Eines Abends im April steuert ein Transporter in die Einfahrt unserer Strasse. Auf der Ladefläche sitzen fünf geduckte Gestalten mit Mundschutz und sprühen Desinfektionsmittel auf den Boden. Die beginnende Monddämmerung verleiht der Szene eine apokalyptische Stimmung. Angesichts der sonst laxen Anti-Corona-Massnahmen in Mexiko bekomme ich das mulmige Gefühl, dass jetzt die Stunde der Restriktionen schlägt.
Die Märkte voll, die Stimmung ausgelassen
Doch das erweist sich als Trugschluss: Wenige Tage später, am 21. April, werden mit der Deklaration der Phase Drei auf nationaler Ebene zwar durchaus drastische Änderungen eingeleitet, welche die alltäglichen Routinen aber gering beeinflussen: Als essentiell deklarierte Geschäfte bleiben mit Einlassbeschränkung oder Take-Away-Optionen geöffnet; nicht essentielle Geschäfte, die wider den Bestimmungen den Betrieb weitergeführt haben, sollen künftig sanktioniert werden und Firmen, die keine Leute entlassen haben, mit einer Erwerbsausfallsentschädigung belohnt werden; hohe Regierungsangestellte müssen während der Quarantäne auf bis zu 25% ihres Einkommens und den dreizehnten Monatslohn verzichten; einzelne Regionen verbieten die Einreise von Nicht-Anwohner*innen und die Lautsprecheransagen, die hier in den Dörfern des Bundesstaates Morelos vor jeder Haustür ertönen, die Menschen über Covid-19 aufklären und ihnen dringend empfehlen, zu Hause zu bleiben, scheinen seither etwas lauter geworden.
Auf unserer sonntäglichen Fahrradtour stellen wir mit Ernüchterung fest, dass der Sonntagsmarkt in Miacatlán voll wie immer und die Stimmung ausgelassen ist. Abgesehen von einem Transparent des Gesundheitsministeriums, das an social distancing erinnert, und ein paar Individuen mit Mundschutz, erscheint die Pandemie wie ein Hirngespinst. Mitten im Markt treffen wir die Besitzerin eines Restaurants. „Die guardia nacional kommt regelmässig vorbei und kontrolliert uns“, ereifert sie sich. „Sie wollen, dass ich schliesse. Ich habe zu ihnen gesagt: nur, wenn ihr mir eine Entschädigung zahlt“, fügt sie triumphierend hinzu. Und: „Wie soll ich sonst überleben? Der Kompromiss ist nun, dass ich ein paar Tische entfernen musste, damit die Leute weniger eng sitzen.“
Mit Humor die Krise meistern
Die Sichtweise der doña widerspiegelt die Mehrheitsmeinung der Mexikaner*innen. Laut aktuellen Schätzungen des Consejo Nacional de Evaluación de la Política de Desarrollo Social (CONEVAL) und der neuesten Studie des Instituto Nacional de Estadística y Geografía (INEGI) lebt rund die Hälfte der Landesbevölkerung in Armut und ohne offizielle Anstellung. Deshalb kann die Regierung keine restriktive Quarantänepolitik durchsetzen und ein Grossteil der Bevölkerung kaum Massnahmen realisieren. Die Regierung hat diese heikle Situation jedoch früh erkannt und bereits Ende März Kredite gesprochen für Menschen, die am Existenzminimum leben. Seit Beginn der Phase Drei wurde die finanzielle Unterstützung auf kleine und mittlere Firmen sowie Arbeiter*innen, die aufgrund der Pandemie ihre Arbeit verloren hatten, ausgeweitet; seit Mitte Mai können auch Selbstständigerwerbende davon profitieren. Insbesondere für die Ärmsten stellen die damit verbundenen bürokratischen Prozesse jedoch ein nicht zu unterschätzendes Hindernis dar aufgrund deren Trägheit oder des fehlenden Zugangs zu Informationen oder dem Internet. In der Pressekonferenz vom 20. April bestätigte der Präsident, dass Drogenkartelle, um die Gunst der Bevölkerung für sich zu gewinnen, Hilfsgüter verteilten. Diese waren mit dem Logo ihres Kartells und netten Botschaften wie, im Falle des Kartells von Jalisco CJNG, „von deinen Freunden“ versehen. Gegenüber den bürokratischen Angeboten der Regierung locken diese mit ihrer Unmittelbarkeit.
Trotz oder gerade wegen der schwierigen Umständen – die für ihren Humor bekannten Mexikaner*innen lassen sich vom Virus nicht die Heiterkeit verderben. Ein Freund von mir hat es einmal so ausgedrückt: „Selbst beim gravierenden Erdbeben von 2017 zirkulierten bereits Stunden danach Memes im Netz. Wir sind Krisen eben gewohnt und Komik ist unsere erfolgreichste Verarbeitungsstrategie.“ So verwundert es auch nicht, dass in der Metro stachelige Massagebälle als Coronavirus-Spielzeuge angepriesen werden. Neben Komikern trifft man immer wieder auf Verschwörungstheoretiker*innen, welche unter dem Deckmantel der sanitären Krise ein Komplott des Systems auszumachen meinen.
Ernährungstipps in Zeiten von Corona
Kaum weniger berühmt ist die mexikanische Feierlustigkeit. Doch nun haben verschiedene Gemeinden Verkauf und Ausschank aller alkoholischen Getränke verboten. Dies mit der Begründung, die Massnahme würde dazu beitragen, die Entstehung grösserer Menschenansammlungen zu verhindern. Unter der Hand ist Alkohol aber immer noch erhältlich und lautstarke Hausfeste hier und dort kaum zu überhören. Dem bekanntesten mexikanischen Bier, Corona, hat die Pandemie indes zweifelsohne einen bitteren Abgang verpasst.
Im Einklang mit den ständigen Ernährungstipps im Radio, die an die in Mexiko verbreiteten Probleme Übergewichtigkeit, Diabetes und Bluthochdruck mahnen, wirkt die Alkoholprohibition wie das Bemühen um eine Kehrtwende in der Ernährungskultur. Derweil wird die Vergötterung fettiger Fleisch-Tacos und von Süssgetränken zynisch-unbekümmert weiterbetrieben. Es scheint daher fraglich, ob die biopolitische Offensive der Regierung Früchte tragen wird. Doch vom unbeugsamen mexikanischen Optimismus können wir uns in Zeiten der Pandemie alle eine fette Scheibe abschneiden.
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