Nach der Klima­wahl: Brau­chen wir Held:innen oder Idiot:innen?

Die Wahlen haben gezeigt: Der Klima­wandel ist defi­nitiv das Thema der Stunde. Doch wie weiter? Da ist sich nicht mal das Lamm einig. Redak­torin Alex lebt seit zehn Jahren klima­be­wusst und verlangt das auch von ihren Mitmen­schen. Das sieht ihr Kollege Simon ein wenig anders – und fordert verbind­liche Spiel­re­geln für die grossen Player. 
Simon (rechts): „Wir können nicht alle Held*innen sein!": Alex: „Wer sich heute einschränkt, ist ein Idiot!" (Foto: das Lamm)

Simon: „Wir können nicht alle Held*innen sein!“

Wissen Sie, was ein litterbug ist? Nein, er ist kein Mist­käfer, wobei die Asso­zia­tion natür­lich nicht allzu weit herge­holt ist. Das Wörter­buch verrät uns, dass ein litterbug jemand ist, der die Umwelt durch acht­loses Wegwerfen von Abfall verschmutzt. Wirk­lich geläufig wurde der Begriff erst dank einer gross­an­ge­legten Werbe­kam­pagne 1954 von einer obskuren Gruppe, die den Namen „Keep America Beau­tiful“ (kurz: KAB) trug. Deren eingän­gige Losung: „People start pollu­tion. People can stop it.“

Das Problem: Die people hinter KAB waren nicht etwa umwelt­be­wusste Früh­hip­pies, die sich über Bilder von dahin­ve­ge­tie­renden Vögeln mit Plastik­ab­fall in den Mägen empörten, sondern Coca-Cola sowie verschie­dene Hersteller von Blech­dosen und Glas­fla­schen. Mit der Werbe­kam­pagne sollten Regu­lie­rungen torpe­diert werden, die den Gebrauch von Einweg­ver­packungen verbieten wollten, was die Konzerne wiederum einiges an Gewinn­marge geko­stet hätte. Das Kalkül dahinter war simpel: Wenn wir alle kräftig nach dem Käfer treten, vergessen wir viel­leicht, wer für den ganzen Mist eigent­lich verant­wort­lich ist.

65 Jahre nach der KAB-Kampagne stehen wir wiederum vor einer ähnli­chen Frage, dieses Mal nach der Verant­wor­tung an der globalen Klimakatastrophe.

Die Zahlen spre­chen eigent­lich eine klare Sprache. The Guar­dian hat in einer Serie aufge­deckt, dass nur gerade 20 Öl- und Gasfirmen für 35 % aller CO2-Emis­sionen welt­weit zuständig sind, die in den letzten 54 Jahren emit­tiert wurden. Hier­zu­lande verdop­peln alleine die UBS und die Credit Suisse mit ihren klima­schäd­li­chen Inve­sti­tionen den CO2-Abdruck der Schweiz.

Warum halten wir uns also noch mit der ‚Flug­scham‘ auf, wenn wir längst über Banken­re­gu­lie­rungen spre­chen sollten? Verstehen Sie mich nicht falsch: Fliegen ist unso­li­da­risch und umwelt­schä­di­gend. Wer einen Wochen­end­trip nach New York macht, soll sich scheisse fühlen.

Das Problem ist aber, dass die Diskus­sion rund um Flug­zeug­ticket­ab­gaben, vegane Ernäh­rung und das konse­quente Verhalten von Klima­strei­kenden und grünen Politiker*innen den öffent­li­chen Diskurs verstopft. Während wir einander unsere CO2-Fuss­ab­drücke um die Ohren hauen, bauen die Banken ihre klima­schäd­li­chen Inve­sti­tionen weiter aus. Wiederum drohen wir dem Irrglauben aufzu­laufen, dass die Verant­wor­tung für Umwelt­schäden erst bei den Konsument*innen und nicht bereits bei den Produ­zenten beginnt. Konzerne wie Exxon­Mobil sind im Kern Ener­gie­firmen und könnten nach­hal­tige Ener­gie­träger fördern – sie haben halt einfach keinen Bock. Die Motive dahinter sind banal wie eh und je: Für ihre Grossaktionär*innen würde sich die Umstel­lung auf nach­hal­tige Ener­gie­träger kurz­fri­stig nicht lohnen.

Wir haben längst verin­ner­licht, was seit Jahr­zehnten gepre­digt wird: Steuern und Regu­lie­rungen runter, um den Konsum weiter anzu­heizen. Wo eine Gesell­schaft sich am Wirt­schafts­wachstum misst, wird Konsum schliess­lich zur Pflicht. Diese Denk­weise steht uns als Indi­vi­duen im Ange­sicht der drohenden Kata­strophe im Weg – und lässt uns erneut als einzelne litter­bugs mit der ganzen Verant­wor­tung im Stich.

Natür­lich brau­chen wir Held*innen, die uns mit ihrem Verhalten zeigen, wie ein nach­hal­tiges Leben aussieht. Aber Held*innen setzen sich mit einem über­mensch­li­chen Aufwand über dieje­nigen Hinder­nisse hinweg, die ihnen in den Weg gelegt werden. Anstatt uns mit der Frage herum­zu­schlagen, wie wir alle Held*innen sein können, sollten wir lieber zusammen die Hinder­nisse abbauen, die das Helden­epos erst notwendig machen.s

Alex: „Wer sich heute einschränkt, ist ein Idiot!“

Stellen Sie sich folgende Situa­tion vor: Sie gehen mit einem Arbeits­kol­legen über den Mittag in einen Laden, um sich ein Sand­wich zu kaufen. Während Sie sich in die Schlange vor der Kasse stellen, macht sich Ihr Kollege direkt auf den Weg Rich­tung Ausgang. „Hey, willst du nicht bezahlen?“, rufen Sie ihm hinterher. „Ach nö, das geht mir zu lange und kostet zu viel. Ist ja frei­willig.“ Sie finden die Vorstel­lung absurd, dass man frei­willig entscheiden kann, ob man für etwas, das man konsu­miert, auch bezahlt? Ich auch. Immerhin fielen für die Produk­tion des Sand­wi­ches ja Kosten an. Man musste das Brot kaufen, die Gurken schneiden und jemanden anstellen, der es belegt und verkauft. Und wer sonst als der Konsu­mie­rende soll nun diese Kosten über­nehmen? Aber das fiktive Beispiel hat viel mehr mit unserer gesell­schaft­li­chen Realität zu tun, als Sie denken. Bei vielen Kosten, die heute verur­sacht werden, kann der oder die Konsu­mie­rende tatsäch­lich frei entscheiden, ob er oder sie sie beglei­chen will oder nicht.

Die Kosten von CO2-inten­siven Life­styles werden nicht indi­vi­duell beglichen.

Denn wer mit Billig­flügen, SUVs und Fleisch­konsum ein CO2-inten­sives Leben führt, verur­sacht Kosten. Und zwar hohe Kosten: Laut dem Bundesamt für Umwelt (BAFU) werden wir in Zukunft nur schon eine Milli­arde Franken pro Jahr aufbringen müssen, um unsere Infra­struktur ange­sichts der Klima­er­hit­zung instand zu halten. Bezahlen werden das nicht dieje­nigen, die klima­schäd­lich gelebt haben, sondern wir alle zusammen. Kommende Gene­ra­tionen wohl noch stärker als die gegenwärtigen.

Aber es kommt noch besser. Nicht nur ist klima­schäd­li­ches Verhalten gratis und breit akzep­tiert, sondern für klima­freund­li­ches Verhalten zahlt man auch noch drauf. Wenn ich Bioge­müse kaufe anstatt billiges, konven­tio­nell ange­bautes Gemüse, das in erdöl­be­heizten Gewächs­häu­sern gezogen wurde; wenn ich stun­den­lang im Zug sitze, statt den Billig­flug zu nehmen; wenn ich mich mit dem Velo durch den Stadt­ver­kehr quäle, statt ins benzin­be­trie­bene Auto zu sitzen: Immer zahle ich mit Franken, Nerven und Stunden drauf.

Die struk­tu­rellen Vorteile für klima­schäd­li­ches Verhalten müssen weg.

Aber zurück zum Sand­wich. Hand aufs Herz: Würden Sie sich in die Schlange hinter der Kasse stellen, wenn es frei­willig wäre, dafür zu bezahlen? Natür­lich nicht. Sie sind ja kein Voll­idiot. Lusti­ger­weise gibt es aber solche Idiot*innen trotzdem. Zum Beispiel mich. Geflogen bin ich seit zehn Jahren nicht mehr. Können Sie sich vorstellen, wie viel mich das vergli­chen mit einem durch­schnitt­li­chen Reisenden geko­stet hat? Und wofür, wenn alle anderen gleich weiter­ma­chen wie bis anhin? Denn es ist ja frei­willig, auf das Flug­zeug zu verzichten. Dass sich die meisten dann denken: „Ach nö, das geht mir zu lange und kostet zu viel. Ist ja frei­willig“ scheint nahe­lie­gend. Drin liegen tut es in unserem CO2-Budget aber trotzdem nicht.

Deshalb ja: Der poli­ti­sche grüne Wandel soll auch das Indi­vi­duum betreffen. Und zwar so, dass man für ein klima­ge­rechtes Verhalten endlich nicht mehr dauernd bestraft wird.


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