Ich kann mich nicht mehr an den genauen Moment erinnern, in dem ich realisierte, dass meine Präsenz auf einem Spielplatz nicht mehr normal und alltäglich ist, sondern komisch und ein bisschen creepy.
Wann war das letzte Mal, als ich in dieser grossen runden Schaukel sass? Meine Freund*innen schwangen darin immer hoch und schnell, sodass ich hätte schwören können, dass ich herausfallen würde. Einmal bin ich tatsächlich rausgeflogen – das prägt.
Es gibt Orte, die gewisse Lebensabschnitte besonders ausmachen. In meiner Kindheit war das der Dorfspielplatz, die Badi und natürlich auch die Schule. Im Moment ist es mein liebstes Café in Basel. Dort sitze ich oft und lese, lerne oder bin einfach da. Oder der Steg, von dem ich im Sommer immer in den Rhein springe. Und: Noch immer ist es die Schule. Zwischen der damaligen Spielplatz-Zeit und der heutigen Café-Zeit besteht jedoch ein Vakuum.
Einst vom Spielplatz verwiesen, war meinen Freund*innen und mir wenig Platz gegeben, um uns auszuleben. Natürlich hatten wir die Schule und im Sommer die Badi in unserem Dorf, aber diese Orte erfüllen alle einen gewissen Zweck.
In die Schule geht man, um zu lernen; in die Badi, um zu schwimmen. Wollten wir aber irgendwo einfach „sein“ und uns austauschen, standen wir vor einem Platzproblem. Vor allem im Winter, in dem es auch auf dem Pausenplatz der Schule zu kalt war, um sich dort aufzuhalten. Wir hatten nirgends wirklich Platz.
Der öffentliche Raum ist eine Begegnungszone für Generationen, Gesellschaftsgruppen und Kulturen. Öffentliche Bibliotheken, Pärke oder Grünflächen können zu diesem Raum gezählt werden. Sie gehören der jeweiligen Gemeinde und werden somit auf kommunaler Ebene gestaltet und entwickelt – meist von Erwachsenen.
Dabei ist es besonders wichtig, allen Gesellschaftsgruppen Zugang zu diesen Freiräumen zu gewähren. Das bedeutet beispielsweise, dass man schaut, dass Kinder sich auf sicheren Spielplätzen austoben können. Oder dass ältere Menschen und solche mit körperlicher Einschränkung sich möglichst reibungslos am Alltag beteiligen können. Alles unglaublich wichtig.
Was aber oft vergessen wird: den Jugendlichen Raum zu geben.
Ein kurzer Blick in die Schweizer Geschichte zeigt, dass das schon immer vergessen ging. In Zürich kämpften junge Menschen in den 60er- und 80er-Jahren im Globus- und Opernhauskrawall unter anderem für ein autonomes Jugendzentrum, in Basel um die Alte Stadtgärtnerei und in Bern um die Reitschule.
Das sind alles öffentliche Räume, die junge Menschen für sich in Anspruch nehmen wollten. Natürlich ging es bei diesen Protesten um viel mehr als bloss das Gefühl, keinen Platz im öffentlichen Raum zu haben. Es ging auch um Polizeigewalt, politische Teilhabe und Demokratie. Dennoch: Das Gefühl, nirgends Platz zu haben, war sehr präsent.
Seither hat sich viel verändert. Die damals bekannten Jugendzentren sind heute – zumindest meiner Erfahrung nach – nicht mehr beliebt unter jungen Menschen. In meinem Dorf gab es während meiner Kindheit und Jugend nur christliche Jugis, in denen ich und die meisten meiner Freund*innen uns weder willkommen noch wohl fühlten.
Nie sprach jemand davon, in eine Jugi zu gehen, um dort zu chillen. Eine Studie von 2012, die die Bedeutung des öffentlichen Raums für Jugendliche untersuchte, zeigte schon damals, dass der öffentliche Raum für Jugendliche speziell wichtig ist, denn er hat wichtige Besonderheiten: wenig Kontrolle, Überwachung und Sanktionsstruktur.
Kontrolle und Strafen erlebt man schon zu Hause und in der Schule zu genüge. Ich glaube, das ist das Problem der Jugi. Man wird dort auch beobachtet und gewarnt, wenn man einmal zu laut war. Nicht umsonst kämpfte man in Zürich um ein autonomes Jugendzentrum.
Inzwischen gibt es aber einzelne Jugendzentren, die wieder an Beliebtheit gewinnen. Ein Beispiel dafür ist das treff.LGBT+ in Buchs und Chur. Sie organisieren Beratungen für queere junge Menschen, haben abends geöffnet und werben viel auf Instagram, um ihr Angebot ersichtlich zu machen. Diesem Jugendzentrum in Chur droht jedoch die Schliessung. Genügende finanzielle Mittel hätten sie im Moment nicht, machen sie in einem Leser*innenbrief bekannt.
Dort, wo junge Menschen einen Zufluchtsort finden – ähnlich wie bei der Jugendbewegung der 80er-Jahre – stehen meist politische Organisationen dahinter.
Ananda Klaar, junge Klimaaktivistin und Autorin, schreibt in ihrem Buch „Nehmt uns endlich ernst!“ über ihre Erfahrung: „Ich persönlich habe für einige Zeit soziale Zuflucht bei einer zwar politischen, aber nicht parteilichen Bewegung gefunden: Fridays for Future.“
Klaar erklärt, dass sie in dieser Bewegung Freund*innenschaften schloss und ihr gleichzeitig Räume zur Verfügung gestellt wurden. Von Schulen, Büros und Vereinen. So kam sie auch in Kontakt mit anderen Generationen und konnte sich austauschen. „Wir Jugendlichen haben den Wunsch nach neuen Orten, die sowohl ungestört, aber auch einladend sind“, fasst sie zusammen.
Abgesehen von politischen Bewegungen und halb leeren Jugendzentren bietet der öffentliche Raum kaum Platz für Jugendliche. Besonders für jene – meist jüngere, die über keine finanziellen Mittel verfügen, um jeden zweiten Tag in ein Café zu sitzen oder in die Badi zu gehen.
Oft müssen sie sich an anderen Orten treffen: am Bahnhof, in Pärken (auch im Winter) oder auf der Strasse. Jugendliche sind oft laut und etwas unverschämt, testen gerne ihre Grenzen. Viele Ältere stört dieses Verhalten, dabei waren auch sie selbst einmal jung und laut.
Junge Menschen sind alle unterschiedlich. Dennoch teilen die meisten von ihnen ein Bedürfnis: zu leben, wie man ist, ohne dass man von allen anderen Gesellschaftsgruppen als Störung wahrgenommen wird. Es muss ihnen endlich mehr Platz geschaffen werden, damit dieses Bedürfnis erfüllt werden kann.
Platz brauchen die 14-Jährigen, vor denen man mit 19 immer noch ein bisschen Angst hat. Jene, denen man oft an willkürlichen Orten begegnet, immer mit einer Musikbox ausgestattet und laut miteinander lachend. Oft sieht man dabei besorgte Blicke von Müttern, die ihre Kinder vor Schreck einsammeln und Omis nebenan, die die Polizei auf Speed-Dial haben.
Aber es geht auch um die 13-Jährige, die ein lautes Zuhause hat und sich bloss eine ruhige Ecke zum Lesen, Lernen und für Hausaufgaben wünscht. Ihr müssen wir Platz machen. Den Jugendlichen, die etwas viel Energie in sich tragen, und diese am liebsten herumrennend mit irgendeiner Sorte Ball loskriegen. Sie müssen genug Möglichkeiten dafür erhalten.
Auch müssen wir uns überlegen, wie wir diese Räume gestalten. Welche Bedürfnisse haben junge Menschen und wie verkörpern wir diese in Jugendzentren? In Bibliotheken? In Pärken? Diese Fragen können Jugendliche meisten selbst am besten beantworten.
Deshalb müssen Gemeinden mit ihren Kindern und Jugendlichen sprechen – und ihnen noch genauer zuhören.
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