Rahmen­ab­kommen – was ist das überhaupt?

Die Schweiz und die EU — in dieser Bezie­hung wird seit Jahren gezwei­felt, gezau­dert und sich geziert. Zuletzt wegen des soge­nannten Rahmen­ab­kommen. Im medialen Dauer­rau­schen geht der Über­blick schnell verloren: Worum ging es nochmal? Ein Erklärtext. 
Die EU zeigt Flagge. (Foto: Christian Lue / Unsplash)

Dieser Text erklärt so kurz wie möglich und so ausführ­lich wie notwendig, was das Rahmen­ab­kommen mit der EU ist. Hier findest du zudem einen Kommentar zum Thema.

Warum ist dieses Thema wichtig?

Die EU ist die wich­tigste Handels­part­nerin der Schweiz. Daher ist das Verhältnis der beiden für etliche Bereiche der Politik und des öffent­li­chen Lebens grund­le­gend. Das Rahmen­ab­kommen könnte dieses Verhältnis für die kommenden Jahre entschei­dend gestalten.

Hinter­grund

Die Schweiz und die EU – das ist die Geschichte einer zaghaften On-off-Bezie­hung. Eine leiden­schaft­liche Liebe war es zwar nie, aber keiner von beiden wollte je einen konse­quenten Schluss­strich ziehen. Daher ist die Schweiz weder Mitglied der EU noch des euro­päi­schen Wirt­schafts­raums EWR. Trotzdem ist sie wirt­schaft­lich und poli­tisch abhängig von ihr. Sie mischt in mehreren Berei­chen der EU-Politik mit: So finan­ziert sie etwa die Grenz­schutz­agentur Frontex mit, ist Teil des Schen­gen­raums und in einer Zoll­union mit der EU.

Da die Schweiz aber kein Mitglied ist und es somit keine Grund­lagen für die Zusam­men­ar­beit gibt, müssen alle diese Bezie­hungen in juri­sti­scher Kleinst­ar­beit ausge­han­delt werden. Das Resultat ist ein unüber­sicht­li­ches Geflecht aus Abkommen und Verträgen zwischen Schweiz und EU. Die soge­nannten Bila­te­ralen I und II bestehen in der aktu­ellen Form seit den späten 90er-Jahren.

Seit 2014 verhan­deln die Schweiz und die EU über ein neues Vertrags­werk, das einen Teil dieser Abkommen und ihre Umset­zung etwas genauer regeln soll.

Das letzte Verhand­lungs­treffen fand vor drei Wochen zwischen Bundesrat Guy Parmelin und Kommis­si­ons­prä­si­dentin Ursula von der Leyen statt – ohne nennens­werten Fort­schritt. Dabei zeigte sich: Die Bezie­hung bleibt kompliziert.

Warum ein insti­tu­tio­nelles Abkommen?

Die Bila­te­ralen regeln recht­liche Fragen inhalt­lich, Fragen wie: Dürfen Schweizer:innen in EU-Staaten arbeiten? Dürfen Waren zoll­frei gehan­delt werden?

Was aber bisher nicht einheit­lich gere­gelt ist, sind formelle Fragen, also die Spiel­re­geln dieser komplexen Zwei­er­be­zie­hung. Zum Beispiel: Wer entscheidet darüber, ob die bila­te­ralen Verträge recht­mässig umge­setzt werden? Was passiert, wenn sich das Recht verän­dert, auf dem die Abkommen beruhen? Und wer ist verant­wort­lich, wenn eine der beiden Parteien an der recht­mäs­sigen Umset­zung zwei­felt? Momentan beinhalten einzelne Abkommen solche Spiel­re­geln, andere jedoch nicht.

Worum geht es?

Die EU möchte diese Fragen einheit­lich regeln. Aller­dings nicht in Bezug auf sämt­liche Abkommen, sondern nur auf dieje­nigen, die folgende Themen behandeln:

  • die Perso­nen­frei­zü­gig­keit
  • den Luft- und den Landverkehr
  • die Land­wirt­schafts­pro­dukte
  • die tech­ni­schen Handelshemmnisse

Beim Rahmen­ab­kommen geht es nicht um den Inhalt der Verträge, sondern ledig­lich um deren Ausle­gung und Hand­ha­bung. Genauer: Das insti­tu­tio­nelle Rahmen­ab­kommen will folgende Fragen in Bezug auf diese Themen klären:

  • Sollen die Abkommen auto­ma­tisch ange­passt werden, wenn sich das EU-Recht verän­dert? Tatsäch­lich verän­dert sich das EU-Recht nämlich laufend, daher sind die jetzigen Abkommen in vieler Hinsicht veraltet.
  • Wer entscheidet, ob das Recht richtig ange­wandt wird oder nicht? Die EU möchte, dass der Euro­päi­sche Gerichtshof hier der Mass­stab ist, da es sich um euro­päi­sches Recht handelt.
  • Wer stellt sicher, dass die Abkommen recht­mässig umge­setzt werden, wer über­wacht das also?
  • Was, wenn sich die Schweiz und die EU einmal uneinig darüber sind, ob ein Abkommen richtig ange­wandt wird?

Was sind die Streitpunkte?

Die grössten Streit­punkte betreffen das bila­te­rale Abkommen über die Perso­nen­frei­zü­gig­keit. Wer darf aus der EU in die Schweiz kommen? Wer aus der Schweiz in die EU? Und welche Rechte geniessen diese Menschen?

Es geht um diese drei Punkte:

  • Die flan­kie­renden Mass­nahmen. Dass sie geschwächt werden, ist die grösste Angst linker Politiker:innen.
  • Die EU-Unions­bür­ger­richt­li­nien. Dass diese durch­ge­setzt werden, ist die Sorge bürger­li­cher Politiker:innen.
  • Das EU-Sozi­al­ver­si­che­rungs­recht. Dass Menschen hier Arbeits­lo­sen­geld beziehen könnten, ist eine zweite Sorge der Bürgerlichen.

Worüber wird genau gestritten?

Flan­kie­rende Mass­nahmen (FlaM)

Die flan­kie­renden Mass­nahmen wurden zu Beginn der Frei­zü­gig­keit einge­führt, um Lohn­dum­ping zu verhin­dern. Sie stellen sicher, dass Menschen aus dem Ausland nicht in die Schweiz kommen und hier zu nied­ri­geren Löhnen arbeiten als ihre Schweizer Kolleg:innen. Daher dürfen Unter­nehmen aus der EU nur maximal 90 Tage pro Jahr in der Schweiz Aufträge ausführen. Zudem müssen sie Schweizer Arbeits­be­din­gungen erfüllen.

Die Gewerk­schaften fürchten, dass das Rahmen­ab­kommen diese Mass­nahmen schwä­chen könnte. Denn die EU ist der Auffas­sung, dass einzelne von der Schweiz getrof­fene Mass­nahmen das erneu­erte Gesetz zur Perso­nen­frei­zü­gig­keit der EU verletzen und deswegen ange­passt werden müssen. Dazu gehört etwa die Acht-Tage-Regel: Wenn ein auslän­di­sches Unter­nehmen Arbeiter:innen für einen Auftrag in die Schweiz schickt, muss sie das den Schweizer Behörden acht Tage vorher melden. Die EU möchte diesen Zeit­raum auf vier Tage verkürzen.

Zudem wäre mit dem vorlie­genden Rahmen­ab­kommen künftig der Euro­päi­sche Gerichtshof (EuGH) die Instanz, die entscheiden könnte, welche Lohn­schutz­mass­nahmen verhält­nis­mässig sind und welche nicht. 

Einige Urteile aus der Vergan­gen­heit deuten darauf hin, dass die vergleichs­weise starken Mass­nahmen der Schweiz für den EuGH als unver­hält­nis­mässig gelten könnten. Aller­dings hat sich das Entsen­dungs­recht in der EU in der Zwischen­zeit geän­dert und es gilt grund­sätz­lich „Glei­cher Lohn für gleiche Arbeit am glei­chen Ort“. Diese Ände­rung wurde vom EuGH zum Beispiel in einem Urteil zum Entsen­de­recht in Ungarn und Polen bestä­tigt. Es ist daher schwer zu sagen, wie der EuGH über den Schweizer Lohn­schutz urteilen würde.

EU-Unions­bür­ger­richt­linie

In der Unions­bür­ger­richt­linie geht es um das Recht, aus dem eigenen EU-Staat auszu­reisen, in einen anderen EU-Staat einzu­reisen, dort Aufent­halt zu nehmen und zu arbeiten. Für die Schweiz gelten diese Linien nicht, sie hat statt­dessen ein eigenes Abkommen mit der EU, dass diese Fragen regelt: das Perso­nen­frei­zü­gig­keits­ab­kommen. Dieses beruht aber auf den EU-Bürgerrichtlinien.

Die EU hat ihre Unions­bür­ger­richt­linie in den vergan­genen Jahren ange­passt. Das Frei­zü­gig­keits­ab­kommen mit der Schweiz wurde hingegen nicht ange­passt und hinkt daher dem geltenden Recht hinterher. Das möchte die EU im Rahmen­ab­kommen ändern. Das Problem: Die Neue­rung würden einige Ände­rungen im Frei­zü­gig­keits­ab­kommen bedeuten, die in der Schweiz umstritten sind. 

Konkret geht es insbe­son­dere um die Fragen: Dürfen EU-Bürger:innen in der Schweiz Sozi­al­lei­stungen beziehen, wenn sie ihren Job in der Schweiz verlieren? Haben EU-Bürger:innen Anrecht auf Dauer­auf­ent­halts­status in der Schweiz, wenn sie fünf Jahre hier waren? Und dürfen EU-Bürger:innen einfach so ausge­wiesen werden, wenn sie in den Augen der Schweiz eine „Gefahr“ darstellen?

Sozi­al­ver­si­che­rung für Grenzgänger:innen

Die EU ändert gerade ihr Sozi­al­ver­si­che­rungs­ge­setz für Grenzgänger:innen: Wer in einem Land wohnt, aber in einem anderen arbeitet, zahlt Sozi­al­ver­si­che­rungs­gelder in den Arbeits­staat ein. Wenn eine solche Person aber arbeitslos wird, soll sie neu das Arbeits­lo­sen­geld vom Arbeits­staat erhalten, also von jenem Staat, der auch die Sozi­al­ver­si­che­rungs­bei­träge dieser Person erhalten hat. Bisher war dafür der Wohn­staat zuständig.

Wenn diese Regeln auch in das Frei­zü­gig­keits­ab­kommen mit der Schweiz über­nommen würden, wie es das Rahmen­ab­kommen vorsieht, dann würde sich für die Schweiz etwas ändern. Sie müsste dann das Arbeits­lo­sen­geld bezahlen, für dieje­nigen Menschen, die etwa in Italien oder Deutsch­land wohnen, aber in der Schweiz arbeiten. Was sich nicht ändern würde: Bereits jetzt zahlen in der Schweiz ange­stellte Personen Sozi­al­bei­träge in die Schweizer Kasse ein. Nur kriegen sie diese nie zurück, wenn sie arbeitslos werden.

Was genau das Rahmen­ab­kommen für alle diese Dinge bedeute würde, ist strittig. Jurist:innen haben unter­schied­liche Vermu­tungen. Einige sehen den Lohn­schutz gefährdet, andere nicht. Volks­wirt­schaft­liche Effekte des Abkom­mens wurden noch gar nicht unter­sucht. Vieles ist unklar. Vieles ist auch Gegen­stand weiterer Verhand­lungen, die auch mit einem unter­zeich­neten Rahmen­ab­kommen geführt würden.

Wie geht es weiter?

Vor drei Wochen reiste Guy Parmelin nach Brüssel und besprach dort mit Ursula von der Leyen den aktu­ellen Entwurf für das Abkommen. Nach seiner Rück­kehr liess er verlauten, dass es noch sehr viele Unei­nig­keiten gäbe. Später äusserten sich EU-Vertreter:innen und spielten den Ball zurück in die Schweiz. Hier sinnieren die Parteien jetzt herum, ob und wie das Abkommen noch zu retten sei, wo Kompro­misse nötig seien und wer dafür verant­wort­lich ist. Die SVP erklärt das Abkommen für gestorben. Viele Exponent:innen von SP und die FDP wollen es weiterhin retten, andere nicht. Beide Parteien sind jedoch darüber gespalten, wie viele Kompro­misse die Schweiz bei den Verhand­lungen eingehen soll – und welche. Im Moment berät der Bundesrat über das weitere Vorgehen.

 


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