Beim Sex genauso wie bei der Pizza

Im Sexu­al­kun­de­un­ter­richt geht es unter anderem um Geschlechts­or­gane, den Menstrua­ti­ons­zy­klus und Verhü­tung. Doch lernen Jugend­liche auch, was Konsens ist und wie sie ihn leben können? Eine Spuren­suche in der Zentralschweiz. 
"Nein-Sagen" ist im Sexualkundeunterricht öfter ein Thema als Konsens. (Illustration: Luca Mondgenast)

„Was ist mit Vulva gemeint?“ Die Frage leuchtet den Primarschüler*innen in blauer Schrift auf einem orangen Hinter­grund entgegen. Darunter die drei Antwort­mög­lich­keiten: „A) Das ist ein anderes Wort für Vagina. B) Das ist ein
anderes Wort für Scheide. C) Das beschreibt die äusseren (sicht­baren) Geschlechts­teile der Frau.“

Die Jugend­li­chen sitzen im Klas­sen­zimmer, in kleine Gruppen aufge­teilt. Sie tuscheln mitein­ander, plötz­lich schnellt eine Hand in die Höhe. „Antwort C“, sagt der Schüler. Die Sexu­al­päd­agogin nickt: „Das stimmt.“

Etwa so könnte es ablaufen, wenn Sexualpädagog*innen von der Fach­stelle S&X Sexu­elle Gesund­heit Zentral­schweiz den Sexu­al­kun­de­un­ter­richt beginnen. Gemäss dem Jahres­be­richt 2020 kreierte das Team nach dem Lock­down 2020 ein inter­ak­tives Online-Quiz, das mit der ganzen Klasse gespielt werden kann, während die Abstands­re­geln einge­halten werden. Da die Rück­mel­dungen durch­wegs positiv gewesen seien, ist das Quiz weiterhin im Einsatz.

Dieser Text erschien zuerst in einer gemein­samen Ausgabe von das Lamm und dem Kultur­ma­gazin 041.

Neben Geschlechts­or­ganen, Menstrua­tion, Schwan­ger­schaft, sexuell über­trag­baren Krank­heiten und Verhü­tung gehören auch zwischen­mensch­liche Themen wie Freund­schaft, Liebe, Bezie­hungen und „das erste Mal“ zum Sexu­al­kun­de­un­ter­richt. Erste sexu­elle Erfah­rungen zu machen, ist span­nend und die Betei­ligten sind meistens aufge­regt. Umso wich­tiger ist es, dass alles konsen­suell geschieht. Inmitten der Revi­sion des Sexu­al­straf­rechts, wo über die Nur-Ja-heisst-Ja-Lösung debat­tiert wird, stellt sich die Frage: Wird Konsens im Sexu­al­kun­de­un­ter­richt über­haupt thematisiert?

Nach Gesprä­chen mit Jugend­li­chen, Schulrektor*innen und Sexualpädagog*innen wird klar: Nicht unbe­dingt. Die Unter­schiede zwischen einzelnen Schulen oder gar Klassen sind gross.

Geburt statt Konsens

„Wir haben viel über Verhü­tung und Geburt gespro­chen“, erin­nert sich Jana Kauf­mann. Die 16-Jährige hat vor kurzem die Sekun­dar­schule in Luzern abge­schlossen und erzählt vom Sexu­al­kun­de­un­ter­richt in der zweiten Klasse. Zwei Sexualpädagog*innen hätten einen Vormittag mit der Klasse verbracht. „Ich fand gut, dass es externe Personen waren“, so Jana. Mit der Lehr­person, die einen sowieso immer unter­richte, sei so ein Thema schwie­riger zu besprechen.

„Ich fand gut, dass es externe Personen waren.“

Jana Kauf­mann, Schülerin

Ob sie wisse, was Konsens sei? Das Wort an sich versteht sie nicht, das Konzept schon eher. Dass alle Betei­ligten zu einer sexu­ellen Hand­lung einwil­ligen sollen, damit es konsen­suell ist, findet sie logisch. Im Unter­richt hiess es, „man solle klar ‚Nein‘ sagen, wenn man etwas nicht wolle“, so die Jugend­liche. „Aber spezi­fisch thema­ti­siert wurde das anson­sten nicht.“

Welche Themen werden denn norma­ler­weise im Sexu­al­kun­de­un­ter­richt behan­delt? „Wir spre­chen gene­rell die Themen Körper, Liebe, Bezie­hung, Sexua­lität und Verhü­tung an“, antwortet Samuel Wespi. Er ist seit einein­halb Jahren als Sexu­al­päd­agoge bei der Fach­stelle S&X tätig. Das Angebot von S&X inklu­diert Schul­be­suche, bei denen eine Sexu­al­päd­agogin und ein Sexu­al­päd­agoge eine Klasse besu­chen und drei Lektionen mit ihnen arbeiten. Dies ist gemäss ihrer Webseite als Ergän­zung zur schu­li­schen Sexu­al­erzie­hung gedacht.

Der Unter­richt gestalte sich immer ähnlich, so Wespi, ausser wenn Lehr­per­sonen spezi­fi­sche Wünsche anbringen – was selten passiere. Der erste Teil des Unter­richts basiere auf dem Online-Quiz, der zweite Teil werde den Fragen der Schüler*innen gewidmet.

Konsen­su­elles Tee-Trinken

Das Thema Konsens wird in einer Quiz-Frage behan­delt: „Zwei Jugend­liche wollen zum ersten Mal mitein­ander knut­schen. Wie merken sie, ob die andere Person damit einver­standen ist, was sie während des Küssens machen wollen?“

Die rich­tige Antwort: Die Körper­sprache der Person beachten und bei Unsi­cher­heit nach­fragen. Nach der Diskus­sion der Frage gingen die Sexualpädagog*innen näher auf das Thema ein, so Wespi. „Wir erklären zum Beispiel, dass dies für alle sexu­ellen Hand­lungen gilt und dass vor sowie während der Hand­lungen gefragt werden kann, ob sie in Ordnung sind.“ Sie würden auch darüber reden, wieso es schwierig sein kann, „Nein“ zu sagen.

Ergän­zend dazu zeigen die Sexualpädagog*innen laut Wespi auch gerne ein Youtube-Video, das Konsens anhand einer Meta­pher über Tee-Trinken erklärt: Eine Off-Stimme erzählt von verschie­denen Situa­tionen, während Zeich­nungen das Gesagte visua­li­sieren. Während das Quiz von der Zeit her nie ganz fertig­ge­spielt werden könne, sei das Tee-Video seit Ostern 2022 fester Bestand­teil ihres Unter­richts und werde immer gezeigt. Dies sei an einer Sitzung beschlossen worden, da die einzelnen Sexualpädagog*innen dies vorher unter­schied­lich gehand­habt hätten.

Nein sagen

Was im Unter­richt in welchem Umfang behan­delt werden soll, legt für Volks­schulen der Lehr­plan 21 fest. Der Lehr­plan 21 wurde 2014 einge­führt, um die Ziele der Volks­schulen in der Deutsch­schweiz zu verein­heit­li­chen, dennoch hat jeder Kanton seine eigene Version. Wer im Luzerner Lehr­plan nach dem Fach Sexu­al­päd­agogik sucht, wird enttäuscht. Aspekte der Sexu­al­kunde sind jedoch in den Fach­be­rei­chen „Lebens­kunde“, „Natur und Technik“ und „Natur, Mensch, Gesell­schaft“ zu finden.

Konsens wird nicht wört­lich erwähnt, sondern höch­stens ange­deutet. Ein Lern­ziel fordert: Schüler*innen „kennen ihre Rechte im Umgang mit Sexua­lität und respek­tieren die Rechte anderer“.

Ein anderes nennt das „Nein-Sagen“. Eine Lehr­person, die das Lern­ziel sehr wört­lich liest, bringt den Schüler*innen bei, Nein zu sagen – eine nütz­liche Fähig­keit, die bewie­se­ner­massen aber keine sexu­ellen Über­griffe verhin­dert. Eine andere Lehr­person, die dem Sexu­al­kun­de­un­ter­richt etwas mehr Gewicht gibt, lädt viel­leicht zwei Sexualpädagog*innen von S&X ein. Diese spre­chen wiederum über Konsens.

Schulen und zum Teil sogar einzelne Lehr­per­sonen sind frei in ihrem Entscheid, ob sie externe Fach­per­sonen für den Sexu­al­kun­de­un­ter­richt beiziehen oder nicht. Das bestä­tigt Vreni Völkle, Rektorin der Luzerner Volksschule.

Wenn sich eine Schule dafür entscheidet, kann es jedoch sein, dass gar keine externen Fach­per­sonen verfügbar sind. Laut Samuel Wespi müsse S&X auf Anfragen von Schulen immer wieder absagen, da sie die Nach­frage nicht decken können. Rele­vant ist dies insbe­son­dere, da eine Studie der Hoch­schule Luzern (HSLU) schon 2018 zum Schluss kam, dass externe Fach­per­sonen für den Sexu­al­kun­de­un­ter­richt beson­ders geeignet sind.

Das Bildungs- und Kultur­de­par­te­ment des Kantons Luzern unter­stützt zwar die Sexu­al­päd­agogik der Fach­stelle S&X mit 215 000 Franken pro Jahr. Doch dieser Betrag wurde seit minde­stens 2015 nicht verän­dert – obgleich die hohe Nach­frage nach Fach­per­sonen und die Studi­en­ergeb­nisse für eine Erhö­hung sprächen.

Kantons­schulen machen’s selbst

Während Primar- und Sekun­dar­schulen mit dem Lehr­plan 21 zumin­dest inner­halb desselben Kantons dieselben Vorgaben haben, haben Kantons­schulen ihre eigenen Lehr­pläne. Die grösste Luzerner Kantons­schule Alpen­quai ziehe „in der Regel keine externen Fach­per­sonen bei“, schreibt Rektor Hans Hirschi auf Anfrage. Sie gingen davon aus, dass lehr­plan­ge­bun­dene Inhalte von den zustän­digen Lehr­per­sonen vermit­telt werden können.

Ähnlich klingt es bei der Kantons­schule Willisau: „Im Fach Biologie haben wir die Exper­tinnen und Experten im Haus“, so Rektor Martin Bisig. Den Inhalt und die Qualität des Unter­richts zu kontrol­lieren, ist derweil in beiden Kantons­schulen Aufgabe der Schul­lei­tung – welche wohl kaum ihre eigenen Lehr­per­sonen an den Pranger stellen würde.

„Meinem Biolehrer würde ich solche persön­li­chen Fragen gar nicht stellen wollen.“

Lisa Pichler, Schülerin

Eine Schü­lerin, die kürz­lich ihren Sexu­al­kun­de­un­ter­richt bei ihrem Biolo­gie­lehrer hatte, ist Lisa Pichler*. Die 14-Jährige listet die Themen des Unter­richts auf: „Geschlechts­or­gane, Menstrua­tion, Verhü­tung, Aufbau von Sper­mien und Eizellen, Befruch­tung, Entwick­lung eines Embryos, Geburt.“ Zwischen­mensch­li­ches wie Bezie­hungen oder „das erste Mal“ sei nicht so Thema gewesen, das hätte sie aber damals in der sech­sten Klasse schon gehabt. „Meinem Biolehrer würde ich solche persön­li­chen Fragen gar nicht stellen wollen“, so Lisa.

War Konsens ein Thema? „Er meinte, es müssen sicher beide einver­standen sein“, erzählt die Jugend­liche. Das habe er ein paar Mal erwähnt, mehr nicht.

Während Lehr­per­sonen wohl tatsäch­lich als Expert*innen in ihrem Fach gelten dürften, ist Sexu­al­kunde aktuell weder ein eigenes Schul­fach, noch fällt es per se in die Exper­tise der Biolo­gie­lehr­person. Doch auch eine perfekt vorbe­rei­tete Lehr­person kann nicht die nötige Anony­mität gewähr­lei­sten, die Schüler*innen bei diesem intimen Thema verständ­li­cher­weise vorziehen.

Konsens passiert jeden Tag

Die Varia­blen, die einen Einfluss auf den Sexu­al­kun­de­un­ter­richt haben, sind viel­fältig: Verfüg­bar­keit von externen Fach­per­sonen, finan­zi­elle Mittel, Zeit­druck, Inter­pre­ta­tion des Lehr­plans, Vorgaben der Schulleitung.

„Der Punkt ist: Es steht und fällt mit der Lehr­person“, erklärt Linda Bär, Fach­person sexu­elle Gesund­heit in Bildung und Bera­tung. Einfluss darauf hätten zum Beispiel pädago­gi­sche Hoch­schulen, die Lehr­per­sonen ausbilden. Bär ist selbst als Dozentin an der Pädago­gi­schen Hoch­schule Zürich tätig und arbeitet als Sexu­al­päd­agogin und Bera­terin bei der Zürcher Fach­stelle für Sexu­al­päd­agogik und Bera­tung Lust & Frust.

Wenn Bär als Sexu­al­päd­agogin drei Lektionen mit einer Klasse zusammen verbringe, spreche sie „natür­lich“ über Konsens und erläu­tere Methoden dazu – doch das reiche nicht weit. „Konsens passiert jeden Tag“, so Bär, und betreffe nicht nur die Sexualität.

Ein Beispiel, das Bär gerne bringt, ist die Pizza. Wenn man mit jemandem zusammen Pizza essen gehe, spreche man zuerst darüber, welchen Belag man gerne hätte und welchen auf keinen Fall. Viel­leicht einige man sich darauf, etwas Neues auszu­pro­bieren. Nach dem Essen spreche man zusammen darüber, wie die Pizza war und ob man das nächste Mal etwas anders machen möchte.

„Wir haben das Gefühl, dass Sex etwas Natür­li­ches sei, das wir einfach können.“

Linda Bär, Fach­person sexu­elle Gesund­heit in Bildung und Beratung

Eigent­lich seien wir sehr gut darin, zu merken, ob jemand sein Einver­ständnis gibt oder nicht, sagt Bär. Doch was bei der Pizza für viele logisch scheint, fällt bei der sexu­ellen Begeg­nung plötz­lich weg. „Wir haben das Gefühl, dass Sex etwas Natür­li­ches sei, das wir einfach können“, erklärt Bär. Doch dem sei nicht so. „Konsens beim Sex kann sich am Anfang komisch und fremd anfühlen, doch das kann man üben.“

Die Fach­person ist sich sicher: „Wenn du Konsens im Alltag umsetzen kannst, kannst du es eher in der Sexua­lität. Und darum musst du von dem Moment an, wo du anderen Menschen begeg­nest, Konsens lernen.“

Linda Bär beginne ihren Sexu­al­kun­de­un­ter­richt meistens damit, die Schüler*innen zu fragen, wie sie heute da seien: müde, moti­viert, neugierig, ängst­lich? „Das ist auch schon Konsens – Gefühle wahr­nehmen, benennen und uns inein­ander einfühlen.“

Was sinn­voll tönt, ist offen­sicht­lich für die Wenig­sten Realität. Dass Konsens einem Kind zu Hause, im Kinder­garten und in der Schule aktiv vorge­lebt wird, ist nicht garan­tiert. Nicht einmal der Lehr­plan 21, der immerhin den Unter­richt ab dem Kinder­garten bis und mit der Sekun­dar­schule in der Deutsch­schweiz verein­heit­li­chen sollte, sieht Konsens im Sexu­al­kun­de­un­ter­richt vor, geschweige denn im Unter­richt überhaupt.

Was Konsens in der Sexua­lität, aber auch im Allge­meinen betrifft, fehlt das gesamt­ge­sell­schaft­liche Wissen und somit auch die Umset­zung. Während femi­ni­sti­sche Stimmen dafür kämpfen, dass die Konsens-Lösung ins Gesetz geschrieben wird, muss das Konzept Nur-Ja-heisst-Ja auch wirk­lich in der Gesell­schaft ankommen. Das geschieht nur durch Bildung – doch dort gras­siert momentan die Willkür.

*Name von der Redak­tion geändert.


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