Poli­zei­liche Inkon­se­quenz: Die Polizei misst mit unter­schied­li­chen Ellen

Verfolgt die Polizei in Zürich und Bern eine eigene Agenda, um aus ihrer Sicht nicht erwünschte poli­ti­sche Strö­mungen zu unter­drücken und zu krimi­na­li­sieren? Am 1. Mai ging die Polizei in Bern und Zürich gegen linke Demonstrant*innen vor. Am 9. Mai hingegen liess sie Hunderte Verschwörungstheoretiker*innen weit­ge­hend gewähren. 
Am Helvetiaplatz. (Foto: Recherchekollektiv Element Investigate)

Mehrere Wochen lang hat es in der Schweiz keine öffent­li­chen Kund­ge­bungen und Demon­stra­tionen gegeben. Im Vorfeld des 1. Mai kam die Diskus­sion auf, wie Menschen, die nun mit Kurz­ar­beit und existen­zi­ellen Ängsten leben müssen, dies am Tag der Arbeit öffent­lich kundtun können.

Das BAG liess dazu (im Tages-Anzeiger vom 30. April 2020) verlauten: „Denkbar sind alle Formen von poli­ti­schen Äusse­rungen, bei denen es zu keinen Menschen­an­samm­lungen kommt (beispiels­weise Aufstellen von Plakaten im öffent­li­chen Raum).“ In vielen Städten konnten Klein­gruppen denn auch Trans­pa­rente und Schilder plat­zieren, nicht aber in Bern und Zürich. Dort ging die Polizei rigoros gegen jegliche Art der Meinungs­äus­se­rung vor. So hielt die Berner Polizei eine Gewerk­schafts­mit­ar­bei­terin an, die mit ihrem Kind im Kinder­wagen und mit einer Freundin unter­wegs war. Im Kinder­wagen führte die Mutter auch ein Karton­schild des Gewerk­schafts­bunds mit. Darauf stand: „Soli­da­rität. Jetzt erst recht!“ Es wurde von der Polizei sicher­ge­stellt, obwohl davon ja wohl keine Infek­ti­ons­ge­fahr ausging.

Das von der Polizei einge­zo­gene Karton­schild und die danach ausge­hän­digte Quit­tung. (Foto: Recher­che­kol­lektiv Element Investigate)

Auf Anfrage teilte die Kantons­po­lizei Bern mit, man habe die Bildung von Demon­stra­tionen verhin­dern wollen. In einer Demo­kratie kann es aber kein Notrecht geben, das es der Polizei erlauben würde, poli­ti­sche Plakate mit Verweis auf die Corona-Krise zu beschlagnahmen.

Der Fall ist nur einer von mehreren. Anders als in Basel, wo die Polizei hunderte Demonstrant*innen noch gewähren liess, gingen die Behörden in Zürich und Bern gegen Personen vor, die weder die erlaubte Grup­pen­grösse über­schritten noch die Abstands­re­geln miss­ach­teten. Die meisten Manifestant*innen trugen sogar Schutz­masken – ganz im Gegen­satz zu den Polizeikräften.

In Basel fand eine 1. Mai-Demo mit etwa 800 Teil­neh­menden statt. Soweit ich es beob­achten konnte, trugen alle Teil­neh­menden Schutz­masken. Die Polizei war nur mit einem Motor­rad­po­li­zi­sten präsent, welcher vorneweg fuhr und in Koor­di­na­tion mit Bedien­steten der Verkehrs­be­triebe jeweils den Verkehr aufhielt, bis der Demo­stra­ti­onszug passiert hatte. Zu keiner Zeit hat die Polizei darauf aufmerksam gemacht, dass die Demo nicht bewil­ligt ist. Nachdem die Demo sich am Wett­stein­platz aufge­löst hatte, nahm die Polizei die Perso­na­lien mehrerer Personen auf, die durch Trans­pa­rente oder Plakate als Demoteilnehmer*innen erkennbar waren. Diesen Personen wurde ein Buss­geld­ver­fahren ange­kün­digt, so auch mir, als ich eine dieser Poli­zei­ak­tionen fotografierte.

Obwohl ich mich als Pres­se­ver­treter auswies, wurde ich als Demon­stra­ti­ons­teil­nehmer bezeichnet. Ich wies darauf hin, dass ich die Demo doku­men­tierte und an keiner Hand­lung der Demo teil­ge­nommen hatte. Ich hatte mich neutral verhalten, weder an Sprech­chören betei­ligt noch ein Trans­pa­rent getragen. Es ist bedenk­lich, wenn Poli­zei­kräfte auf diese Weise versu­chen, Pressevertreter*innen einzu­schüch­tern und damit das Grund­recht der Pres­se­frei­heit angreifen.

Ein ganz anderes Bild zeigte sich dann am 9. Mai auf dem Zürcher Sech­se­läu­ten­platz. Etwa 200 Personen hatten sich – teil­weise sehr dicht beiein­an­der­ste­hend – versam­melt und äusserten mit Trans­pa­renten und Flug­blät­tern Kritik an den Corona-Mass­nahmen. Die Demonstrant*innen  pran­gerten die angeb­liche Corona-Diktatur an und machten dabei auch Werbung für verschwö­rungs­ideo­lo­gi­sche Medien wie Swiss Propa­ganda Rese­arch, eine Webseite, deren Hinter­grund­per­sonen anonym bleiben wollen.

Obwohl die nicht ange­mel­dete Veran­stal­tung im Voraus bekannt war, tauchte die Polizei erst mit Verspä­tung auf. Zwischen­zeit­lich waren bis zu acht Poli­zei­wagen auf dem Platz, doch blieben die meisten Beamten in den Fahr­zeugen. Es gab drei Durch­sagen laut denen die Versamm­lung wegen der Corona-Verord­nung nicht erlaubt und nicht geneh­migt gewesen sei. Die Anwe­senden sollten sich in kleinen Gruppen entfernen, andern­falls würden Anzeigen und Geld­bussen drohen. In der dritten Durch­sage wurde die Räumung ange­kün­digt, doch kurz danach verliessen die ersten Poli­zei­fahr­zeuge unter dem höhni­schen Jubel der Prote­stie­renden die Szene.

Die Aktion der Verschwörungstheoretiker*innen rich­tete sich zum einen ganz klar gegen das rigo­rose Versamm­lungs­verbot und die Einschrän­kung von Grund­rechten, ein durchaus nach­voll­zieh­bares Anliegen. Eine Frau zeigte aller­dings auch ein Schild mit der Frage „Impfen macht frei?“, eine Anspie­lung auf den Schriftzug „Arbeit macht frei“, der über den Eingangs­toren mehrerer ehema­liger NS-Konzen­tra­ti­ons­lager zu finden ist, so beispiels­weise in Ausch­witz. Damit wird eine vermeint­lich bevor­ste­hende Impf­pflicht mit den Schrecken des Holo­caust gleich­ge­setzt und rela­ti­viert. Der Aargauer Kardio­loge Thomas Binder, ein Wort­führer der Corona-Skep­tiker, war eben­falls anwe­send. Er wurde von den Anwe­senden umla­gert und setzte sich immer wieder durch Diskus­sionen mit den anwe­senden Poli­zi­sten in Szene.

(Foto: Recher­che­kol­lektiv Element Investigate)

Am 11. Mai räumte die Stadt­po­lizei dann ein, die Situa­tion zwei Tage zuvor falsch einge­schätzt zu haben und dass sie hätte früh­zeitig eingreifen müssen, um die Versamm­lung aufzu­lösen. In der Medi­en­mit­tei­lung heisst es, die Corona-Verord­nung werde weiterhin konse­quent durch­ge­setzt. Wird es also auch zukünftig zur Anwen­dung physi­scher Gewalt durch Poli­zei­kräfte kommen, die keine Schutz­masken tragen? Jede Person, die nun laut Verord­nung anderen Menschen nahe­kommen darf (wie z.B. Friseur*innen), muss eine Maske tragen. Für die Polizei gilt dies nicht. Es ist also davon auszu­gehen, dass die Stadt­po­lizei Zürich auch in Zukunft eine Verord­nung durch­setzen wird, während dabei Polizist*innen sich selbst und die Bürger*innen einem Infek­ti­ons­ri­siko aussetzen, wenn sie ohne Masken in ihrer Dienst­aus­übung physi­sche Gewalt anwenden müssen.

(Foto: Recher­che­kol­lektiv Element Investigate)

Eben so war es am 1. Mai um kurz nach 11 Uhr auf dem Helve­ti­a­platz in Zürich geschehen, als eine Gruppe Prote­stie­render der türki­schen Volks­front von der Polizei unter Anwen­dung physi­scher Gewalt an der Fort­füh­rung ihres Prote­stes gehin­dert wurde. Die Polizist*innen, die diesen Zugriff durch­führten, trugen alle keine Masken, obwohl es in der Medi­en­mit­tei­lung der Stadt­po­lizei heisst: „Die Corona-Verord­nung hat das Ziel, Leben zu retten. Deshalb ist das konse­quente Vorgehen nicht gegen, sondern für die Bevöl­ke­rung.“ Eine sehr frag­wür­dige Darstel­lung. Es ist nun Aufgabe der Politik, die Verord­nung auch für die Polizei durchzusetzen.


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