Neoli­be­ra­lismus aus vollen Rohren

An der Univer­sität Luzern gründen ein Milli­ardär und ein markt­ra­di­kaler Professor ein neues Institut. Eine Absicht liegt auf der Hand: Der Schweizer Bevöl­ke­rung soll beigebracht werden, warum die Armen die Kosten der Pandemie zu tragen haben. 
Wer soll die Kosten für die Krise übernehmen? „Ein no-Brainer!“, findet Schaltegger: Ganz sicher nicht die Reichsten. (Bild: Derek Thomson via unsplash)

Die Schweiz verschulde sich in der Coro­na­krise mit sechs Millionen Franken pro Stunde, rech­nete Bundesrat und Buch­halter Ueli Maurer kürz­lich der Presse vor. Das ist zwar kein Problem für den Staats­haus­halt des reichen Landes, aber es wird über die näch­sten Jahre die Politik prägen. Die Schweiz steuert auf harte Ausein­an­der­set­zungen darüber zu, wer die Kosten der Krise zu tragen hat.

Derzeit entsteht an der Univer­sität Luzern das Institut für Schweizer Wirt­schafts­po­litik (IWP). Wissen­schaft­li­cher Leiter des Insti­tuts wird Chri­stoph Schalt­egger. Der einfluss­reiche Professor für Poli­ti­sche Ökonomie hat sich mit Publi­ka­tionen gegen den Sozi­al­staat einen Namen gemacht.

Auf Anfrage von das Lamm erklärt er: Das neue Institut wolle „sämt­li­chen Stimm­bür­ge­rinnen und Stimm­bür­gern partei­über­grei­fend und in klar verständ­li­cher Sprache dabei behilf­lich sein, Fakten und wirt­schaft­liche Zusam­men­hänge zur Meinungs­bil­dung zu ergründen“. Auch in den Zielen der Träger­stif­tung des IWP heisst es, man wolle „zur gesell­schaft­li­chen Meinungs­bil­dung beitragen“ und eine „Brücken­funk­tion zwischen Wissen­schaft und Gesell­schaft“ wahrnehmen.

Die Stif­tung hat bereits für Aufsehen gesorgt, indem sie René Scheu zum Geschäfts­führer des Insti­tuts ernannte. Man legt in Luzern offenbar Wert auf Aufmerk­sam­keit. Scheu, der markt­fromme Feuil­leton-Chef der NZZ, ist gut vernetzt und versteht es, mediale Akzente zu setzen.

Das hat er bislang vor allem mit seinem Feldzug gegen angeb­li­chen „Opfer­au­tori­ta­rismus“, „Poli­tical Correct­ness“ und „Cancel Culture“ unter Beweis gestellt. In diesem publi­zi­sti­schen Meinungs­kampf wurden Verlet­zungen und Gräben aufge­rissen, um die Geltung von ohnehin wohl­si­tu­ierten Gruppen auf Kosten von Minder­heiten zu festigen. Scheus Geschäft in Luzern wird nun die Wirt­schafts­po­litik, in der es um Existenzen von Armuts­be­trof­fenen geht.

Warum wirt­schafts­po­li­ti­sche Gewalt unsichtbar bleibt

Die existen­zi­ellen Konse­quenzen wirt­schafts­po­li­ti­scher Entscheide verschwinden in Debatten oft hinter Modellen, Stati­stiken und harmlos anmu­tenden Fach­be­griffen. Beim Luzerner Wirt­schafts­pro­fessor Schalt­egger heissen letz­tere „bilanz­ori­en­tierte Haus­halts­steue­rung“, „Abbau­pfad für den Corona-Ausga­ben­über­hang“ oder „Sanie­rung über die Ausgabenseite“.

Was diese Mecha­nismen bedeuten, hat der Ökonom während der Pandemie im Wirt­schafts­ma­gazin Die Volks­wirt­schaft erläu­tert. In einem Artikel zur Schul­den­bremse in Krisen­zeiten lobte Schalt­egger Neusee­land: Das Land habe seit 30 Jahren die Buch­hal­tung an die Haus­halts­steue­rung gekop­pelt und den „Fokus auf die lang­fri­stige Stär­kung der Bilanz“ gelegt.

Während Margaret That­cher und Ronald Reagan bis heute mit der Zerschla­gung der Arbei­ter­be­we­gung und sozialen Verwü­stungen iden­ti­fi­ziert werden, ist das Schicksal Neusee­lands unter dem sozi­al­de­mo­kra­ti­schen Premier­mi­ni­ster David Lange weniger bekannt.

Das Land wurde in den 1980ern unter Langes Führung einem brutalen wirt­schafts­po­li­ti­schen Programm unter­zogen: Halbie­rung des Höchst­steu­er­satzes, Einfüh­rung der Mehr­wert­steuer, Abschaf­fung der Lohn- und Preis­kon­trollen, Dere­gu­lie­rung der Finanz­welt. In jener Zeit stieg die Armut auf dem Insel­staat um über 30 Prozent, Lebens­mit­tel­banken schossen aus dem Boden, die Selbst­mord­rate unter Jugend­li­chen klet­terte in unge­kannte Höhen.

„Menschen haben sich umge­bracht oder verliessen das Land“, bilan­zierte Lange 2004 in einem Inter­view in Brand­eins: „Viele haben uns gehasst.“ Der Labour-Poli­tiker und sein Finanz­mi­ni­ster Roger Douglas stehen für die Abkehr vom sozi­al­de­mo­kra­ti­schen Verwal­tungs­mo­dell, das sich nach dem Zweiten Welt­krieg etabliert hatte. Diese Politik hat längst ein Etikett, das sich kaum noch jemand selbst geben mag: neoliberal.

Auch Schalt­egger, der beim Wirt­schafts­dach­ver­band Econo­mie­su­isse arbei­tete, bevor er seine Professur antrat, wird sich nicht als neoli­be­ralen Werbe­trei­benden preisen. Statt­dessen reist er in angeb­lich streng wissen­schaft­li­cher Mission durch die Schweiz und erklärt wahl­weise, warum das AHV-Alter erhöht gehört, warum die Sozi­al­ver­si­che­rungen zu hoch sind oder warum die Reichen zu viele Steuern bezahlen.

In einem Werbe­video für ein Wirt­schafts­stu­dium an seiner Fakultät sagt er über dessen Lehr­in­halte: „Man wird sicher auf Emotionen stossen, wenn man das öffent­lich sagt.“ Linke Reak­tionen auf Austerität, auf Verar­mungs­po­litik wie in Neusee­land gelten ihm als „dogma­ti­sche Gereiztheit“.

Ein Professor, ein Wirt­schafts­an­walt und ein Milliardär

Auf Anfrage, welche Inhalte am neuen Institut gelehrt und verbreitet werden sollen, antwortet Schalt­egger vage: Es befasse sich mit volks­wirt­schaft­li­chen Fragen, die den Stimmbürger:innen der Schweiz vermit­telt werden sollen. Über Werte, Ziel­set­zung und Orga­ni­sa­tion werde im Herbst an einer Pres­se­kon­fe­renz orien­tiert. Auch über die Mittel und Wege zur Einfluss­nahme ist noch nichts zu erfahren.

Neben der publi­zi­sti­schen Tätig­keit des wissen­schaft­li­chen Leiters zeigt aber auch die Zusam­men­set­zung der Träger­stif­tung, was da wohl künftig der Schweizer Bevöl­ke­rung beigebracht werden soll.

Neben Chri­stoph Schalt­egger und René Scheu, Zögling des St. Galler Privat­ban­kiers Konrad Hummler, nimmt Wirt­schafts­an­walt Thomas Spre­cher im Stif­tungsrat Einsitz. Der Spezia­list für Stif­tungs­recht kennt Scheu noch aus dem SMH-Verlag, der den Schweizer Monat heraus­gibt. Spre­cher ist Partner der grossen Wirt­schafts­kanzlei Niederer Kraft Frey, die ihren Sitz an der Zürcher Bahn­hofstrasse hat.

Präsi­dent der Träger­stif­tung ist der Indu­stri­elle Alfred N. Schindler, dessen Fami­li­en­ver­mögen in der Pandemie um zwei Milli­arden auf rund 15 Milli­arden Franken ange­wachsen ist, wie die Bilanz letzten Herbst berech­nete. Die Kassen des IWP sind gefüllt, die finanz­starken Inter­essen augen­schein­lich. Die Sorge dürfte dem Erhalt von Profit und Zins gelten und nicht etwa Lohn und Sozi­al­lei­stungen, wie bei den aller­mei­sten Menschen, denen die wissen­schaft­li­chen Erkennt­nisse des Insti­tuts vermit­telt werden sollen.

In Krisen werden ökono­mi­sche Gewiss­heiten in Frage gestellt

„Wissen­schaft­liche Erkenntnis“ ist in wirt­schafts­po­li­ti­schen Fragen ein sonderbar kontur­loser Begriff. Ökonom:innen streiten bereits über die Grund­an­nahmen, auf denen ihr theo­re­ti­sches System aufbaut.

Der Überbau der „klas­si­schen“ Wirt­schafts­theorie sei mit grosser Sorg­falt auf logi­sche Konsi­stenz hin entwickelt worden, bloss seien ihre Voraus­set­zungen weder klar noch allge­mein­gültig, schrieb etwa John Maynard Keynes. Die Theorie des berühmten briti­schen Ökonomen recht­fer­tigte die staat­li­chen Eingriffe im sozi­al­de­mo­kra­ti­schen Modell nach dem Zweiten Welt­krieg. In der Wirt­schafts­krise ab Mitte der 1970er-Jahre geriet sie gegen­über neoli­be­ralen Vorstel­lungen ins Hintertreffen.

Derzeit steht die Welt vor einer Krise, die die dama­lige weit in den Schatten stellen dürfte. In solchen Einbrü­chen stehen ökono­mi­sche Gewiss­heiten auf dem Prüf­stand, in den wirt­schafts­po­li­ti­schen Stel­lungs­kriegen verschieben sich die Front­ver­läufe. In der Vogel­per­spek­tive finden sich auf der einen Seite die Befürworter:innen staat­li­cher Eingriffe, auf der anderen Seite die Markt­ra­di­kalen. Ihre jewei­ligen Theo­rien dienen vor allem dazu, die poli­ti­schen Verschie­bungen zu begründen.

Es scheint, als habe die libe­rale Vorstel­lung, der Markt regle fast alles, derzeit einen schlechten Stand. Staat­liche Inter­ven­tionen wurden durch die Pandemie zur Ultima Ratio: Tote durch staat­li­ches Nicht­han­deln haben Gewicht – selbst in der Schweiz. In welche Rich­tung es aber länger­fri­stig geht, wird in poli­ti­schen Konflikten entschieden werden. An der Univer­sität Luzern will man in diesem Disput offenbar mitreden.

Sparen auf Kosten der Armen: ein „No-Brainer“

Wie das klingen könnte, zeigte Ökonom Schalt­egger im Früh­ling 2016. Damals trat er am UBS Center, einem asso­zi­ierten Institut an der Univer­sität Zürich, auf und warb für ein höheres Renten­alter, das der Bundesrat seiner Meinung nach tabuisiere.

Finan­zie­rung über Mehr­wert­steuer, tiefere Renten: So lauteten einige seiner Rezepte. Nicht weniger als ein halbes Dutzend Mal sagte er in den Saal hinein: „Das ist ein No-Brainer.“ Auch für die Betrof­fenen der Spar­mass­nahmen hatte er einige Ratschläge dabei, die er als „posi­tive Story“ verkaufte. In seinem neoli­be­ralen Märchen könnten die Leute länger arbeiten: „Seht das als Chance, ihr werdet gebraucht.“

Die Rede vom „No-Brainer“, dass man über Dinge gar nicht nach­denken müsse, ist kein Zufall. Ideo­logie ist am wirkungs­mäch­tig­sten, wenn sie nicht als Ideo­logie erscheint. Wenn es scheint, als könne es nicht anders sein, als wäre etwa das Inter­esse auf Kosten der Armen zu sparen eine unhin­ter­geh­bare „wissen­schaft­liche Erkenntnis“.

Lange bevor das neue Institut in Luzern den Milli­ardär Schindler gewonnen hatte, schrieb Karl Marx: „Es ist (…) abso­lutes Inter­esse der herr­schenden Klasse, die gedan­ken­lose Konfu­sion zu verewigen. Und wozu anders werden die syko­phan­ti­schen Schwätzer bezahlt, die keinen andren wissen­schaft­li­chen Trumpf auszu­spielen wissen, als dass man in der poli­ti­schen Ökonomie über­haupt nicht denken darf?“


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