Bogotá. Nachdem Polizisten den 44-jährigen Kolumbianer Javier Ordóñez im Stadtteil Santa Cecilia de Engativá mit einer Taser-Pistole so gefoltert hatten, dass er kurz darauf im Spital verstarb, sind in der Hauptstadt erneut Proteste ausgebrochen. Ordóñez wurde offenbar angehalten, weil er auf offener Strasse Alkohol getrunken und damit gegen die Lockdown-Massnahmen verstossen hatte.
In ganz Bogotá ist es im Anschluss auf diesen Vorfall in der Nacht auf den 10. September zu Zusammenstössen zwischen Demonstrant*innen und der umstrittenen Anti-Riot-Polizei ESMAD gekommen. Die Kundgebungen waren zunächst friedlich, die Menschen versammelten sich vor dem Polizeiposten CAI Villa Luz, wo Ordóñez zu Tode kam. Die Demonstrationen führten aber schnell zu weiteren spontanen Kundgebungen in anderen Gegenden der Hauptstadt sowie in anderen grösseren Städten Kolumbiens, wo sich die Wut der Bevölkerung gegen lokale Polizeiposten richtete.
Die Misshandlung von Ordóñez durch die Polizei wurde von seinem besten Freund auf Video aufgezeichnet und über die sozialen Netzwerke verbreitet. Im Video ist zu sehen, wie Ordóñez mehrmals fleht „bitte, bitte, jetzt reicht es“, die zwei Polizisten der lokalen Polizeiwache Comando de Acción Inmediata (CAI) ihm aber immer wieder Stromschläge versetzen. Danach wurde er von den Polizisten in das Gebäude des CAI in Villa Luz und kurz darauf in die Klinik Santa María del Lago gebracht, wo er seinen Verletzungen erlag. Die Anwesenden vermuten, dass er auf der Polizeiwache von den Beamten zu Tode geprügelt wurde, da er noch bei Bewusstsein war, als er abgeführt wurde.
Vorfall bringt „Fass zum überlaufen“
Dieser Vorfall hat die Wut wieder entzündet, die zuvor im Lockdown erstickt worden war. Auch der 27-jährige Philosophiestudent Esteban Sarmiento nimmt an den Kundgebungen teil. Er habe den Missbrauch seiner Rechte durch die Machthaber*innen satt, sagt er: „Wir ertragen es nicht mehr und haben nichts mehr zu verlieren.“
Und diese Wut entlud sich in eben dieser Nacht auf den 10. September – mit einer traurigen Bilanz: Mindestens elf Menschen sind durch Polizeigewalt gestorben; der Grossteil von ihnen wurde mit scharfer Munition erschossen. Nach offiziellen Zahlen wurden insgesamt 248 Zivilist*innen verletzt und davon mindestens 66 angeschossen. Bei den Uniformierten sind es 114 Verletzte. Mehrere Medienschaffende berichteten, von Polizeieinheiten angegriffen worden zu sein. Das Verteidigungsministerium teilte mit, dass 53 Polizeistationen und ‑posten angegriffen wurden, von denen mindestens 17 komplett abgebrannt sind. Weiter wurden Linienbusse und Polizeifahrzeuge angezündet.
Regierung weist sämtliche Verantwortung von sich
„Wir sind in den Krankenhäusern, begleiten Angehörige und rekonstruieren die Ereignisse“, twitterte Bogotás Bürgermeisterin Claudia López am Tag darauf. Sie wies sämtliche Verantwortung für den Einsatz von Schusswaffen von sich und redete von einem „Massaker“ an den Jungen. „Es handelt sich hierbei um eine wahllose und unverhältnismässige Anwendung von Gewalt“, sagte sie gegenüber El Tiempo über die Demonstrationen. Gleichzeitig bat sie die Bürger*innen von Bogotá, um 19:00 Uhr wieder in ihre Häuser zurückzukehren, um weitere Auseinandersetzungen zu vermeiden. Auf die Wiedereinführung der Ausgangssperre, so wie sie während des Lockdowns bestanden hatte, verzichtet sie aber.
Präsident Iván Duque forderte Schnelligkeit bei den Untersuchungen, wies aber darauf hin, dass er nicht akzeptieren könne, dass die Polizist*innen des Landes „stigmatisiert und als Mörder*innen“ bezeichnet werden.
Verteidigungsminister Carlos Holmes Trujillo kommunizierte am Morgen nach den Ausschreitungen, dass er bis zu umgerechnet 12’300 Schweizer Franken für Hinweise und Informationen an Informant*innen bezahlt, um die an den Morden und „Akten des Vandalismus“ beteiligten Personen zu identifizieren. Zusätzlich kündete er das Entsenden von 300 Soldat*innen und weiteren 1’600 Polizist*innen in die Hauptstadt an, „um die Ordnung wiederherzustellen“.
Trotz der massiven Repression sind die Proteste in Bogotá und anderen grösseren Städten wie Cali oder Medellín am frühen Donnerstagabend erneut entfacht. Am Freitagabend sind die Proteste auf Städte wie Pereira übergeschwappt. „Obwohl wir Angst davor haben, was uns an den Protesten passieren könnte, lassen wir diesen Moment des Widerstands nicht verstreichen“, sagt Sarmiento. Es gäbe ein noch nie da gewesenes Miteinander und viel gegenseitiges Verständnis in der Bevölkerung.
Verteidigungsminister Carlos Holmes Trujillo kommunizierte am Freitag auf die Reaktion der anhaltenden Proteste, dass die zwei am Mord von Javier Ordóñez beteiligten Polizisten wegen Amtsmissbrauchs und Mordes zu einem Disziplinarverfahren vorgeladen werden. Sie wurden vom Dienst abgezogen.
Inzwischen hat sich der zuständige Polizeigeneral Gustavo Moreno im Namen der Institution für den Tod von Javier Ordóñez entschuldigt und die Familie des Ermordeten um „Verzeihung“ gebeten. Weiter sagte Moreno aber, dass die Handlungen der Polizisten, die im Video zu sehen sind, nicht „typisch“ für die Polizei in Kolumbien seien. Mindestens 167 weitere Beschwerden wegen Missbrauchs durch Angehörige der Polizei während der anhaltenden Proteste sind beim Regierungssekretär in Bogotá eingegangen.
Proteste waren auf „Standby“
Schon seit November 2019 demonstrieren die Menschen in Kolumbiens Städten gegen die rechtskonservative Regierung unter Duque. Vor dem Lockdown waren es vor allem Student*innen, Arbeiter*innen und Bäuer*innen, die in Bogotá, Medellín, Cali und Barranquilla an den Kundgebungen gegen geplante Arbeitsmarkt- und Rentenreformen teilnahmen.
Die Unzufriedenheit der Bevölkerung wird durch die Welle der Gewalt, die Kolumbien während des Lockdowns erfasst hat, noch verstärkt. In den vergangenen Wochen wurde das Land von mehreren Tragödien erschüttert. In Nariño im Süden Kolumbiens wurden innerhalb einer Woche insgesamt 13 Jugendliche von unbekannten Täter*innen ermordet.
Im September dieses Jahres zählt das Observatorium des Instituts für Studien über Entwicklung und Frieden (Indepaz) rund 55 „Massaker“ durch bewaffnete Gruppen. Als „Massaker“ gelten der UNO zufolge Tötungsdelikte an mehr als drei Personen am selben Ort durch dieselben Täter*innen. Insgesamt haben so 2020 rund 218 Menschen (Stand: 8. September 2020) im Kontext rivalisierender Gruppen im Bereich des Drogenhandels und des illegalen Bergbaus ihr Leben verloren.
Massive Polizeigewalt in Kolumbien
Aber nicht nur rivalisierende Gruppen mit illegalen Geschäftspraktiken verüben Gewalt an der Bevölkerung: Gemäss der kolumbianischen Plattform gegen Polizeigewalt Temblores Ong sind in den letzten drei Jahren in Kolumbien mindestens 639 Personen durch Polizeigewalt gestorben. Weiter zählen sie rund 40’500 Fälle von Gewaltanwendung gegen Personen und 241 Fälle von sexuellem Missbrauch durch die Polizei. Und schon im November 2019 wurden an den Kundgebungen, an denen über 200’000 Menschen teilnahmen, drei Personen getötet.
Dass jetzt ein 46-jähriger unbewaffneter Familienvater und Anwalt von der Polizei ermordet wurde, ist nur die Spitze des Eisbergs – und giesst Öl ins Feuer der Proteste. Es ist anzunehmen, dass die Proteste auch unter den Bedingungen von Covid-19 anhalten werden.
Update vom 14. September 2020 (abends): Auch am Wochenende ging die nationale Polizei wieder mit massiver Gewalt gegen die Protestierenden vor. Mittlerweile wurden 13 Todesopfer gemeldet und die Proteste haben sich auf die Karibikküste (Cartagena) ausgeweitet. An der Pressekonferenz am Samstag redete Verteidigungsminister Trujillo weiterhin von „Vandalismus und Anarchisten“ und sogar davon, dass die Proteste von FARC-Dissidenten und der Nationalen Befreiungsarmee (ELN) infiltriert worden seien. Gleichzeitig tauchen in der Presse und den sozialen Medien immer mehr Videos auf, worauf zu sehen ist, wie die „ESMAD“ und andere Polizeieinheiten gewalttätig auf unbewaffnete Protestierende losgehen. An der von der Bürgermeisterin Claudia López initiierten „Veranstaltung für Vergebung und Versöhnung“, die auf der Plaza de Bolívar im Zentrum von Bogotá stattfand, blieb der Stuhl von Präsident Ivan Duque leer.
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