Menschen schlägt man nicht

Während die meisten Gewalt­taten von Männern verübt werden, machen Männer auch den Gross­teil der Opfer aus: Viele sind schon von klein auf physi­scher Gewalt ausge­setzt. Was proble­ma­ti­siert werden sollte, scheint in unserer Gesell­schaft völlig normal zu sein. 
Auf Schul- und Sportplätzen erfahren Jungs oft auch Gewalt. (Foto: Pexels / Cottonbro Studio)

Ich habe als Kind viel mit meinem Bruder und meinen Cousins geran­gelt. Es war ein Kräf­te­messen; eine Möglich­keit, die eigene Stärke zu testen, zu spüren und auch zu kontrol­lieren. Manchmal ging’s zu weit und es endete in Tränen, aber wirk­lich böse wurden wir einander nie. Es waren sehr selten Kämpfe, die aus Wut oder Frustra­tion entstanden. Es war einfach ein Spiel, und manchmal haben wir einander aus Versehen wirk­lich weh getan.

Mit meinen Cousinen oder Freun­dinnen machte ich das nie.

In der Schule beob­ach­tete ich, wie Jungs mitein­ander rangelten, so wie ich es kannte. Aber je älter wir wurden, desto gewalt­voller wurden diese Ausein­an­der­set­zungen. Anders als ich es gewohnt war, hatten sie keine unaus­ge­spro­chene Regel, nach der die Älteren und Stär­keren sich zurück­halten, auch mal einstecken und nur halb so fest zurück­geben. Nein, hier schlugen sie so fest zu, wie es ging – und der Stärkste gewann.

Darüber hinaus entwickelte sich physi­sche Gewalt als Mobbing-Instru­ment. Die ruhi­geren, schlak­si­geren Jungs wurden zur Ziel­scheibe von der „coolen“, sport­li­chen Gruppe und wurden auf dem Pausen­platz regel­mässig geboxt, geschlagen oder getreten. 

Wenn ich daran zurück­denke, schockiert es mich, wie viel physi­sche Gewalt Männer schon als Jugend­liche erleben. Wie kann das in unserer Gesell­schaft so norma­li­siert sein?

Gewalt als Mittel zur Lösung von Problemen

Von Anfang an: Gewalt­taten gehen haupt­säch­lich von Männern aus – das ist kein Geheimnis. Dass Männer aber auch die Mehr­heit der Geschä­digten ausma­chen, wird seltener thematisiert.

Gewalt ist ein grosses Wort: Grund­sätz­lich wird zwischen physi­scher, psychi­scher und sexua­li­sierter Gewalt unter­schieden, die im privaten (Stich­wort: häus­liche Gewalt) oder öffent­li­chen Raum geschieht. Gemäss dem Bundesamt für Stati­stik sind drei von vier Opfern „schwerer Gewalt“ – Verge­wal­ti­gungen ausge­nommen – Männer. Im Gegen­satz zu Frauen, die Gewalt mehr­heit­lich zu Hause erleben, sind Männer der Gewalt zudem mehr­heit­lich im öffent­li­chen Raum ausge­setzt. Und das schon sehr früh.

Das Wort „Jugend­ge­walt“ begegnet uns in den Medien immer wieder. Erst kürz­lich berich­tete SRF, dass immer mehr Jugend­liche ein Messer bei sich tragen, und letztes Jahr, dass in Zürich minde­stens jede*r vierte*r Jugendliche*r schon Gewalt erlebt hat. Abge­sehen von sexua­li­sierter Gewalt spielt sich die Gewalt auch in diesem Alter mehr­heit­lich unter Jungs ab – die Wissen­schaft spricht hier von homo­so­zialer Gewalt.

Lohn­un­gleich­heit, unbe­zahlte Care-Arbeit, sexua­li­sierte Gewalt, aber auch der Kampf gegen toxi­sche Masku­li­nität, die Abschaf­fung der Wehr­pflicht und homo­so­ziale Gewalt sind femi­ni­sti­sche Themen – und werden als „Frau­en­sache“ abge­stem­pelt. Dadurch werden diese Themen einer­seits abge­wertet, ande­rer­seits die Verant­wor­tung für die Lösung dieser Probleme auf FINTA (Frauen, inter, non-binäre, trans und agender Personen) übertragen.

Das ist nicht nur unlo­gisch, sondern auch unnütz: Die Ursache des Problems liegt nicht auf der Betrof­fenen, sondern auf der Täter­seite. Es sind eben Männer­sa­chen. Deshalb müssen Männer als Teil der privi­le­gierten Gruppe Verant­wor­tung über­nehmen und diese Probleme angehen.

Gemäss einer nord­iri­schen Studie von 2006 hatte die grosse Mehr­heit der 299 befragten Jungs im Alter von 11 bis 12 Jahren schon Gewalt erlebt: 90 Prozent sind getreten, 82 Prozent geschubst und 80 Prozent geschlagen worden. Drei Viertel der befragten Jungs betrach­teten Gewalt zudem als ein akzep­ta­bles Mittel zur Lösung von Problemen.

Obwohl die Studie lange her und weit von uns entfernt ist, sind die Ergeb­nisse eindrück­lich. Und Gewalt scheint auch in der Schweiz unter Jungs und Männern akzep­tiert zu sein, um kleine bis grosse Konflikte zu lösen.

Als ich 2019 eine Home­party schmiss, drangen zwei unein­ge­la­dene Männer in die Wohnung ein. Ich stellte mich ihnen mit meiner WG-Mitbe­woh­nerin in den Weg und verlangte, dass sie unsere Wohnung verlassen. Sie bewegten sich nicht, meine Verzweif­lung stieg. Als mein Freund sich hinter mich stellte und mir das Handy entge­gen­streckte, damit ich die Polizei alar­mieren konnte, schlugen die zwei Männer zu – endlich ein anderer Mann, mit dem sie die Situa­tion aushan­deln konnten.

So veräng­sti­gend die Situa­tion auch war, liess sie mich vor allem mit Frustra­tion und Wut zurück. Wie lächer­lich und gleich­zeitig erschreckend ist es, wie schnell Männer auf Gewalt zurück­greifen, wenn sie mit einem Problem konfron­tiert sind und sie ihre Macht demon­strieren möchten? Wieso hängt Männ­lich­keit so eng mit Gewalt zusammen?

Der deut­sche Sozio­loge Michael Meuser schreibt: „Männ­lich­keit wird konstru­iert und repro­du­ziert in einer Abgren­zung sowohl gegen­über Frauen als auch gegen­über anderen Männern.“

Sylka Scholz, eben­falls deut­sche Sozio­login, führt hier aus, dass die Bezie­hung zu anderen Männ­lich­keiten „durch ein hier­ar­chisch struk­tu­riertes Über- und Unter­ord­nungs­ver­hältnis“ bestimmt ist. Gemäss Scholz wird die soziale Ordnung unter Männ­lich­keiten unter anderem über körper­liche Gewalt herge­stellt. Diese homo­so­ziale Gewalt werde insbe­son­dere von jungen Männern zwischen 16 Jahren bis Anfang 20 ausgeübt.

Domi­nanz­spiele oder Degradierung?

Es gibt verschie­dene Theo­rien und Ansätze, um das Ausmass der Gewalt zu erklären, das Männer umgibt. Ein Beispiel ist das Konzept der hege­mo­nialen Männ­lich­keit: Während männ­li­ches Gewalt­han­deln gegen Frauen dazu dient, männ­liche Domi­nanz zu sichern, dient gegen andere Männer gerich­tete Gewalt unter anderem dazu, „sich der eigenen Männ­lich­keit zu versi­chern oder diese zu demon­strieren“, schreibt die austra­li­sche Sozio­login Raewyn Connell.

Und schon sind wir bei den Männ­lich­keits­an­for­de­rungen: Ein „rich­tiger Mann“ hat stark zu sein, psychisch wie physisch, darf keine Schwäche zeigen, soll nicht über­mässig emotional sein und muss Leistung erbringen. Männ­lich­keit wird konstru­iert, also gelebt, und es ist ein stän­diger Kampf, sich von Frauen und anderen Männern – die diese Anfor­de­rungen weniger oder gar nicht erfüllen – abzugrenzen.

Die pädago­gi­sche Männ­lich­keits­for­schung betrachtet männ­liche Gewalt „als kompen­sa­to­ri­sches Handeln, als Mittel der Problem­be­wäl­ti­gung“, schreibt Meuser in seinem Buch­ka­pitel „Doing Mascu­li­nity“. Sie sei eine Reak­tion auf Frustra­tion, auf Versa­gens­ängste, auf Zurück­wei­sung, auf Minder­wer­tig­keits­ge­fühle, auf einen Mangel an Aner­ken­nung. Sie diene als Mittel, um Unsi­cher­heiten zu kompen­sieren und sie durch eine Demon­stra­tion von Stärke abzuwehren.

Es ist eine Wahl zwischen Pest und Cholera: Entweder du bist konti­nu­ier­lich der Gewalt ausge­setzt oder du machst mit, wirst „nur“ ab und zu geschlagen und selbst zum Täter.

Meuser weist darauf hin, dass homo­so­ziale Gewalt nicht nur eine Abwer­tung des Gegen­übers impli­ziert, sondern auch die Aner­ken­nung des Anderen bedeuten kann. Das treffe nicht auf jede Form homo­so­zialer Gewalt zu, sondern nur auf Inter­ak­tionen, die „rezi­prok struk­tu­riert sind“ – also wenn beide Seiten Gewalt anwenden. Kenn­zeich­nend für diese Gewalt sei ihre kompe­ti­tive Struktur: Es handle sich kurz gesagt um Dominanzspiele.

Lest das noch mal durch. Jungs prügeln sich, bestä­tigen so gegen­seitig ihre Männ­lich­keit und schenken dem Gegen­über so Aner­ken­nung. „Hey, Junge, geil zuge­schlagen, du bist ja ein rich­tiger Mann“, oder was? Obwohl solche halb-freund­schaft­li­chen Prüge­leien vermeint­lich im Einver­ständnis beider Parteien geschehen, ist das ein gefähr­li­ches Spiel.

Fehlt die Gegen­sei­tig­keit, schreibt Meuser weiter, ist diese Gewalt nämlich nichts anderes als ein Mittel zur Ausgren­zung und Degra­die­rung der geschä­digten Person. Und jetzt kommt die wich­tige Frage: Wie frei­willig ist die Teil­nahme an diesen Macht­spielen wirklich?

Die unaus­ge­spro­chene Männlichkeitshierarchie

Als ich meinen Freund fragte, wann er das erste Mal physi­sche Gewalt erlebt habe, zögerte er nicht: „Im Kinder­garten“. Er rela­ti­vierte aber schnell und meinte, das seien ja alles Spiele gewesen. Er erzählte, dass es erst in der Sekun­dar­schule richtig schlimm wurde. Die Gewalt und ihre Inten­sität nahm zu, es tat auch mal richtig weh.

Ein klas­si­sches „Spiel“ nennt sich „Rein­ge­schaut“: Eine Person formt mit Zeige­finger und Daumen ein Loch – wer rein­schaut, bekommt einen Box auf den Arm. Mein Freund erzählte, dass es eine unaus­ge­spro­chene Regel gab, wer bei diesen „Spielen“ wen wie fest schlagen durfte. Die älteren und stär­keren Jungs hatten das Recht bezie­hungs­weise die Pflicht, härter zurück­zu­geben als das Gegen­über, um die Rang­ord­nung aufrecht­zu­er­halten. Wer sich nicht daran hielt, kassierte eine Bestrafung.

Ich denke, den aller­mei­sten Jungs ist zumin­dest unter­be­wusst klar, dass sie sich in der Männ­lich­keits­hier­ar­chie irgendwo einglie­dern müssen. Und wenn sie nicht zuun­terst landen wollen, wo sie einfach gene­rell ange­griffen werden, müssen sie bei den Macht­spielen mitma­chen. Es ist eine Wahl zwischen Pest und Cholera: Entweder du bist konti­nu­ier­lich der Gewalt ausge­setzt oder du machst mit, wirst „nur“ ab und zu geschlagen und selbst zum Täter.

Wer jetzt sagt „Teen­ager müssen halt Stress abbauen“ oder „boys will be boys“, negiert, wie trau­ma­tisch solche Erfah­rungen sein können. 

Einer meiner Mitschüler in der Sekun­dar­schule erfüllte die gängigen Männ­lich­keits­an­for­de­rungen zu wenig und machte bei den Domi­nanz­spielen nicht mit. Die „coolen Jungs“ verprü­gelten ihn so fest, dass seine Zahn­spange kaputt­ging und er ins Kran­ken­haus musste. Er wech­selte – natür­lich – die Schule, Konse­quenzen für die Täter blieben gröss­ten­teils aus.

Ein anderer Mitschüler in derselben Klasse wurde eben­falls verprü­gelt, weil er seine Männ­lich­keit wohl nicht genü­gend performte: Er war sehr sanft und ruhig, mit vielen Mädchen befreundet, erzielte gute Noten und trug eine Brille. Er hielt die Gewalt aus, er petzte nicht, er weinte nicht, er schlug nicht zurück. Bis er nach ein paar Jahren anfing, auch mal zurück­zu­schlagen und mitzu­la­chen. Er war nicht mehr das Opfer der gewalt­tä­tigen Gruppe, sondern wurde in ihren Kreis aufgenommen.

Jetzt im Nach­hinein verstehe ich, dass er durch sein stilles Leiden seine Männ­lich­keit unter Beweis stellen konnte („Das hat er gut ausge­halten“) und schliess­lich in der Hier­ar­chie aufstieg. Es war seine Bewäl­ti­gungs­stra­tegie, die scheinbar funk­tio­niert hat. Aber zu welchem Preis?

Norma­li­sierte Gewalt

Wer jetzt sagt „Teen­ager müssen halt Stress abbauen“, „Raufe­reien sind normal“ oder „boys will be boys“, negiert einer­seits, wie trau­ma­tisch solche Erfah­rungen sein können. Ande­rer­seits über­sehen diese Personen, dass die Gewalt nicht einfach verschwindet, sobald die Jungs erwachsen sind – wir erin­nern uns an die anfangs erwähnte Stati­stik, in der Männer sowohl bei Täter*innen als auch Opfern den Gross­teil ausmachen.

Ein weiteres Beispiel, das mir geblieben ist: Mein Bruder schert sich herz­lich wenig um Männ­lich­keits­an­for­de­rungen, und während er so viel authen­ti­scher und glück­li­cher leben kann, wird er unge­wollt zur Ziel­scheibe von Männern, die ihre fragile Männ­lich­keit vertei­digen möchten. Als er vor ein paar Jahren mit Freund*innen spontan an einen Fuss­ball­match ging, hat er sich von einem Kollegen ein FCB-Shirt ausge­liehen. Als er über den Zürich Haupt­bahnhof nach Hause fuhr, drohten ihm fremde Männer, dass sie ihn verprü­geln würden, wenn er das Shirt nicht ausziehe.

Er igno­rierte sie, lief etwas schneller auf sein Gleis zu und kam heil davon – aber dieses Glück haben nicht alle.

Das Lamm-Jour­na­list Simon Muster hat in einem Artikel unter anderem davon erzählt, wie er in einem Park von zwei unbe­kannten Jugend­li­chen ange­griffen und spital­reif geschlagen wurde. Er beschreibt, wie ihn dieses Erlebnis geprägt hat und fragt: „Was macht es mit der eigenen Männ­lich­keit, wenn Gewalt zwar inte­gral zur perfor­mance ‘Mann’ gehört, aber allein schon ein paar laute (männ­liche) Stimmen auf dem Heimweg einen so lähmen, dass man sich nicht selbst schützen könnte, geschweige denn andere?“

Und ich frage mich, wieso wir uns Gedanken darüber machen müssen, wie wir uns vor dieser Gewalt schützen können, statt dass wir diese norma­li­sierte Gewalt als gesell­schaft­li­ches Problem angehen.

Ich hörte früher oft den Satz „Frauen schlägt man nicht“. Jungs ermahnten einander damit, falls jemand die „Regel“ mal vergessen sollte. Andere prahlten vor Mädchen damit, um extra gut dazu­stehen. Was sie dabei nicht explizit sagen, aber eigent­lich meinen ist: „Frauen schlägt man nicht, aber Männer schon“.

Abge­sehen davon, dass diese Aussage nur so von patri­ar­chalen Rollen­mu­stern trieft, ist sie extrem proble­ma­tisch. Natür­lich schlägt man Frauen nicht. Man schlägt auch Männer und non-binäre Menschen – und andere Lebe­wesen – nicht.


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