Meme oder Krisen­be­richt? Der Algo­rithmus entscheidet

Sie werden oft als digi­tale Einge­bo­rene bezeichnet – doch so gut findet sich die Gene­ra­tion Z gar nicht zurecht im Meer aus Posts und Threads, findet unsere Kolumnistin. 
Schauen Sie gerade ein virales Meme an oder checken sie die Nachrichtenlage? (Bild: Yep Nope / Unsplash)

Wussten Sie, dass der Philo­soph und Mathe­ma­tiker Pytha­goras neben all seinen Erkennt­nissen fest daran glaubte, dass ein Mensch bei einem äusserst „starken“ Furz verse­hent­lich seine Seele raus­pupsen könnte? Nein? Dann sind Sie wahr­schein­lich nicht auf TikTok.

Haben Sie Videos gesehen, in denen regime­treue irani­sche Milizen Prote­stie­rende zu Tode geprü­gelt haben? Oder gehört, wie sich ein weinendes Mädchen vor tödli­chen Schüssen versteckt? Wenn auch das nicht zutrifft, dann sind Sie wahr­schein­lich nicht einmal in den sozialen Medien unterwegs.

Klima­hy­ste­risch und radikal oder unver­ant­wort­lich und faul: Es wird viel an jungen Menschen rumge­nör­gelt. Schlimmer als die Kritik ist aber ihre fehlende Reprä­sen­ta­tion in der Öffent­lich­keit. Während sich alle Welt über Anliegen der Jugend äussert, finden diese selbst nur in sozialen Netz­werken eine Platt­form. Das ändert nun die Kolumne „Jung und dumm“.

Helena Quarck ist 18 Jahre alt und Schü­lerin. Sie ist als Sieben­jäh­rige aus Brasi­lien in die Schweiz gezogen und musste Deutsch lernen. Diese Beschäf­ti­gung mit Sprache hat sie zum Schreiben gebracht. Helena ist Redak­torin des Jugend­ma­ga­zins Quint.

Jugend­liche verbringen im Schnitt täglich über drei Stunden online. Die sozialen Medien sind für uns eine Realität, in der wir mehrere Stunden am Tag leben.

Dabei dienen uns diese Platt­formen nicht nur als Unter­hal­tung, sondern immer mehr auch als Mittel, um über gesell­schafts­po­li­ti­sche Anliegen infor­miert zu bleiben. Denn neben Memes, verstö­renden Fakten über Mathematiker*innen und soge­nannten „Photo Dumps“ von Kolleg*innen werden circa 35 Prozent der Schweizer Jugend­li­chen täglich während dem Swipen mit poli­ti­schen und jour­na­li­sti­schen Inhalten konfron­tiert. Diese benutzen sie dann als Nach­rich­ten­quellen. Eine Folge davon: Viele junge Menschen infor­mieren sich nur noch ober­fläch­lich.

Auch ich kriege online Unter­schied­li­ches zu sehen – vom Furz des Pytha­goras bis hin zu schreck­li­chen Szenen aus den Prote­sten im Iran. Dass Unter­hal­tung mit Infor­ma­tion gemischt wird, ist nichts Neues. Das kommt auch bei den tradi­tio­nellen Medien vor. Proble­ma­tisch ist aber, dass die Grenze zwischen verschie­denen Arten, Medien zu nutzen, verfliesst.

Das Scrollen auf Social Media ist Unter­hal­tung und gleich­zeitig ein Weg, sich über das Welt­ge­schehen zu infor­mieren. Oft entscheiden wir nicht einmal aktiv, ob wir gerade auf den neusten Stand der News­lage kommen wollen oder nur zum Zeit­ver­treib durch den Feed rasen.

Wir kriegen online Unter­schied­li­ches zu sehen – vom Furz des Pytha­goras bis hin zu schreck­li­chen Szenen aus den Prote­sten im Iran.

Scrollen ist sehr einfach. Es ist schön, wenn man inner­halb weniger Zeit das Gefühl hat, über Anliegen aus der ganzen Welt Bescheid zu wissen. Ausserdem sind viele der herkömm­li­chen Medien hinter einer Paywall versteckt – im Gegen­satz zu den sozialen Medien. Ein Problem dabei ist: Das Scrollen gibt uns das Gefühl, gut infor­miert zu sein, ohne dass wir wirk­lich Bescheid wissen. 

Auch wenn seriöse Medien auf sozialen Platt­formen aktiv sind, dient das eher als Über­blick und Lock­vogel für weitere Beiträge – nicht als abschlies­sende Infor­ma­ti­ons­quelle. Die Posts verkürzen daher Inhalte auf ein Minimum. Das reicht nicht, um die Welt besser zu verstehen.

Ein weiterer Nach­teil des Scrol­lens ist die fehlende Kontrolle über den eigenen Nach­rich­ten­konsum. Viele Jugend­liche nehmen Nach­richten als Nega­tiv­dis­kurs wahr. Wenn das vierte Medium von der neue­sten Krise berichtet, welche die Existenz der Mensch­heit gefährdet, ist es nicht gerade moti­vie­rend, weiter­zu­lesen. Doch durch die Beschaf­fen­heit der sozialen Medien liegt die Entschei­dung über unseren Medi­en­konsum nicht bei uns. 

Es ist kaum möglich, sich abends nach einem langen Tag auf den sozialen Medien abzu­lenken. Krisen­be­richte reihen sich beiläufig zwischen Memes und viralen Tanz­vi­deos ein – ganz egal, ob ich das will oder nicht. Der Algo­rithmus entscheidet, was mir serviert wird.

Dafür, dass uns andere Gene­ra­tionen so gerne als „Digital Natives“ beti­teln, fällt es uns manchmal doch schwer, uns nicht in dieser digi­talen Welt zu verlaufen. Wir konsu­mieren viel­fäl­tige Infor­ma­tionen schnell und kommen nur schlecht vom kurzen Post weg, um uns die Zeit für eine Ausein­an­der­set­zung zu nehmen.

Man kann sich lange mit den Nach­teilen von Social Media als Infor­ma­ti­ons­quelle ausein­an­der­setzen. Es wäre dabei igno­rant, die posi­tiven Seiten davon nicht auch zu nennen. In den letzten Jahren ist die Zahl der „News Avoiders“, also Menschen, die Nach­richten aktiv vermeiden, gestiegen. Für Menschen, die mehrere Stunden täglich auf Social Media unter­wegs sind, ist das Vermeiden von Nach­richten deut­lich schwieriger.

Wie gehen wir damit um, dass sich eine gesamte Gene­ra­tion immer mehr von tradi­tio­nellen Medien distan­ziert und sich nur ober­fläch­lich informiert?

Ein weiterer Vorteil ist, dass Social Media eine Waffe oder ein Zufluchtsort für junge Menschen sein kann, wenn keine andere Option übrig bleibt. Dies zeigt sich speziell während Krisen­zeiten. Dass ich neben lustigen Videos auch verstö­rende Szenen aus den Prote­sten im Iran zu sehen bekomme, ist durchaus wichtig. 

Im Iran findet momentan eine Revo­lu­tion statt, die in die Geschichte eingehen wird. Der Wider­stand ist so jung wie noch nie zuvor und an der Front wird unter anderem mit Social Media gekämpft. West­liche Medien scheinen inzwi­schen aber schon über die nächste Krise zu berichten und die Pres­se­frei­heit vor Ort ist sowieso nicht gewährleistet. 

Die Schrecken während den Prote­sten werden aber weiterhin in Videos, Fotos und Texten auf Apps wie Insta­gram und TikTok verbreitet und bieten eine gewisse Nähe zu den Gescheh­nissen. Junge Menschen im Iran schaffen es so, die Zensur zu umgehen und den Kontakt zur Aussen­welt zu behalten. Gleich­zeitig werden Menschen überall auf der Welt auf diese Krise aufmerksam. 

„Social Media is the only place I hear anything about what is happen­ning“ („Die sozialen Medien sind der einzige Ort, wo ich erfahre, was passiert“ auf Deutsch), kommen­tiert ein User unter einem TikTok, das eine Frau im Iran gepo­stet hat. Sie versteckt sich, denn rund um ihr Haus hört man Schüsse. Leise hört man sie schluchzen.

Wenn herkömm­liche Medien keine Platt­form für junge Menschen bieten oder sie gar nicht erst die Frei­heit dazu haben, auf diese Medien zuzu­greifen, weichen junge Menschen auf Social Media aus: Sie finden ihren eigenen Zufluchtsort, können Diskus­sionen in Gang bringen und dafür sorgen, dass andere junge Menschen über ihre Anliegen infor­miert werden. 

Gleich­zeitig stehen wir als Gesell­schaft vor der Frage: Wie gehen wir damit um, dass sich eine gesamte Gene­ra­tion immer mehr von tradi­tio­nellen Medien distan­ziert und sich nur ober­fläch­lich informiert?

Medien selbst können gegen­steuern: Journalist*innen müssen alltäg­liche Anliegen der Jugend in den Vorder­grund rücken und Schulen müssen Medi­en­kom­pe­tenz prio­ri­sieren. Vor allem aber müssen wir Digital Natives heraus­finden, wie wir unseren Infor­ma­ti­ons­konsum navi­gieren. Am besten so, dass wir unsere Köpfe noch über Wasser halten können.


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