Paywall für die Notaufnahme

Der Natio­nalrat will mit einer Gebühr für Baga­tell­fälle in Notauf­nahmen die Spitäler entla­sten. Dabei beruht die Initia­tive auf proble­ma­ti­schen Stereo­typen – und droht, die Situa­tion ohnehin benach­tei­ligter Gruppen zu verschlim­mern. Eine Analyse. 
Die Notaufnahme des Zürcher Universitätsspitals. (Foto: Wikicommons)

Wer in der Notauf­nahme eines Spitals sitzt, möchte möglichst rasch behan­delt werden. Diese sind aber zuse­hends über­füllt, was nicht nur zu gefähr­lich langen Fran­cisco Javier Bautista de la Cruz­War­te­zeiten führt, sondern auch Personal und Struk­turen über­be­la­stet. Eine parla­men­ta­ri­sche Initia­tive des ehema­ligen GLP-Natio­nal­rats Thomas Weibel (ZH) verspricht jetzt eine einfache Lösung.

Gemäss der Initia­tive handle es sich bei einem grossen Teil der Konsul­ta­tionen in Spital­not­auf­nahmen um soge­nannte „Baga­tell­fälle”, die den echten Notfällen den Zugang zu Hilfe erschwerten. Diese Baga­tell­fälle könnten aber eben­sogut von Hausärzt*innen behan­delt werden, zu etwa der Hälfte der Kosten. Eine Revi­sion des Kran­ken­ver­si­che­rungs­ge­setzes soll es Kantonen nun ermög­li­chen, vor Ort eine Gebühr von beispiels­weise 50 Franken zu erheben, wenn jemand eine Notfall­sta­tion aufsucht. Damit soll der zuneh­mende Strom an Patient*innen vermehrt zu Hausärzt*innen, Apotheken und 24-Stunden-Notfall­praxen gelenkt werden. Ausnahmen von der Gebühr sieht die Initia­tive ledig­lich für Kinder und Jugend­liche unter 16 Jahren, bei einer statio­nären Behand­lung oder bei Zuwei­sung durch medi­zi­ni­sche Fach­kräfte vor.

Der Natio­nalrat hat der Initia­tive letzte Woche mit 108 zu 85 Stimmen bei einer Enthal­tung folge­ge­geben, getragen von der Frak­tion der SVP, der libe­ralen, der grün­li­be­ralen und der Hälfte der Mitte-Fraktion.

Weder umsetzbar noch sinnvoll

Wer 50 Franken für einen Baga­tell­fall zahlen muss, über­legt sich den Spital­be­such zweimal. Scheint auf den ersten Blick einleuch­tend. Trotzdem zwei­feln verschie­dene Spitäler, Verbände und Expert*innen an der prak­ti­schen Umsetz­bar­keit. Dies beginnt für Stefan Althaus vom Verband der Schweizer Spitäler H+ bereits damit, dass eine klare Defi­ni­tion von Baga­tell­fällen nicht existiert und auch kaum möglich sei. „Ein Notfall liegt vor, wenn Betrof­fene nach eigenem Ermessen drin­gend Hilfe brau­chen”, sagt Althaus. Die Initia­tive sieht zwar dann von der Gebühr ab, wenn Patient*innen nach der Notauf­nahme stationär aufge­nommen werden. Damit würde aber bei denje­nigen Notfällen eine Gebühr erhoben, die nur eine ambu­lante Behand­lung brau­chen, wie bei einer Schnitt­ver­let­zung auf der Baustelle. In ihrem Votum warnt die SP-Natio­nal­rätin Yvonne Feri während der Natio­nal­rats­de­batte deshalb: „Pati­en­tinnen und Pati­enten könnten unnö­ti­ger­weise statio­näre Behand­lungen verlangen, um die Gebühr zu umgehen.” Das bestreitet Chri­stophe Kaempf vom Kran­ken­kas­sen­ver­band Santé­su­isse: „Ein Arzt muss zuerst ein Diagnose fest­stellen, danach erfolgt ein ärzt­li­cher Entscheid, ob die Behand­lung stationär oder ambu­lant erfolgt.” Es bleibt aller­dings frag­würdig, ob Ärzt*innen Patient*innen vor die Tür stellen, die eine statio­näre Behand­lung verlangen – und wie diese darauf reagieren.

Eine weitere Ausnahme sieht die Initia­tive bei einer vorher­ge­henden Konsul­ta­tion vor, sei es durch die eigene Haus­ärztin, den Apotheker oder das Ärztefon. Sie lässt aller­dings offen, wie dies über­prüft werden soll, wie stark die Notauf­nahmen mit der Über­prü­fung bela­stet würden und welche Mehr­ko­sten die Admi­ni­stra­tion produ­zieren würde. In Deutsch­land wurde bereits 2004 eine Gebühr für Baga­tell­fälle einge­führt – und 2012 aus den obigen Gründen wieder abgeschafft. 

Der Verband der Schweizer Spitäler H+ warnt ausserdem davor, die Diagnose den Patient*innen zu über­lassen. „Es ist schwer bis  unmög­lich, in einem schlechten Zustand ‚objektiv’ zu unter­scheiden zwischen einem Baga­tell­fall und einem Notfall”, sagt Althaus. Das setzt finan­zi­elle Fehl­an­reize für die Ärmsten: Wenn 50 Franken eben doch viel Geld sind, wird man sich zweimal über­legen, bei einem Stechen in der Brust oder ähnlich diffusen Symptomen ins Spital zu gehen. Das birgt Risiken, erklärt Althaus: „Wer aus Angst vor einer Gebühr seinen schlechten Zustand (zu lange) igno­riert und davon absieht, in den Spital­not­fall zu gehen, setzt sich gege­be­nen­falls gesund­heit­li­chen Risiken aus. Zudem kann sich erst im Nach­hinein, aufgrund einer konkreten Diagnose, heraus­stellen, ob der Eintritt über den Notfall eine Baga­telle oder ein echter Notfall gewesen ist.” Von Besser­ver­die­nenden hingegen ist kaum anzu­nehmen, dass ein Fünf­ziger sie von der Notauf­nahme fern­hält. Eine israe­li­sche Studie des Journal of Legal Studies von 2000 hat gezeigt, dass Menschen ihr Fehl­ver­halten nicht ablegen, wenn kleine Bussen bei staat­li­chen Leistungen erhoben werden. Wer es sich leisten kann, über­sieht das Preis­schild. Die Ärmsten aber schreckt es ab.

Die Wehlei­digen

Die Über­be­la­stung der Notauf­nahmen in Spitä­lern ist unbe­streitbar. Die letzte umfas­sende Studie des Schwei­ze­ri­schen Gesund­heits­ob­ser­va­to­riums Obsan verzeich­nete zwischen 2007 und 2011 eine Zunahme um 26 Prozent bei Konsul­ta­tionen von Notauf­nahmen. Ein anhal­tender Trend, den auch die Schweizer Spitäler mit haus­ei­genen Zahlen bestä­tigen. Doch dem Vorstoss liegt ein zutiefst proble­ma­ti­scher Stereotyp zugrunde: die Wehlei­digen. „Im Spital­not­fall ist kein Platz für Wehweh­chen” titelte etwa die NZZ lapidar. Wer wegen eines „Bobo” in die Notauf­nahme renne, solle die Kosten selbst tragen. Auf Plakaten des Kantons Luzern appel­liert sogar DJ Bobo mit dem Slogan „Gehen Sie nicht wegen jedem Bobo zum Arzt!” an die Eigen­in­itia­tive. Ähnliche Töne auch im Parla­ment: In ihrem Votum spricht die Berner GLP-Natio­nal­rätin Kathrin Bert­schy von Menschen mit fehlendem „Kosten­be­wusst­sein”, die „unüber­legt am Wochen­ende ins Spital gehen statt zum Arzt.”

Dabei lässt sich das Bild der Wehlei­digen, die wegen jedem Schnupfen die Notfall­pforten verstopfen, gar nicht belegen. Gemäss der Studie von Obsan steigt die Anzahl der Notfallpatient*innen zwar, der Anteil der Hospi­ta­li­sie­rung bleibt aber mit rund einem Drittel stabil. Laut den Studienautor*innen gibt das einen Hinweis darauf, dass die Anzahl an Baga­tell­fällen gar nicht zunimmt. Dies bestä­tigt auch Nicolas Drechsler vom Unispital Basel (USB). Hier werden alle Ankom­menden in fünf Prio­ri­täts­stufen tria­giert: „Die Fälle, die in die tiefste Einstu­fung fallen, also keine oder nur eine kleine, routi­ne­mäs­sige Versor­gung brau­chen, machen einen verschwin­dend kleinen Prozent­satz aus, der übri­gens am USB in den letzten Jahren auch nicht gestiegen ist (unter 2 Prozent). Ein Drittel der Pati­enten auf dem Notfall wird bei uns danach stationär aufge­nommen, ein Drittel braucht weiter­ge­hende Abklä­rungen. Es ist also schon einmal nur ein Drittel, das theo­re­tisch auch anderswo versorgt werden könnte.” Die tatsäch­liche Anzahl der Baga­tell­fälle der gesamten Schweiz wurde bisher nie erhoben und bleibt somit offen für Spekulation.

Eindeutig belegt ist aber, bei wem die Wahr­schein­lich­keit am höch­sten ist, die Notauf­nahmen zu nutzen: bei chro­nisch Kranken, bei Kindern bis sechs und bei Menschen über 86 Jahren. Kinder sind von der Gebühr ausge­schlossen. Somit sind beson­ders chro­nisch Kranke und ältere Menschen von der GLP-Gebühr betroffen; nicht gerade Menschen, denen man leicht­fertig eine falsche Selbst­dia­gnose vorwerfen sollte. Eine Gruppe, deren körper­liche Beschwerden ständig baga­tel­li­siert werden und die noch keinerlei Erwäh­nung in der Debatte gefunden hat, sind Frauen. Wie eine Studie des Zürcher Stadt­spi­tals Triemli zeigt, zögern Frauen medi­zi­ni­sche Hilfe bei Herz­in­farkten ohnehin schon länger hinaus als Männer. Ihre Symptome vari­ieren oft, weswegen sie nicht als Notfall erkannt und als Wehweh­chen abgetan werden. Hier eine Busse zu erheben, kann mehr kosten als ein Fünf­ziger – nämlich ein Leben.

Die Initia­tive zeugt noch von einem weiteren, weit verbrei­teten Stereotyp. „Die Schweiz kennt ja die bewährte Tradi­tion, dass Haus­ärzte in der Regel die erste Anlauf­stelle für medi­zi­ni­sche Versor­gung sind”, postu­lierte der Zürcher GLP-Natio­nalrat Martin Bäumle. Wer diese Tradi­tion nicht kennt, ist für viele klar: „Ausländer wissen schlicht nicht, dass es im hiesigen Gesund­heits­sy­stem passen­dere Ange­bote gibt”, heisst es in der NZZ. Zu den Wehlei­digen gesellen sich in der Diskus­sion damit immer auch die Ausländer*innen, die mit allerlei Lappa­lien die Spitäler behel­ligen. Aber auch dieses verbrei­tete Vorur­teil findet keine Belege. So hat eine Befra­gung der ZHAW am Waidspital Zürich erwiesen, dass 75 Prozent der Ausländer*innen im Hausärzt*innenmodell versi­chert sind; eine ähnlich hohe Rate wie bei Schweizer*innen. Der effek­tive Anteil auslän­di­scher Patient*innen ist nicht bekannt, weil die Natio­na­lität bei ambu­lanten Behand­lungen nicht erfasst wird. Gemäss Obsan ist der Anteil an statio­nären Behand­lungen bei euro­päi­schen Patient*innen aber gleich hoch wie bei schwei­ze­ri­schen. Patient*innen von ausser­halb von Europa werden sogar häufiger als Schweizer*innen hospi­ta­li­siert. Das könnte daran liegen, dass Ausländer*innen ärzt­liche Hilfe tenden­ziell später in Anspruch nehmen, also wenn die Beschwerden bereits stärker sind. „Dieses Phänomen erklärt sich durch Hinder­nisse sozio­öko­no­mi­scher Art, fehlende Kran­ken­ver­si­che­rung, finan­zi­elle Umstände, die der Gesund­heit zweite Prio­rität geben, und sprach­liche Schwie­rig­keiten mit der Angst, sich nicht verständ­lich machen zu können”, so die Autor*innen der Obsan-Studie.

Andere Wege

Die Hausärzt*innen werden immer älter und weniger, vor allem auf dem Land, und nicht jede*r möchte Notfälle in der eigenen Praxis behan­deln. Patient*innen wollen rasch und ausser­halb ihrer Arbeits­zeit behan­delt werden – ob man das nun gutheisst oder nicht. In dieser gesell­schaft­li­chen Realität steht der Vorstoss quer; er ist ein Stück Nost­algie einer längst vergan­genen Gesund­heits­po­litik. Dabei sind die Spitäler bereits einen Schritt weiter. Einige bieten etwa vorge­la­gerte Triagen an, die schon beim Eintritt drin­gende von weniger drin­genden Fällen trennen. Das redu­ziert Warte­zeiten, garan­tiert eine rasche erste Beur­tei­lung und stellt eine geeig­nete Behand­lung rund um die Uhr sicher. Andere betreiben walk-in-Kliniken als nieder­schwel­lige Anlauf­stellen für körper­liche Beschwerden und Unfälle, die keine direkte Konsul­ta­tion im Spital verlangen. In diese Struk­turen werden auch Hausärzt*innen einge­bunden, was die Häufig­keit und Dauer ihrer Notfall­dienste massiv redu­ziert. So verfügt das Kantons­spital Baden bereits seit 2007 über ein erfolg­rei­ches inter­dis­zi­pli­näres Notfallzentrum.

Medi­zi­ni­sche Hilfe muss 24/7 ange­boten werden können. Wenn die Spitäler diese Aufgabe nicht über­nehmen, bleibt offen, wer es sonst tun soll. Deshalb müssen sie entla­stet werden. Eine Gebühr auf Baga­tell­fälle ist aber der falsche Weg. Die Initia­tive zielt auf indi­vi­du­elles Fehl­ver­halten wehlei­diger Patient*innen und sie trifft die Schwäch­sten. Damit wird unsere soli­da­ri­sche Gesund­heits­ver­sor­gung auf Kosten derer geflickt, die sie am nötig­sten haben. Und die Erfolgs­aus­sichten sind ohnehin mehr als frag­würdig. Die Initiant*innen müssen einsehen, dass es in dem Falle leider nicht ist wie bei Globuli: Es hilft nicht alles, nur weil man fest dran glaubt.


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