„Die Leute sagen, in der Schweiz gebe es keinen Rassismus“

Am 21. Januar feierte das Thea­ter­stück Bulle­stress am Zürcher Schau­spiel­haus Premiere. Es ist ein Stück, das zum Zuhören zwingt und zur Reflek­tion animiert – auch wenn es manchmal wehtut. 
Von links nach rechts: Flynn Gabriel, Pauline Avognon, Fayrouz Gabriel. (Foto: Gina Folly)

„Also haben die Bullen ihn erwischt?

Was erwischt? Er hat nichts gemacht?

„Wie, nichts gemacht? Hat er provo­ziert?

„Nein er hat nur seinem Freund geholfen.

Aber…

„Der war einfach ein Psycho, der Bulle.“

„Aber die haben doch Regeln? Es war sicher ein anderer Bulle dabei?

Ein dritter junger Erwach­sener schaltet sich in die Diskus­sion ein, von seinen Vorredner:innen unter­scheidet ihn auf den ersten Blick ledig­lich die helle Haut­farbe. Dass dieser Unter­schied nach Jahren der Freund­schaft plötz­lich an beis­sender Rele­vanz gewinnen wird, zeichnet sich hier erst vorsichtig ab:
„Ja wie, andere Bullen? Es heisst schliess­lich ACAB: All Cops Are Bastards!“

Wir befinden uns mitten in der zweiten Szene des Stücks mit dem viel­sa­genden Namen Bulle­stress, das diesen Freitag am Schau­spiel­haus Zürich Premiere feierte.

Im Mittel­punkt von Bulle­stress steht die fünf­köp­fige Musik­gruppe (oder gemäss Selbst­be­zeich­nung „Crew“) mit dem Namen Space­shit. Die Mitglieder von Space­shit sind eng mitein­ander befreundet, die Karriere kommt langsam in die Gänge, man wagt es zu träumen. 

Die Band ist auf sympa­thi­sche Art ein Klischee ihrer selbst, die Jugend­sprache nimmt man den Darstel­lenden genauso ab wie die stili­sierten WhatsApp-Unter­hal­tungen; nichts wirkt „cringe“, alles „real“. Man macht Musik, kifft, geht aus, macht Witz­chen über „die Bullen“. ACAB ist ein konstantes Neben­ge­räusch, eine latente Lebens­ein­stel­lung, die auf Buttons gegen aussen getragen wird.

Dann jedoch wird der Bruder der Sängerin Ella scheinbar unver­mit­telt zum Opfer rassi­sti­scher Poli­zei­ge­walt. Die daraus erwach­sende Über­for­de­rung der einzelnen Band­mit­glieder und der Umgang damit ist das tragende Thema von Bulle­stress.

Theater mit Triggerwarnung

Suna Gürler, die Regis­seurin des Stücks, und die Drama­turgin Fadrina Arpagaus hatten das Skript für Bulle­stress bei den beiden bekannten Slampoet:innen, Schauspieler:innen und Künstler:innen Fatima Moumouni und Laurin Buser in Auftrag gegeben. Entstanden ist ein Kammer­spiel mit fünf­köp­figem Ensemble. Alle der 18- bis 23-jährigen Darsteller:innen stehen zum ersten Mal auf der „grossen“ Bühne des Schauspielhauses.

Bulle­stress ist ein Theater mit Trig­ger­war­nung: „Diese Insze­nie­rung enthält verbale Schil­de­rungen von rassi­stisch moti­vierter Gewalt und Rache­phan­ta­sien und kann mögli­cher­weise retrau­ma­ti­sie­rend wirken“, steht hierzu auf der Website.
Und es soll mehr sein als bloss ein Stück.

Einzelne Vorstel­lungen werden mit nach­fol­genden Diskus­si­ons­runden ergänzt, und die Künst­lerin und Darstel­lerin Mandy Abou Shoak beglei­tete die Crew in den Vorbe­rei­tungen zum Stück mit Anti-Rassismus-Trai­ning und Austausch. „Wir mussten uns immer die Frage stellen: Welche Bilder repro­du­zieren wir auf der Bühne? Welche Sprache benutzen wir?“, erzählt Fadrina Arpagaus. 

Gleich­zeitig, so Suna Gürler, hätte man in den Vorbe­rei­tungen einen grossen Fokus auf den Schutz der Darstel­lenden gelegt, absicht­lich fiktio­nale Figuren mit fiktio­nalen Diskri­mi­nie­rungs­sze­na­rien geschaffen und nicht auf die Biogra­fien der Darsteller:innen zurück­ge­griffen. „Auch bei der Frage der Abgren­zung hat Mandy die Darsteller:innen unter­stützt“, sagt die Regisseurin.

Darsteller:in Pauline Avognon, sagt, es sei dennoch nicht immer leicht gewesen, ihre Rolle der Ella von den eigenen Erfah­rungen zu trennen. Die Emotionen und die Wut, um die es im Stück geht, kenne Pauline schon lange: „Nach den Proben war es manchmal schwierig, einfach abzu­stellen. Auch wenn die Erfah­rungen fiktiv sind, sind sie einem oft nicht fremd.“

„Während meiner Ausbil­dung in der Pflege wurde ich immer wieder mit Aussagen konfron­tiert, wonach es in der Schweiz keinen Rassismus gebe, es ‚hier nicht so schlimm‘ sei“, erzählt auch Fayrouz Gabriel, die im Stück Astro spielt. Umso wich­tiger sei es, das Thema anzu­spre­chen und den Leuten zu sagen: „Hallo, macht mal eure Augen auf, Rassismus gibt es nicht nur in den USA.“

Mehr als Bullestress

Auf der Bühne entflammt nach dem rassi­sti­schen Über­griff gegen­über Ellas Bruder Karim im Kreis der fünf befreun­deten Musiker:innen ein Ringen um Über­for­de­rung und Mitge­fühl, um die Einsicht, dass ein und dasselbe Erlebnis von jeder Person anders erfahren wird, darum, wer hier wie viel Raum einnehmen soll – und um die Über­trag­bar­keit von subjek­tiven Erfah­rungen auf andere. 

Bulle­stress handelt schon bald nicht mehr nur von Poli­zei­ge­walt, sondern auch von „White Saviou­rism“ und insze­nierter Verbun­den­heit, von Selbst­ge­fäl­lig­keit, aber auch von Inter­sek­tio­na­lität, Rachefan­ta­sien und Dank­bar­keit. Die Perfor­mance der sozialen Klasse, der Sexua­lität, der Geschlechts­iden­tität: Das Zusam­men­spiel dieser Faktoren fliesst nach und nach, Szene um Szene, weiter in die Hand­lung ein und macht diese zuneh­mend mehr­di­men­sional und plastisch.

Für die Zuschauer:innen ist Bulle­stress ein unan­ge­nehmes, teil­weise über­for­derndes Stück. Anfangs bunt und laut, wird die Hand­lung zuneh­mend wütend, rau, schwer zu ertragen. Im Kern geht es bald nicht mehr um „den einen Bullen“, sondern um struk­tu­rellen und gelebten Rassismus im scheinbar sterilen Wirkungs­raum Schweiz, wo man gerne mit dem Finger auf andere zeigt. Und vor allem auch darum, wie schwer es ist, als Freun­des­kreis und als Indi­vi­duum mit der Thematik umzu­gehen, wenn nicht alle glei­cher­massen betroffen sind, nicht denselben Wissens­stand zum Thema haben.

Was Bulle­stress ausmacht, ist, dass das Stück bis zum Schluss keine verein­fachten Lösungs­an­sätze präsen­tiert und zugleich keine defi­ni­tive Posi­tion einnimmt. Es lässt den Zuschauer:innen offen, auf wessen Seite sie sich stellen. Und schliess­lich darf, ja muss man sich gerade als weisse Zuschauerin immer auch fragen: Wie würde ich reagieren? Was für Stereo­typen und Bilder repro­du­ziere ich, wenn ich über Rassismus spreche, auch wenn ich es „eigent­lich nur gut meine“? Wessen Erfah­rungen gestehe ich wie viel Raum zu, wenn direkt Betrof­fene erzählen? Höre ich dann über­haupt richtig zu?

Schliess­lich liegt darin die Stärke dieses Thea­ter­stücks: im Aufzeigen von unter­schied­li­chen Zugängen, im Aushalten von Disso­nanz. Und darin, dass die Zuschauer:innen hier keine andere Wahl haben, als sich dem Thema zu stellen. So ist der wohl stillste Moment des Stücks auch der Stärkste, weil es keinen Ausweg aus dem Zuhören gibt, als die fünf Darstel­lenden die Namen bekannter Opfer rassi­sti­scher Poli­zei­ge­walt in der Schweiz verlesen: Wilson, Lamine Fatty, Mike Ben Peter, Nzoy. Hinzu kommen all jene, deren Namen unbe­kannt bleiben.


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