Schliesst endlich diese verdammten Lager!

Während hier­zu­lande die Atomi­sierten einander näher­zu­kommen scheinen, rückt die nächste Zuspit­zung der menschen­ge­machten Kata­strophe in Moria wie in Zeit­lupe näher. Es war nie drin­gender, den Zynismus zu überwinden. 

Es ist eine Eigen­heit der Corona-Zeit, dass das Unmög­liche möglich geworden ist. Die WOZ hat jetzt keine Paywall und das Parla­ment keine Macht mehr. Vor wenigen Wochen sei alles noch so anders gewesen, erzählt man sich mit ernster Miene, das histo­ri­sche Gewicht der Situa­tion aner­ken­nend. Damals sprach man noch von der Eska­la­tion an der euro­päi­schen Aussen­grenze, heute über die eigene Bedro­hung. Die Stimmen im öffent­li­chen Raum scheinen zuweilen gedämpft: Als müsste man flüstern im Ange­sicht der unsicht­baren Gefahr. Das Virus ist fast allen fast immer bewusst.

Es gilt, jetzt Abstand zu halten. Minde­stens zwei Meter sollen zu jeder Zeit zwischen uns und den andern stehen; Menschen­an­samm­lungen sind verboten; wer hustet, wird geächtet (und hat das Bedürfnis zu beteuern, dass das Husten vom Rauchen komme).

Trotzdem ist man mit Corona auch weniger allein. Soli­da­ri­täts­ak­tionen spriessen aus dem Boden, Unzäh­lige bieten der Risi­ko­gruppe ihre Unter­stüt­zung an. Plötz­lich scheint es spürbar, dass alle eine Verant­wor­tung dafür tragen, wie es den anderen geht. Jetzt, wo der Staat so rigoros durch­greift wie viel­leicht noch nie, ist er irgendwie auch weiter weg denn je: Er vermag uns diese Verant­wor­tung nicht abzunehmen.

Hier­zu­lande scheinen die Atomi­sierten einander in Anbe­tracht der geteilten Gefahr gerade näher­zu­kommen. Dass die Über­la­stung des Gesund­heits­sy­stems, die Infi­zie­rung von Risikopatient*innen, kurz, dass das Sterben um jeden Preis zu verhin­dern sei; darin sind sich alle einig. „Bleibt zuhause!“, ruft der Bundesrat, rufen die Zeitungen, dröhnt es in den sozialen Medien, schreiben sich die Leute auf die Fahnen, die sie an ihren Balkon hängen.

Mit jeder eupho­ri­schen Wieder­ho­lung dieses eingän­gigen Mantras tritt sein schier uner­träg­li­cher Zynismus noch deut­li­cher hervor.

In den Lagern an der euro­päi­schen Aussen­grenze nähen sich Insass*innen derweil ihre eigenen Atem­schutz­masken, um sich auf Corona vorzu­be­reiten. Auf der Insel Lesbos wurde ein erster Fall von Covid-19 bestä­tigt. Bei Moria auf Lesbos sind zurzeit fast 20’000 Personen in einem Lager unter­ge­bracht, das eigent­lich für 3000 Personen vorge­sehen wäre. Der Zugang zu flies­sendem Wasser ist begrenzt, die sani­tären Anlagen sind über­be­an­sprucht, das Lager ist von Nato-Stachel­draht umgeben, um die Leute an Ort und Stelle fest­zu­halten. „Das ist die Hölle“, sagte ein Syri­scher Flüch­tender unlängst dem Guar­dian über die Zustände in Moria. Das war noch vor Corona.

Grie­chen­lands Lager, von EU-Kommis­si­ons­prä­si­dentin Ursula von der Leyen als Schutz­schild Europas bezeichnet, sind ein Verbre­chen von histo­ri­schem Ausmass. Das poli­tisch moti­vierte Elend dort ist so gross, dass es sich kaum fassen lässt: weit weg und abstrakt. Jetzt droht es noch grösser zu werden, aber viel­leicht auch konkreter, da das Lager mit der glei­chen Bedro­hung konfron­tiert wird, welche die reich­sten Regionen der Welt an den Rand des Zusam­men­bruchs zwingt. Wie in Zeit­lupe rückt die nächste Zuspit­zung der Kata­strophe von Moria näher.

Es war nie drin­gender, den Zynismus zu über­winden. Und jetzt, da Europa – und ja, die Schweiz zählt zu Europa – diese bisher unbe­kannte Hand­lungs­fä­hig­keit an den Tag legt, da die soziale Verant­wor­tung wieder­ent­deckt wird, da es plötz­lich unkon­tro­vers ist, zum Schutz von Menschen­leben Milli­arden auszu­geben, und dieje­nigen mit dem rich­tigen Pass aus aller Welt in Char­ter­flügen nach­hause trans­por­tiert werden; jetzt ist es viel­leicht auch mögli­cher denn je, diese Lager zu evaku­ieren – und damit das Verbre­chen endlich zu beenden. Es ist Zeit.

Um diesen Kommentar zu illu­strieren, haben wir unseren Cartoo­ni­sten und Illu­stra­toren Oger ange­fragt. Entstanden ist ein Bild, das wir schliess­lich nicht in den Artikel einge­baut haben, weil es uns die Sprache verschlug. Also publi­zieren wir es hier kommen­tarlos. Das Bild sagt alles.


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