Poli­tisch kontro­vers und theo­re­tisch span­nend — „Das ist geil, das mach ich!“

Nukle­a­r­in­ge­nieur Chri­stian Bolesch spricht mit das Lamm über das Gute, Zukunfts­ängste und die Ener­gie­stra­tegie 2050. 
In seinem Element: Christian Bolesch und sein Dryout-Szenario-Simulator (Foto: Xenia Klaus)

Donners­tag­morgen, 9.15 Uhr. Ich bin an einem Ort, an dem ich nie wirk­lich sein wollte: einer Master­vor­le­sung für Maschi­nen­baue­rInnen. In einem Vorle­sungs­raum ohne Tages­licht. Die Haut der zu 95% männ­li­chen Studie­renden sieht denn auch nicht so aus, als würde sie viel Sonne vertragen. Aber das Lamm hat mich losge­schickt, um einen Nukle­ar­energie-Freund zu finden, und so sitze ich nun im Keller der ETH Zürich. Vorne steht Chri­stian Bolesch – sympa­thi­sches Lächeln, gross, dünn, bleich; mit Brille, Wander­schuhen, Jeans und einem weissen Hemd – und erzählt den Studen­tInnen von Bubbles“. Einmal vergleicht er etwas mit einer Pizza, sonst verstehe ich wenig. Aber Chri­stian ist offen­sicht­lich begei­stert davon.

Moti­vator Fukushima

Szenen­wechsel: Ich sitze in Chri­stians Büro im Schatten des impo­santen Kamins auf dem Maschi­nen­la­bo­ra­to­rium, in dem die ETH einmal einen haus­ei­genen Kern­re­aktor plat­zieren wollte. Er ist zufrieden mit der heutigen Vorle­sung. Aber Verbes­se­rungs­po­ten­zial, das gebe es immer. Der 30-jährige Schwarz­wälder ist nicht ausschliess­lich Dozent, sondern arbeitet in der Gruppe für Nukle­ar­ener­gie­sy­steme an seinem Doktor­titel. Das Thema: The expe­ri­mental inve­sti­ga­tion of liquid film thic­k­ness effects of func­tional spacer grids in a BWR dryout scenario by means of cold neutron tomo­graphy“, also ein Projekt in der leicht ange­wandten Grund­la­gen­for­schung“. Für Laien: Stell dir vor, du kochst Spaghetti und vergisst den Topf, bis alles Wasser weg ist. Der wird dann irgend­wann zu heiss. Same same but diffe­rent in einem Atom­kraft­werk. Wenn das Kühl­wasser einen Brenn­stab nicht mehr benetzt, ist das erst mal nicht der Supergau, aber defi­nitiv nicht optimal. Meine Forschung zielt darauf ab, dies zu vermeiden.“

Ob er sich schon immer für die expe­ri­mental inve­sti­ga­tion of liquid film thic­k­ness effects of func­tional spacer grids in a BWR dryout scenario by means of cold neutron tomo­graphy“ inter­es­siert habe? Nicht immer“, aber schon als Teenie habe er auf Wiki­pedia alles zu Kern­energie gecrawlt“, und als er dann im Sommer 2010 seinen Bachelor in Physik abschloss, war Kern­energie ein heisses Thema. Die Kontro­verse in Kombi­na­tion mit der span­nenden Theorie hat ihn faszi­niert: Ich habe mir gedacht, das ist geil, das mach ich.“ So ist er beim Master in Nuclear Engi­nee­ring gelandet. Er wusste damals nicht, wie viel heisser das Thema rund ein halbes Jahr später mit Fuku­shima noch werden sollte. Die ableh­nenden Reak­tionen über seine Studi­en­wahl nahmen dadurch zwar zu, seine eigene Begei­ste­rung aber ebenfalls.

Dass Fuku­shima eine Begei­ste­rung jedweder Art auslösen kann, finde ich etwas irri­tie­rend. Darauf ange­spro­chen meint er: Das ist wohl mein Problem: Ich kann mich für fast alles begei­stern.“ Nach Abschluss des Studiums habe er sich über­legt, in die Medi­zi­nal­technik zu gehen. Krebs­for­schung heisst das konkret. Die Stelle hier hat dann aber besser in seinen Zeit­plan gepasst, was ganz gut sei, denn so habe er keine Entschei­dung treffen müssen. Dies sei nämlich nicht einfach, wenn man sich für alles inter­es­siere. Und nein, er hätte sich nicht nütz­li­cher“ gefühlt in der Krebs­for­schung, denn: Atom­kraft­werke bringen der Mensch­heit genau so viel Gutes.“ Und hier liegt wohl der Schlüssel zum Verständnis von Chri­stians Begei­ste­rung: Er war nicht von der Kata­strophe in Fuku­shima faszi­niert – sondern ange­sta­chelt von der Idee, eine Technik, von deren Nutzen er über­zeugt ist, 100% sicher zu machen.

Der Blick auf die Welt da draussen: verstellt

Wenig über­ra­schend ist Chri­stian denn auch kein grosser Anhänger der Ener­gie­stra­tegie 2050. Er findet sie zu wenig diffe­ren­ziert. Zu einseitig, zu schwarz-weiss. Aller­dings: Die Gegen­kam­pagne, die findet er auch irgendwie“ – Chri­stian hält kurz inne – scheisse“. Es ist bezeich­nend für ihn, wie über­legt er dieses Wort benutzt. Scheisse aus den glei­chen Gründen: zu undif­fe­ren­ziert, zu einseitig, zu schwarz-weiss. Und weil sie auf fossile Brenn­stoffe setzt. Die findet Chri­stian nämlich auch ziem­lich scheisse“. Wenn das mit den erneu­er­baren Ener­gien hinhaue, dann noch so gerne, dann solle man das auch pushen. Nur sieht er das noch nicht. Wenn man sagt, in 20 Jahren ist das Spei­cher­pro­blem gelöst, dann kann man auch sagen, in 20 Jahren haben wir 100% sichere AKWs.“ Und AKWs abschaffen, solang noch Öl und Kohle geför­dert wird, das passt ihm gar nicht in den Kram.

Norma­ler­weise hätte man vom engen Zwei­mann­büro aus Sicht auf die Kuppel des Haupt­ge­bäudes der ETH, aber momentan ist das Fenster von einem Bauge­rüst komplett zuge­mauert. Chri­stian stört es nicht, dass ihm der Blick auf die Aussen­welt verstellt bleibt. Wenn er hier ist, muss er sich sowieso auf sein Baby“, den selbst gebauten Dryout-Szenario-Simu­lator, konzen­trieren. Und wenn er nicht arbeitet, beschäf­tigt er sich mit seinem anderen Baby“: dem Kontra­bass, der in diesem Büro eigent­lich keinen Patz hat, aber trotzdem in der Ecke steht und auf seinen Einsatz wartet. Zum Abschied wird mir denn auch noch ein Flyer für das nächste Konzert in die Hand gedrückt.

Zwischen dunklen Vorle­sungs­sälen, dem abge­schot­teten Büro und dem Kontra­bass – kommen da nicht manchmal Zukunfts­ängste auf? Mir ist schon klar, dass die Kern­energie in der Schweiz und Deutsch­land ein sinkender Dampfer ist. Ob zu Recht oder nicht, ist eigent­lich egal. Aber viel­leicht ist dann einfach irgend­wann einmal ein Switch ange­zeigt. Viel­leicht bleibe ich auch einfach in der akade­mi­schen Welt, viel­leicht werde ich Gymna­si­al­lehrer, viel­leicht lande ich ganz woan­ders. Wer weiss das heute schon“, sagt er und strahlt wie ein Honig­ku­chen­pferd. Oder wie Fuku­shima 2011.

 


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