Männer, eman­zi­piert euch! 

Die jungen Männer von heute leiden unter dem Femi­nismus, heisst es immer wieder. Dabei wären gerade die Eman­zi­pa­tion der Frauen und das Post-#MeToo-Klima eine Chance für sie und der Türöffner für eine Bewe­gung, die drin­gend nötig ist. 
Emanzipation war auf dem Helvetiaplatz schon immer wichtig, etwa hier am Frauen*streik von 2019. (Foto: Wikimedia)

Letzte Woche erschien im Tages-Anzeiger ein Artikel mit dem Titel Die Leiden der jungen Männer“. Viele junge Männer fühlten sich vom Schweizer Bildungs­sy­stem benach­tei­ligt, hiess es darin. Der Grund dafür liege unter anderem bei einer Femi­ni­sie­rung” dieses Systems: Der Gross­teil der Lehr­per­sonen sind Frauen, die Schulen und Gymis seien viel besser darauf ausge­legt, wie Mädchen lernen. Quali­täten wie Sozi­al­kom­pe­tenz werden mehr goutiert, vor allem Jungs würden aber besser auf Fron­tal­un­ter­richt als auf selbst orga­ni­siertes Lernen anspre­chen. Die Jungs wachsen in eine Frau­en­welt hinein“, sagt der Psycho­loge und Lern­coach Fabian Groli­mund. Von einer Frau könnten die Buben nicht lernen, ein Mann zu sein“, erklärt er weiter.

Dass heute gar niemand mehr genau weiss, wie ein Mann“ denn zu sein hat, liege auch daran, dass viele Männer die Erzie­hungs­ar­beit den Frauen über­lassen. Viele junge Männer fühlten sich heute vom neu erstarkten Femi­nismus einge­schüch­tert und erzählen im Artikel davon, wie sie sich schuldig fühlen, bloss weil sie Männer sind.

Das ist ein wich­tiger Punkt: Wer erzieht denn die Männer von heute, von morgen? Noch immer ist Erzie­hungs­ar­beit auch in der Schweiz vor allem Aufgabe der Frau. Noch immer tut sich die Schweiz beim Thema Eltern­zeit – oh sorry, wir sind ja noch auf der Stufe, auf der man das Ding Vater­schafts­ur­laub“ nennt – wahn­sinnig schwer. Aber genauso, wie Frauen und Mädchen andere Frauen als Vorbilder brau­chen – etwa in Führungs­po­si­tionen –, brau­chen Männer und Jungs andere Männer als Vorbilder. Die Rolle des Mannes steckt aber aktuell in einer Krise. Es ist Fakt, dass in den letzten Jahren ein männ­lich geprägtes System, das Patri­ar­chat, einmal mehr zu dem Feind­bild ernannt wurde, das es ist. Es ist aber auch Fakt: Auch und vor allem die emotio­nale Erzie­hungs­ar­beit bei Männern über­nehmen sehr oft Frauen – und zwar weit über das Buben-Alter hinaus.

Dabei geht eine Frage ein biss­chen vergessen: Was macht das mit den Männern selber? Vor allem mit einer Gene­ra­tion, die noch immer nicht gelernt hat, mit den eigenen Emotionen auf die Art und Weise umzu­gehen, wie es für einen selber am besten passt? Wie oft hört man noch heute auf Spiel­plätzen und an Fami­li­en­essen: Brüel doch ned so wienes Mäitli” oder Buebe düend halt gärn schlägle, das ghört doch dezue“. Daran ändert auch ein virales Gillette-Werbe­video nicht viel. Der briti­sche Jour­na­list und Autor Jack Urwin hat bereits 2017 in seinem Buch Boys Don’t Cry den Zusam­men­hang zwischen der Unfä­hig­keit, sich emotional zu öffnen, und der erhöhten Selbst­mord­rate von Männern geschrieben. Die Männer von heute scheinen also noch immer nicht fähig, über ihre Gefühle zu spre­chen – sie sterben sogar daran.

Nun, ich bin kein junger Mann. Aber ich kann nach­voll­ziehen, dass man sich als solcher bedroht fühlen kann in Zeiten von Post-#MeToo, in einer Gesell­schaft, die sich wahn­sinnig stark für femi­ni­sti­sche Anliegen sensi­bi­li­siert hat, in der endlich drin­gend benö­tigte Diskus­sionen lanciert wurden, wo safe spaces entstanden sind für Forde­rungen, die bisher totge­schwiegen wurden, für Dinge, die fast alle betreffen ausser hete­ro­se­xu­elle Männer.

Um ehrlich zu sein: Ich möchte nicht als Mann in dieser Welt leben. In einer Welt, in der man nach wie vor einen auf dicke Hose machen muss, um die Karrie­re­leiter nach oben zu klet­tern – und das muss man ja wollen als Mann, die Karrie­re­leiter hat noch immer not only the poor man’s dream zu sein – oder als Schwuchtel beschimpft wird, wenn man Gefühle zeigt oder sich offen als Femi­nist bezeichnet. Solche Dinge geschehen noch immer, da kann ich in meiner lieb­li­chen Bubble noch so lange die Jungs mit dem Frau­en­streik-Button anhim­meln. Ausser­halb meiner Blase weht ein anderer Wind.

Das Schul­sy­stem ist eines der ersten, das uns auf das Leben als Erwach­sene vorbe­reiten sollte. Es ist wichtig, dass schon hier gleiche Ausgangs­lagen für alle Geschlechter geschaffen werden – wenn sich Jungs benach­tei­ligt fühlen, sollen sie sich wehren können, und das soll Verän­de­rungen nach sich ziehen.

Dass sich in Bezug auf das Schweizer Bildungs­sy­stem jetzt Wider­stand seitens der Jungs regt, kann ein gutes Zeichen sein. Es kann ein Grund­stein sein für die drin­gend nötige Eman­zi­pie­rungs­be­we­gung der Männer – spezi­fisch der hete­ro­se­xu­ellen, weissen Männer als gesell­schaft­liche Grup­pie­rung. Sie mussten nie für ihre Grund­rechte auf die Strasse. Ihr Körper gehört seit jeher ihnen, noch nie wurde von anderen über ihn bestimmt. Wie sie die Welt sehen, das ist seit Anbe­ginn Status Quo. Sie sind das starke Geschlecht – die Frau halt einfach ‚das andere‘.

Die west­liche Welt wird gröss­ten­teils von Männern regiert, die emotional verküm­mert sind und noch immer auf der Stufe eines Sieben­jäh­rigen stehen. Es kann Angst machen, dass jetzt an diesem Status Quo gerüt­telt wird. Es kann verun­si­chern. Aber es kann Türen öffnen, die heute noch genauso verkru­stet sind, wie sie es für die Frauen lange waren.

Ich wünsche mir für die näch­sten Jahre, dass Männer sich ihre eigene Eman­zi­pa­tion erar­beiten. Dass es nicht immer Frauen sind, die sich dafür einsetzen. Dass Frauen endlich chillen können und nicht mehr die emotio­nale Arbeit für Männer über­nehmen müssen, sondern sich noch mehr auf ihre eigenen Kämpfe konzen­trieren können. Nicht falsch verstehen, liebe Freunde, ich hänge gern mit euch in Bars rum und trinke so lange Negroni mit euch, bis ihr über das schwie­rige Verhältnis zu eurem Vater oder die Probleme mit eurer Freundin spre­chen könnt. Aber so kann es auf Dauer doch auch nicht weiter gehen.

Männer können viel vom Femi­nismus lernen, statt sich von ihm bedroht zu fühlen. Ich wünsche mir, dass ich nicht mehr als erstes über die leidige Mili­tär­pflicht für Männer disku­tieren muss, wenn ich sage, dass ich Femi­ni­stin bin –, sondern dass Männer selber auf die Strasse gehen und dagegen demonstrieren.

Denn schon der junge Werther hat darunter gelitten, keinen für ihn passenden Weg gefunden zu haben, mit unter­drückten Emotionen umzu­gehen. Er würde sich wohl noch heute in die von Urwin zitierten Suizid-Stati­stiken einreihen. Viel­leicht hätte er aber auch zu den Vorrei­tern gehört, die erkennen: Wir haben heute eine Chance auf neue Männer. Männer, die nicht leiden müssen, weil sie nicht weinen dürfen, sondern Stärke darin finden, ihre Bedürf­nisse formu­lieren und einfor­dern zu können – und zwar nicht trotz, sondern dank dem Feminismus.

 


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