„Die Jugend wird an Jugendlichen verschwendet.“ So lautet ein berühmtes Zitat des englischen Autors George Bernard Shaw, welcher sich darüber beklagt, dass eine so wunderbare Zeit im Leben an so unerfahrenen Menschen verschwendet wird.
Shaw träumt davon, mit den gemachten Lebenserfahrungen wieder in den eigenen jungen und gesunden Körper hineinzuschlüpfen und dann das Ganze nochmals anzufangen. Was man dabei überspringen könnte? Das unerträglich lähmende Gefühl, nicht zu wissen, was zum Teufel man gerade macht (und in den nächsten 50 Jahren machen will).
Wenn diese Kolumne veröffentlicht wird, sind es nur noch fünf Wochen bis zu meinen Maturprüfungen. Vier Wochen später und das Maturzeugnis – und somit die Eintrittskarte für die Zukunft – liegt in meiner Hand.
„Freu dich doch! Du hast so lange auf das gewartet!“
Klimahysterisch und radikal oder unverantwortlich und faul: Es wird viel an jungen Menschen rumgenörgelt. Schlimmer als die Kritik ist aber ihre fehlende Repräsentation in der Öffentlichkeit. Während sich alle Welt über Anliegen der Jugend äussert, finden diese selbst nur in sozialen Netzwerken eine Plattform. Das ändert nun die Kolumne „Jung und dumm“.
Helena Quarck ist 19 Jahre alt und Schülerin. Sie ist als Siebenjährige aus Brasilien in die Schweiz gezogen und musste Deutsch lernen. Diese Beschäftigung mit Sprache hat sie zum Schreiben gebracht. Helena ist Redaktorin des Jugendmagazins Quint.
Natürlich freue ich mich. Etwa darauf, nie wieder morgens im Sportunterricht den Zwölf-Minuten-Lauf rennen zu müssen. Der Zwölf-Minuten-Lauf stellt das Gymnasium exemplarisch wunderbar dar. Die ersten drei Minuten sind toll. Man rennt vorne mit und hat das Ganze noch im Griff. In den nächsten fünf Minuten wird es schwieriger: Das Atmen ist nicht mehr selbstverständlich, es ist heiss und die Schnellsten sind immer weiter weg. Der Kampfgeist ist aber noch da: „Bloss nicht anhalten!“
Die letzten Minuten sind grauenhaft. Wenn man zusätzlich blöd ist, kommt man möglicherweise auf die Idee, nur kurz anzuhalten und zu gehen. Nur kurz? Dumm. Danach wieder loszurennen, braucht nämlich eine Willensstärke, die niemand mehr aufbringen kann.
Und dann kommt die allerletzte Minute, in welcher ich mich befinde. Die Lehrperson schreit: „Endspurt! Nur noch 40 Sekunden.“ Man zieht in Erwägung zu sprinten, man will es sogar! Aber das Sprinten sieht dann eher aus wie „Speedwalking“. Das Maturjahr ist für mich die letzte Minute: Ich setze einen Fuss vor den anderen, hoffe, mit meiner versagenden Lunge bei keine*r meiner Mitschüler*innen aufzufallen und warte einfach auf das Pfeifen der Lehrperson. Zwölf Minuten sind vorbei. Und jetzt?
Das ist die grosse Preisfrage für meine Mitschüler*innen und mich: Was passiert, nachdem das Ganze vorbei ist? Wie geht es dann weiter? Während des Laufs war immerhin klar, was zu tun ist. Und plötzlich ist man damit konfrontiert, dass man nun in alle Richtungen laufen könnte. Ich muss dabei an Shaw denken und wie gerne ich an dieser Stelle mein älteres Ich fragen würde, wie ich sicherstellen könnte, dass meine Jugend nicht an mir verschwendet wird.
Jung zu sein bedeutet: Viel Energie haben, mit Vorfreude in die Zukunft blicken und furchtlos sein. Das erzählte mir mein Grossvater zumindest immer nostalgisch von seiner Jugend. Ich hörte immer voller Begeisterung zu: Er konnte so gut leben! Dabei bewunderte ich nicht, wie gut sein Leben war. Ich bewunderte ihn viel mehr für seine Gabe, sein Leben so schön gestalten zu können. Am Ende solcher Gespräche meinte er immer zu mir, ich sollte meine Jugend bedingungslos geniessen. Ich sollte so richtig leben!
Dabei musste ich doch zuerst lernen zu leben. Wie sollte ich gleichzeitig auch noch herausfinden, wie richtig leben geht? Junge Menschen vor grossen Entscheidungen machen sich oft Sorgen, eine Fehlentscheidung zu fällen und so die goldenen Jahre ihrer Jugend zu verschwenden. Genauso wie es Shaw ihnen vorwirft. Was aber Shaw und die ältere Generation vergessen, ist, dass die Zeit der Jugend vor allem aus Verwirrung, Ruhelosigkeit und aus Zeitverschwendung besteht. Und dass das normal und sogar gut ist.
Ich suche oft eine überzeugende Antwort auf die Frage: „Was willst du nach der Schule machen?“ Dann erzähle ich von meinen Reiseplänen, von der Praktikumssuche und davon, warum ein Zwischenjahr für mich auch wirklich sinnvoll ist. „Ich werde nicht einfach chillen, versprochen!“, scheine ich allen klarmachen zu wollen. Auch erwische ich mich dabei, eine solche Erklärung von meinen Mitschüler*innen zu erwarten. Genau wie ich sind sie sich daran gewöhnt, eine Erklärung für ihre Entscheidungen zu liefern. Keine*r will das Stereotyp der faulen Jugend bestätigen.
Glück wird oft als etwas gesehen, das sich Menschen aneignen können, indem sie hart arbeiten und ihren Träumen nachgehen. Das schreibt etwa die Soziologin Eva Illouz in ihrem Buch „Das Glücksdiktat“: „Die persönliche Situation eines Menschen wird nicht mehr als Folge struktureller Prozesse gesehen, sondern vielmehr als individueller Verdienst.“ Die Idee, dass man jeder Zeit aufstehen und sein Leben in die Hand nehmen könnte und dass der Weg ab dann unmittelbar zu Glück führen würde, sei gesellschaftlich stark verankert, so Illouz. Die Popularität des „American Dreams“ entstamme dieser Denkweise.
So werden gerade junge Menschen unter Druck gesetzt. Die Angst davor, sein volles Glückspotenzial nicht auszuschöpfen, hat eine gesamte Industrie erzeugt. Tausende Bücher, Podcasts und Gurus sollen einem beim Streben nach Glück helfen.
Ganz schön geschickt: Wer will denn nicht sorglos und glücklich sein? Vor allem in einer Generation, welche mit den sozialen Medien aufgewachsen ist. Auf Instagram werden schliesslich bloss die schönsten Bilder gepostet und nur die besten Momente festgehalten. Das erhöht den Druck zusätzlich. Es geht nicht mehr nur darum, glücklich zu sein, sondern das auch online zu zeigen.
Ich habe Pläne, Ambitionen und Leidenschaften, denen ich nachgehen will. Mitten in dieser Verfolgungsjagd meiner „Träume“ schleicht sich folgender Gedanke in meinen Kopf: „Was, wenn ich mir nur einbilde, dass ich dies oder jenes will?“
Egal wie viel eine Person vorhat und wie viel sie plant, nur die wenigsten von uns sind sich ihrer Entscheidungen immer sicher. Jung zu sein bedeutet nicht nur, diese wertvolle Zeit in vollen Zügen zu geniessen, sondern auch, überhaupt nicht zu wissen, wie man das anstellen soll.
Es ist nicht schlimm, wenn du in deinem Zwischenjahr keine wilde Backpacking-Reise durch Asien planst, weil du sowieso nicht mehr als zwei Wochen weg von deiner Familie sein kannst. Oder wenn du nächstes Jahr ein Studium anfängst, ohne zu wissen, ob es das richtige für dich ist. Es ist auch ok, wenn du noch gar nicht weisst, was du nächstes Jahr machen willst. Nichts geht an misslungenen Erfahrungen verloren.
Die Jugend wird nicht an Jugendlichen verschwendet. Zeitverschwendung kann nur entstehen, wenn man sich dafür schämt, verwirrt und verloren zu sein. Und beim Zwölf-Minuten-Lauf: die einzige wirkliche Zeitverschwendung in deiner Jugend.
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