Macht mal Platz!

Gemeinden sollen bei der Gestal­tung des öffent­li­chen Raumes mehr auf junge Stimmen hören, fordert unsere Kolum­ni­stin. Jugend­liche wollen vor allem eins: So leben, wie man ist, ohne perma­nent als Stör­faktor wahr­ge­nommen zu werden. 
Viele Jugendzentren verlieren unter jungen Menschen an Beliebtheit, meint Helena Quarck. (Foto: Jeremy Thomas / Unsplash)

Ich kann mich nicht mehr an den genauen Moment erin­nern, in dem ich reali­sierte, dass meine Präsenz auf einem Spiel­platz nicht mehr normal und alltäg­lich ist, sondern komisch und ein biss­chen creepy.

Wann war das letzte Mal, als ich in dieser grossen runden Schaukel sass? Meine Freund*innen schwangen darin immer hoch und schnell, sodass ich hätte schwören können, dass ich heraus­fallen würde. Einmal bin ich tatsäch­lich raus­ge­flogen – das prägt.

Es gibt Orte, die gewisse Lebens­ab­schnitte beson­ders ausma­chen. In meiner Kind­heit war das der Dorf­spiel­platz, die Badi und natür­lich auch die Schule. Im Moment ist es mein lieb­stes Café in Basel. Dort sitze ich oft und lese, lerne oder bin einfach da. Oder der Steg, von dem ich im Sommer immer in den Rhein springe. Und: Noch immer ist es die Schule. Zwischen der dama­ligen Spiel­platz-Zeit und der heutigen Café-Zeit besteht jedoch ein Vakuum.

Einst vom Spiel­platz verwiesen, war meinen Freund*innen und mir wenig Platz gegeben, um uns auszu­leben. Natür­lich hatten wir die Schule und im Sommer die Badi in unserem Dorf, aber diese Orte erfüllen alle einen gewissen Zweck. 

In die Schule geht man, um zu lernen; in die Badi, um zu schwimmen. Wollten wir aber irgendwo einfach „sein“ und uns austau­schen, standen wir vor einem Platz­pro­blem. Vor allem im Winter, in dem es auch auf dem Pausen­platz der Schule zu kalt war, um sich dort aufzu­halten. Wir hatten nirgends wirk­lich Platz.

Der öffent­liche Raum ist eine Begeg­nungs­zone für Gene­ra­tionen, Gesell­schafts­gruppen und Kulturen. Öffent­liche Biblio­theken, Pärke oder Grün­flä­chen können zu diesem Raum gezählt werden. Sie gehören der jewei­ligen Gemeinde und werden somit auf kommu­naler Ebene gestaltet und entwickelt – meist von Erwachsenen. 

Die damals bekannten Jugend­zen­tren sind heute – zumin­dest meiner Erfah­rung nach – nicht mehr beliebt unter jungen Menschen. 

Dabei ist es beson­ders wichtig, allen Gesell­schafts­gruppen Zugang zu diesen Frei­räumen zu gewähren. Das bedeutet beispiels­weise, dass man schaut, dass Kinder sich auf sicheren Spiel­plätzen austoben können. Oder dass ältere Menschen und solche mit körper­li­cher Einschrän­kung sich möglichst reibungslos am Alltag betei­ligen können. Alles unglaub­lich wichtig.

Was aber oft vergessen wird: den Jugend­li­chen Raum zu geben.

Ein kurzer Blick in die Schweizer Geschichte zeigt, dass das schon immer vergessen ging. In Zürich kämpften junge Menschen in den 60er- und 80er-Jahren im Globus- und Opern­haus­kra­wall unter anderem für ein auto­nomes Jugend­zen­trum, in Basel um die Alte Stadt­gärt­nerei und in Bern um die Reitschule. 

Das sind alles öffent­liche Räume, die junge Menschen für sich in Anspruch nehmen wollten. Natür­lich ging es bei diesen Prote­sten um viel mehr als bloss das Gefühl, keinen Platz im öffent­li­chen Raum zu haben. Es ging auch um Poli­zei­ge­walt, poli­ti­sche Teil­habe und Demo­kratie. Dennoch: Das Gefühl, nirgends Platz zu haben, war sehr präsent.

Seither hat sich viel verän­dert. Die damals bekannten Jugend­zen­tren sind heute – zumin­dest meiner Erfah­rung nach – nicht mehr beliebt unter jungen Menschen. In meinem Dorf gab es während meiner Kind­heit und Jugend nur christ­liche Jugis, in denen ich und die meisten meiner Freund*innen uns weder will­kommen noch wohl fühlten. 

Nie sprach jemand davon, in eine Jugi zu gehen, um dort zu chillen. Eine Studie von 2012, die die Bedeu­tung des öffent­li­chen Raums für Jugend­liche unter­suchte, zeigte schon damals, dass der öffent­liche Raum für Jugend­liche speziell wichtig ist, denn er hat wich­tige Beson­der­heiten: wenig Kontrolle, Über­wa­chung und Sanktionsstruktur. 

Kontrolle und Strafen erlebt man schon zu Hause und in der Schule zu genüge. Ich glaube, das ist das Problem der Jugi. Man wird dort auch beob­achtet und gewarnt, wenn man einmal zu laut war. Nicht umsonst kämpfte man in Zürich um ein auto­nomes Jugend­zen­trum.

Abge­sehen von poli­ti­schen Bewe­gungen und halb leeren Jugend­zen­tren bietet der öffent­liche Raum kaum Platz für Jugendliche.

Inzwi­schen gibt es aber einzelne Jugend­zen­tren, die wieder an Beliebt­heit gewinnen. Ein Beispiel dafür ist das treff.LGBT+ in Buchs und Chur. Sie orga­ni­sieren Bera­tungen für queere junge Menschen, haben abends geöffnet und werben viel auf Insta­gram, um ihr Angebot ersicht­lich zu machen. Diesem Jugend­zen­trum in Chur droht jedoch die Schlies­sung. Genü­gende finan­zi­elle Mittel hätten sie im Moment nicht, machen sie in einem Leser*innenbrief bekannt.

Dort, wo junge Menschen einen Zufluchtsort finden ­– ähnlich wie bei der Jugend­be­we­gung der 80er-Jahre – stehen meist poli­ti­sche Orga­ni­sa­tionen dahinter. 

Ananda Klaar, junge Klima­ak­ti­vi­stin und Autorin, schreibt in ihrem Buch „Nehmt uns endlich ernst!“ über ihre Erfah­rung: „Ich persön­lich habe für einige Zeit soziale Zuflucht bei einer zwar poli­ti­schen, aber nicht partei­li­chen Bewe­gung gefunden: Fridays for Future.“

Klaar erklärt, dass sie in dieser Bewe­gung Freund*innenschaften schloss und ihr gleich­zeitig Räume zur Verfü­gung gestellt wurden. Von Schulen, Büros und Vereinen. So kam sie auch in Kontakt mit anderen Gene­ra­tionen und konnte sich austau­schen. „Wir Jugend­li­chen haben den Wunsch nach neuen Orten, die sowohl unge­stört, aber auch einla­dend sind“, fasst sie zusammen.

Abge­sehen von poli­ti­schen Bewe­gungen und halb leeren Jugend­zen­tren bietet der öffent­liche Raum kaum Platz für Jugend­liche. Beson­ders für jene – meist jüngere, die über keine finan­zi­ellen Mittel verfügen, um jeden zweiten Tag in ein Café zu sitzen oder in die Badi zu gehen. 

Junge Menschen sind alle unter­schied­lich. Dennoch teilen die meisten von ihnen ein Bedürfnis: zu leben, wie man ist, ohne dass man von allen anderen Gesell­schafts­gruppen als Störung wahr­ge­nommen wird. 

Oft müssen sie sich an anderen Orten treffen: am Bahnhof, in Pärken (auch im Winter) oder auf der Strasse. Jugend­liche sind oft laut und etwas unver­schämt, testen gerne ihre Grenzen. Viele Ältere stört dieses Verhalten, dabei waren auch sie selbst einmal jung und laut.

Junge Menschen sind alle unter­schied­lich. Dennoch teilen die meisten von ihnen ein Bedürfnis: zu leben, wie man ist, ohne dass man von allen anderen Gesell­schafts­gruppen als Störung wahr­ge­nommen wird. Es muss ihnen endlich mehr Platz geschaffen werden, damit dieses Bedürfnis erfüllt werden kann.

Platz brau­chen die 14-Jährigen, vor denen man mit 19 immer noch ein biss­chen Angst hat. Jene, denen man oft an will­kür­li­chen Orten begegnet, immer mit einer Musikbox ausge­stattet und laut mitein­ander lachend. Oft sieht man dabei besorgte Blicke von Müttern, die ihre Kinder vor Schreck einsam­meln und Omis nebenan, die die Polizei auf Speed-Dial haben.

Aber es geht auch um die 13-Jährige, die ein lautes Zuhause hat und sich bloss eine ruhige Ecke zum Lesen, Lernen und für Haus­auf­gaben wünscht. Ihr müssen wir Platz machen. Den Jugend­li­chen, die etwas viel Energie in sich tragen, und diese am lieb­sten herum­ren­nend mit irgend­einer Sorte Ball loskriegen. Sie müssen genug Möglich­keiten dafür erhalten.

Auch müssen wir uns über­legen, wie wir diese Räume gestalten. Welche Bedürf­nisse haben junge Menschen und wie verkör­pern wir diese in Jugend­zen­tren? In Biblio­theken? In Pärken?  Diese Fragen können Jugend­liche meisten selbst am besten beantworten.

Deshalb müssen Gemeinden mit ihren Kindern und Jugend­li­chen spre­chen – und ihnen noch genauer zuhören.


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