hängen geblieben: Wir können Konsens – also die Einwil­li­gung aller Teil­neh­menden in eine Hand­lung – erst dann herstellen, wenn wir unsere eigenen Grenzen spüren und kommu­ni­zieren können. Und obwohl das logisch klingt, über­springen wir diesen Punkt erstaun­lich oft.

Beim Konsens-Einholen geht es eben auch um den Konsens mit sich selbst.

Wir wissen manchmal gar nicht, was wir wollen, weil wir es uns nicht gewöhnt sind, in uns hinein­zu­hören. Und wenn wir wissen, was wir möchten, hält uns je nachdem Angst, Scham oder Unsi­cher­heit allzu oft davon ab, es zu kommu­ni­zieren. Wir möchten die Gefühle des Gegen­übers nicht verletzen, wollen selbst keine Ableh­nung erfahren oder fühlen uns nicht wohl genug, um uns zu öffnen.

Grenzen und Fragen

Es geistert – wenig hilf­reich – die Vorstel­lung herum, dass Grenzen setzen etwas Nega­tives sei. Wenn ich eine Einla­dung zum Abend­essen ablehne, bin ich unso­zial. Wenn ich meinem Kollegen nicht beim Zügeln helfe, bin ich ein*e schlechte*r Freund*in. Wenn ich die neue Sexpraktik, die mein*e Sexualpartner*in vorge­schlagen hat, nicht auspro­bieren möchte, bin ich prüde.

Ob das von meinen Mitmen­schen tatsäch­lich so wahr­ge­nommen wird, ist eine andere Frage. Nur schon, dass ich das Gefühl habe, dass ich irgendwie negativ auffalle oder unsym­pa­thisch wirke, kann dazu führen, dass ich meine eigenen Grenzen schliess­lich igno­riere. Dabei profi­tiere nicht nur ich selbst, sondern alle um mich herum davon, wenn ich klar sagen kann, was ich will und was nicht. Wenn mein Gegen­über darauf vertrauen kann, dass ich Nein sage, wenn ich etwas nicht will, kann es auch meinem Ja umso mehr Vertrauen schenken.

Dabei möchte ich nicht sagen, dass es die Haupt­ver­ant­wor­tung der Person ist, die etwas nicht möchte, Nein zu sagen. Sondern, dass es beim Konsens-Einholen eben auch um den Konsens mit sich selbst geht. Und das ist eine Aufgabe, die einem leider niemand abnehmen kann.

Wenn wir uns endlich darauf einigen, dass Konsens die Grund­lage für eine (sexu­elle) Hand­lung ist, kann eine Hand­lung in Abwe­sen­heit von Konsens nur Gewalt bedeuten.

Das Ganze tönt viel kompli­zierter, als es eigent­lich ist. Wir navi­gieren Konsens jeden einzelnen Tag, und wir sind meistens relativ gut darin. Wenn wir ein fremdes Haus betreten möchten, klin­geln und warten wir; wenn wir zusammen eine Pizza bestellen, einigen wir uns auf den Belag; wenn wir uns etwas ausleihen möchten, fragen wir zuerst die Eigen­tü­merin. Und wenn ein „Nein“ als Antwort kommt, hören wir auf oder suchen nach einer anderen Lösung.

Sobald es dann aber um Sex geht, haben wir das Gefühl, dass wir die Gedanken des Gegen­übers lesen können (oder müssen) und fragen darum gar nicht mehr nach. Das führt zu absurden Situa­tionen, Grenz­über­schrei­tungen und nicht zuletzt sexua­li­sierter Gewalt.

Sex im Patriarchat

Konsens ist ein zwei­schnei­diges Schwert. Einer­seits wird Konsens sehr positiv wahr­ge­nommen und auch verkauft; wir wollen das umsetzen, wir können das leben, nach­zu­fragen ist sexy, ein expli­zites Ja ist wichtig.

Ande­rer­seits spre­chen wir als Gesell­schaft erst seit wenigen Jahren darüber. Die Schweizer Politik debat­tiert immer noch, ob die Konsens­lö­sung ins Gesetz geschrieben werden soll oder ob „Nein heisst Nein“ nicht doch eigent­lich reicht. Spoiler: Tut’s nicht. Wenn wir uns dann aber endlich darauf einigen, dass Konsens die Grund­lage für eine (sexu­elle) Hand­lung ist – ja, sein muss –, kann eine Hand­lung in Abwe­sen­heit von Konsens nur Gewalt bedeuten. Und wie sollen wir als Gesell­schaft, aber auch als Indi­vi­duen mit diesem Fakt umgehen können?

Der erste Schritt ist, das gravie­rende Ausmass dieser Erkenntnis nicht zu leugnen, und es dann aber genauso wenig zu akzeptieren.

Habt ihr schon mal Sex initi­iert, obwohl ihr eigent­lich einfach gehalten werden wolltet?

Kim Posster hat in analyse & kritik zu dieser Doppel­deu­tig­keit eine sehr span­nende Frage gestellt: „Was also, wenn man davon ausgehen muss, dass Menschen und vor allem cisge­schlecht­liche Männer im Patri­ar­chat auch ‘wahre Bedürf­nisse’ entwickeln, die mit Konsens grund­sätz­lich unver­einbar sind?“

Ich kann diese Frage nicht beant­worten und möchte euch eigent­lich vor allem den zitierten Text ans Herz legen. Denn als Teil der privi­le­gierten und gewalt­aus­übenden Gruppe habt ihr, liebe Männer, eine Verant­wor­tung, euch intensiv mit diesem Thema ausein­an­der­zu­setzen.

In unserer Gesell­schaft werden weib­lich gele­sene Personen in Bezug auf Sex gene­rell als Objekte gesehen, die selbst kaum Lust empfinden, dafür aber dem Lust­ge­winn anderer dienen sollen. Dagegen kämpfen Feminist*innen schon seit Jahr­zehnten an. Gleich­zeitig werden auch Männer in Bezug auf Sex einge­grenzt. Es gibt zum einen das weit­ver­brei­tete Stereotyp, dass jeder Mann zu jeder Zeit Lust auf Sex hat. Das schürt falsche Erwar­tungen und baut bei besagten Männern einen riesigen Druck auf.

Zum anderen hat der ehema­lige The Daily Show-Host und Come­dian Trevor Noah die inter­es­sante These aufge­stellt, dass viele Männer nur über Sex wirk­lich Inti­mität erleben dürfen. Auch das hat mit Konsens zu tun. Habt ihr schon mal Sex initi­iert, obwohl ihr eigent­lich einfach gehalten werden wolltet?

Damit ihr Konsens navi­gieren könnt, müsst ihr euch selbst im Klaren darüber sein, was ihr wollt und braucht. Wenn ihr das kommu­ni­ziert, könnt ihr erst damit anfangen, eurem Gegen­über zuzuhören.

Und wie kommt ihr an diesen Punkt? Na, durch Üben natürlich.

Lohn­un­gleich­heit, unbe­zahlte Care-Arbeit, sexua­li­sierte Gewalt, aber auch der Kampf gegen toxi­sche Masku­li­nität, die Abschaf­fung der Wehr­pflicht und homo­so­ziale Gewalt sind femi­ni­sti­sche Themen – und werden als „Frau­en­sache“ abge­stem­pelt. Dadurch werden diese Themen einer­seits abge­wertet, ande­rer­seits die Verant­wor­tung für die Lösung dieser Probleme auf FINTA (Frauen, inter, non-binäre, trans und agender Personen) übertragen. 

Das ist nicht nur unlo­gisch, sondern auch unnütz: Die Ursache des Problems liegt nicht auf der Betroffenen‑, sondern auf der Täter­seite. Es sind eben Männer­sa­chen. Deshalb müssen Männer als Teil der privi­le­gierten Gruppe Verant­wor­tung über­nehmen und diese Probleme angehen.


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