Schweizer Hoch­schulen: Geht Welt­klasse nur auf Kosten der Forschenden?

Die Zeit nach dem Doktorat erleben Wissenschaftler:innen in der Schweiz als „prekär“. Nun will eine Peti­tion die Anstel­lungs­be­din­gungen an Hoch­schulen grund­le­gend refor­mieren. Politik und Hoch­schulen scheuen davor aber zurück. 

Die Schweiz präsen­tiert sich gerne als Forschungs- und Inno­va­ti­ons­na­tion. Und das mit gutem Grund: Kein Land produ­ziert pro Kopf mehr wissen­schaft­liche Publi­ka­tionen und auch bei der Zita­ti­ons­quote der Publi­ka­tionen liegt die Schweiz hinter den USA auf Platz zwei. Mit Abstand Spit­zen­rei­terin ist die Schweiz bei der Anzahl Patente pro Kopf.

Uner­läss­lich für diese Leistung ist die Arbeit von Forschenden an Schweizer Hoch­schulen. Doch nun klagen Wissenschaftler:innen in einer Peti­tion über miese Arbeits­ver­hält­nisse: 80 Prozent seien in „prekären Verhält­nissen“  ange­stellt. Sie fordern deshalb die Schaf­fung viel­fäl­tiger unbe­fri­steter Stellen unter­halb der Professur. Doch was bedeuten „prekäre Verhält­nisse“ an Hoch­schulen? Hier lohnt sich der Blick auf eine typi­sche univer­si­täre Karriere in der Schweiz.

Bei der Promo­tion sind Nachwuchsforscher:innen in der Regel zwischen 30 und 37 Jahre alt. Danach, als soge­nannte Post­docs, finan­zieren sie ihre Forschung entweder durch eine befri­stete Stelle als Ober­as­si­stenz an einer Uni oder mithilfe einer Förder­insti­tu­tion. Das ferne Karrie­re­ziel für viele ist die ordent­liche Professur. Doch bis dahin ist es ein weiter Weg. Zuerst muss man sich an verschie­denen Hoch­schulen als Assi­stenz- und als ausser­or­dent­liche Professor:in quali­fi­zieren. Nur wer sich gegen die Konkur­renz durch­setzt, kann auf eine ordent­liche Professur berufen werden. Zu diesem Zeit­punkt sind die Forschenden meist deut­lich über 40 Jahre alt.

Konkur­renz­druck und unge­wisse Perspektiven

2019 waren 46’881 Personen als wissen­schaft­li­ches Personal an den Unis ange­stellt. Den Gross­teil davon macht der soge­nannte Mittelbau aus, also die 42’317 Dokto­rie­renden, Post­docs, Dozie­renden und wissen­schaft­li­chen Mitarbeiter:innen. Dagegen bilden die 4’564 Professor:innen die Minder­heit. Was soll daran aber beson­ders prekär sein?

80 Prozent der Forschenden an Unis sind befri­stet und zumeist in Teil­zeit ange­stellt. Das gilt insbe­son­dere für den Mittelbau. Unbe­fri­stete Arbeits­ver­träge haben nur die wenig­sten und auch unter den Professor:innen gilt dies nur für die ordent­li­chen Professor:innen. Entspre­chend klein ist die Zahl an Forschenden, die jemals eine Fest­an­stel­lung besetzen. Zwar können Karrie­re­wege je nach Hoch­schule und Fach­be­reich anders aussehen. Doch egal, ob an einer Uni oder einer Fach­hoch­schule, das Prinzip ist überall dasselbe: up or out.

Ein Experte des Schwei­ze­ri­schen Natio­nal­fonds SNF schätzt, dass nur etwa 10 Prozent der Post­docs es bis zur Professur schaffen. Dieser extreme Flaschen­hals bedeutet aber nicht nur grossen Konkur­renz­druck. Wer eine Hoch­schul­kar­riere einschlägt, setzt auch alles auf eine Karte. Denn was auf dem Weg zur Professur zählt, sind Publi­ka­tionen in renom­mierten Jour­nals, einge­wor­bene Förder­mittel und Forschungs­auf­ent­halte an namhaften Schulen im Ausland. Daneben bleibt kaum Zeit, um beruf­liche Erfah­rungen zu machen, die auf dem Arbeits­markt auch ausser­halb der Akademie wert­voll wären. Und wer es trotzdem versucht, findet kaum wieder zurück, weil der Wett­lauf um die Profes­suren unge­bremst weiterläuft.

Mit zuneh­mendem Alter wird der Ausstieg aus dem Wissen­schafts­be­trieb zudem immer riskanter. Wer mit 45 merkt, dass es nichts wird mit der Professur, muss sich nach über 25 Jahren an der Hoch­schule plötz­lich auf dem Arbeits­markt behaupten. Hier geht nicht nur Fach­kräf­te­po­ten­tial verloren, es werden auch Lebens­krisen in Kauf genommen.

Auch inner­halb der Hoch­schulen haben die späte Selek­tion und der konstante Druck gravie­rende Konse­quenzen. Dass sie sich ständig um neue befri­stete Stellen und Projekte bewerben müssen, raubt Wissenschaftler:innen nicht nur Zeit für Forschung und Lehre. Es setzt sie auch in mehr­fache Abhän­gig­keit von Arbeitgeber:innen, Betreuer:innen und Expert:innen – ein Nähr­boden für Mobbing und sexu­elle Belä­sti­gung, für Burn­outs und psychi­sche Erkran­kungen. Über­zeit und Arbeit an den Wochen­enden sind an Hoch­schulen nicht nur die Norm, sie werden auch erwartet.

Nicht zuletzt fällt für viele die Fami­li­en­grün­dung in die Postdoc-Phase. Zeit mit Partner:innen und Kindern bleibt aber häufig nur wenig. Zu diesem Zeit­punkt redu­zieren dann deut­lich mehr Frauen ihr Arbeits­pensum zugun­sten von Haus­halt und Care-Arbeit oder verlassen die Wissen­schaft gleich endgültig. Kein Wunder, bilden Profes­so­rinnen mit knapp 24 Prozent in der Schweiz noch immer die Minderheit.

Das Problem ist bekannt

Bereits 2012 forderte eine Gruppe junger Forschender den Bundesrat zum Handeln auf. Man sehe das Problem, aber die Anstel­lungs­ver­hält­nisse lägen in der Kompe­tenz der Hoch­schulen, lautete die Antwort aus Bern. Das Anliegen der Forschenden stiess dennoch auf offene Ohren. Gemeinsam mit Hoch­schulen, Träger­kan­tonen und dem SNF sollte ein lang­fri­stiger Struk­tur­wandel aufge­gleist werden. In wich­tigen Punkten hat sich die Situa­tion seither auch verbes­sert: Einzelne Hoch­schulen haben bereits viel­fäl­ti­gere Stel­len­pro­file geschaffen. Ausserdem schreibt das neue Hoch­schul­ge­setz von 2015 Chan­cen­gleich­heit zwischen Mann und Frau für die Akkre­di­tie­rung von Hoch­schulen vor und Förder­pro­gramme zur Unter­stüt­zung von Frauen und Eltern wurden ausge­baut. Der SNF vergibt seine Gelder zudem seit August nach Exzel­lenz-Krite­rien der DORA-Dekla­ra­tion, die eine ganz­heit­liche Bewer­tung von Forschenden fordert. Dadurch sinkt der Publi­ka­ti­ons­druck und ausser­uni­ver­si­täre Erfah­rungen finden Anerkennung.

Solche Verbes­se­rungen werden vom Mittelbau als Schräub­chen-Politik kriti­siert. „Die vorge­legte Stra­tegie bleibt in den Leit­planken des aktu­ellen Systems und geht die grund­le­genden Probleme, die wir und viele andere sehen, nicht an“, sagt Dr. Fanny Georgi. Die Viro­login ist Postdoc an der Uni Zürich und Co-Präsi­dentin der Verei­ni­gung Akade­mi­scher Nach­wuchs der Univer­sität Zürich (VAUZ).

Der Fokus – sowohl struk­tu­rell als auch finan­ziell – auf wenige Profes­suren stehe in einem Miss­ver­hältnis zum stei­genden Tempo wissen­schaft­li­cher Entwick­lungen und zum massiven Anstieg der Studie­ren­den­zahlen. Während im Studi­en­jahr 1990/91 noch 85’940 Studie­rende imma­tri­ku­liert waren, verzeich­neten die Hoch­schulen 2019/20 satte 258’076.

Um Forschung und Lehre über­haupt zu ermög­li­chen, werde die geringe Zahl an Profes­suren durch ein Über­mass an kosten­gün­stigen, befri­steten Stellen kompen­siert, sagt Georgi. „Sich hierfür auf Nachwuchs­wissenschaftler:innen, die unter beson­derem Leistungs- und Zeit­druck stehen, zu verlassen, ist eine gefähr­liche Entwick­lung. Viele Dokto­rie­rende und Post­docs fühlen sich ausgenutzt.“

Peti­tion an die Bundesversammlung

Getragen von Mittel­bau­or­ga­ni­sa­tionen fast aller Hoch­schulen haben Nach­wuchs­for­schende daher ihre Peti­tion lanciert. Bald sind 6’000 von 8’000 geplanten Unter­schriften gesam­melt, Anfang 2021 sollen sie einge­reicht werden. In der Peti­tion wird die Bundes­ver­samm­lung aufge­for­dert, die nötigen gesetz­li­chen und finan­zi­ellen Rahmen­be­din­gungen zu schaffen, damit die Hoch­schulen mehr und viel­fäl­ti­gere unbe­fri­stete Stellen unter­halb der Professur schaffen.

Damit sind aber nicht nur Posi­tionen in Lehre und Forschung gemeint. Auch der soge­nannte „third space“ soll erwei­tert werden, also dokto­riertes Fach­per­sonal für Manage­ment und Support der Wissenschaftler:innen. Hoch­schulen in den USA und Gross­bri­tan­nien haben ihre Stellen schon lange diver­si­fi­ziert, Forschungs­na­tionen wie die Nieder­lande, Israel und Schweden sind dem Beispiel bereits gefolgt.

Mit ihren Zielen will die Peti­tion alle Hoch­schul­an­ge­hö­rigen – auch die Professor:innen – entla­sten und Forschung und Lehre verbes­sern. Die Selek­tion für die akade­mi­sche Karriere soll dank der Mass­nahmen früher statt­finden, späte­stens nach dem Doktorat und nicht wie heute auf Stufe Professur. Während so die einen bessere Aussichten auf eine unbe­fri­stete Anstel­lung hätten, würde der Rest als hoch­qua­li­fi­zierte Fach­kräfte zum Einstieg in die Arbeits­welt ausser­halb der Hoch­schulen moti­viert. Und exzel­lente Nachwuchsforscher:innen mit reali­sti­schen Chancen auf eine Professur würden früher gefördert.

Finan­ziert werden sollen die unbe­fri­steten Stellen mit einer „Reduk­tion der projekt­förmig verge­benen Forschungs­mittel zugun­sten einer höheren Grund­fi­nan­zie­rung der Hoch­schulen“. Genau das schlägt auch die Schwei­ze­ri­sche Akademie der Geistes- und Sozi­al­wis­sen­schaften (SAGW) in einem Bericht zur Nach­wuchs­för­de­rung vor. Eine solche Umla­ge­rung könne „finanz­neu­tral reali­siert werden“, meint der Gene­ral­se­kretär der SAGW, Dr. Markus Zürcher. Dies auch, weil bei weniger Projekt­an­trägen weniger admi­ni­stra­tive Arbeiten anfallen – etwa bei Evalua­tion, Beur­tei­lung, Gewin­nung von Gutachter:innen oder bei der formalen Ausar­bei­tung der Projekte.

Politik und Hoch­schulen tun sich schwer mit der Petition

Die drei wich­tig­sten Player in der Schweizer Hoch­schul­po­litik sind die Rektor:innenkonferenz swiss­uni­ver­si­ties, der SNF und das Staats­se­kre­ta­riat für Bildung, Forschung und Inno­va­tion (SBFI). Sie spre­chen auf Anfrage nur verhalten Unter­stüt­zung für die Peti­tion aus. Zwar sollen die Grund­bei­träge erhöht werden, aber nur um eine „jähr­liche Stei­ge­rung [...] von 1,8 % für die kanto­nalen Univer­si­täten und 2 % für die Fach­hoch­schulen“, wie es in der Planungs­bot­schaft 2021–2024 heisst.

Eine grös­sere Umver­tei­lung von projekt­ge­bunden Mitteln zu Grund­bei­trägen, wie sie auch die SAGW vorschlägt, ist dabei nicht vorge­sehen. Man befürchte eine „Schwä­chung des Forschungs­platzes Schweiz“, teilt der SNF auf Anfrage mit. „Ausrei­chende kompe­ti­tive Mittel“ seien nötig, „um inno­va­tive Forschung zu fördern und flexibel auf neue Forschungs­rich­tungen zu reagieren und die Qualität der Forschung in der Schweiz auf inter­na­tional hohem Niveau zu halten“.

Georgi vom Peti­ti­ons­ko­mitee wider­spricht: „Wir sind nicht dafür, dass es keine Konkur­renz um die beste Idee gibt. Aber auch in der Forschung gibt es feste Aufgaben, die von festen Ange­stellten erle­digt werden sollten, um die Forschenden zu entla­sten. Heute erleben wir immer wieder einen enormen Wissens- und Quali­täts­ver­lust, wenn eine Person nach vier bis fünf Jahren ihren Platz räumen und jemand Neues einge­ar­beitet werden muss. Kaum ein Unter­nehmen könnte sich das leisten.“

Petitionär:innen fürchten um ihre Karrieren

Dass Mittel­bau­an­ge­hö­rige eine Peti­tion lancieren müssen, um sich Gehör zu verschaffen, ist Ausdruck ihrer schwa­chen Posi­tion in der Schweizer Hoch­schul­po­litik. Mit actionuni hat der Mittelbau zwar einen Dach­ver­band, dieser ist aber ohne anstän­dige Finan­zie­rung auf ehren­amt­liche Arbeit der über­ar­bei­teten Mitglieder ange­wiesen. Und konkrete Entschei­dungs­be­fug­nisse hat actionuni keine. Bei swiss­uni­ver­si­ties beispiels­weise erhält der Verband kaum mehr als eine Audienz, die er sich mit den Studie­renden teilen muss.

Dabei zahlt sich der Mitein­bezug des Mittel­baus aus. So konnte etwa die Better Science Initia­tive der Uni Bern Hand­lungs­ma­ximen für Wissen­schaft ausar­beiten, die von allen betei­ligten Akteur:innen gelobt wurden. Im Gespräch mit Post­docs wird aber rasch klar: An vielen Hoch­schulen steht es schlecht um die offene Diskus­si­ons­kultur. So wollen die meisten Organisator:innen der Peti­tion auch anonym bleiben. „Wir haben Angst vor den Folgen für unsere Karriere und unseren Lebens­un­ter­halt. Das darf so nicht sein“, klagt ein Peti­ti­ons­mit­glied. Es möchte nicht mit Namen genannt werden.


Jour­na­lismus kostet

Die Produk­tion dieses Arti­kels nahm 32 Stunden in Anspruch. Um alle Kosten zu decken, müssten wir mit diesem Artikel CHF 1924 einnehmen.

Als Leser*in von das Lamm konsu­mierst du unsere Texte, Bilder und Videos gratis. Und das wird auch immer so bleiben. Denn: mit Paywall keine Demo­kratie. Das bedeutet aber nicht, dass die Produk­tion unserer Inhalte gratis ist. Die trockene Rech­nung sieht so aus:

Löse direkt über den Twint-Button ein Soli-Abo für CHF 60 im Jahr!

Ähnliche Artikel

12 statt 21 Franken pro Stunde

Der Brief- und Paketzusteller Quickmail wirbt mit einem Stundenlohn von 21 Franken. Sobald Mitarbeitende aber weniger schnell sind als von der Firma verlangt, sinkt das Gehalt – schlimmstenfalls weit unter das Existenzminimum.