Es gab wenige Momente in meiner Kindheit, in denen ich meine beiden Grossmütter nicht habe arbeiten sehen: Sie haben gekocht, sie haben den Tisch gedeckt, den Tisch abgeräumt, sie standen an Familienfeiern nie still, immer gab es etwas zu tun, ein Geschenkpapier wegzuräumen, ein Glas aufzufüllen oder ein Kind zu trösten.
Seit dem Tod meiner einen Grossmutter füllt meine Mutter ihre Lücke: Sie kocht, sie deckt den Tisch, sie räumt ihn ab, sie schenkt Gläser nach, sie führt durch die Familienfeiern wie eine Hochzeitsplanerin mit jahrzehntelanger Erfahrung. Weiblich sozialisierte Personen, so scheint es, arbeiten ihr ganzes Leben lang – unbezahlt. Und sie sind im Alter genau deswegen ärmer als viele Männer.
Es gibt Studien, die belegen, dass Personen, die als Frauen gelesen werden, in der Schweiz jährlich im Schnitt 100 Milliarden Franken weniger verdienen als Männer. Hundert. Milliarden. Rund vierzig Prozent davon gelten als statistisch unerklärter Lohnunterschied, die nichts mit dem gender pay gap zu tun haben. Die feministische Ökonomin Mascha Madörin sagt, diese vierzig Prozent resultieren aus der unbezahlten Arbeit, die zwischen Männern und weiblich sozialisierten Personen ungleich verteilt ist.
Wie bei meinen Grossmüttern, bei meiner Mutter und so vielen anderen Frauen. Die AHV meiner Grossmutter, die noch lebt, reicht gerade so knapp zum Leben. Ihre Pensionskasse ist so tief, weil sie den Grossteil ihres Lebens mit unbezahlter Arbeit verbracht hat. Nun entschied der Nationalrat, das AHV-Alter von Personen, die vom Nationalrat als Frauen gelesen werden, auf 65 anzuheben und politisiert damit komplett an einem Grossteil der Bevölkerung vorbei: Denn das System dahinter ist noch lange nicht bereit dafür.
In der Schweiz scheint es ein politisches Unding zu sein, sich um Anliegen zu kümmern, die weiblich sozialisierten Menschen helfen würden. Eine landesweite Kampagne gegen Sexismus? Hm, nö. Eine national organisierte Strategie gegen Gewalt an Frauen, welche die Schweiz laut Istanbul Konventionen eigentlich schon lange haben müsste? Hm, nö. Ein Unterhalts-System, das wirklich der gelebten Realität vieler Familien entspricht? Hm, nö. Sind ja nur Frauen, die unter diesen Entscheidungen leiden.
Verpackt werden Entscheide wie jüngst jener vom Bundesgericht über die Abschaffung der so genannten „45er-Regel“ als Wegbereitung zur endgültigen Emanzipation von Personen, die als Frauen gelesen werden. (Lamm-Artikel zum Thema findest du hier und hier.) Gleichzeitig leben noch immer so viele von ihnen in traditionellen Ehen, ungewollt, weil es oft nicht anders geht. Weil der Mann mehr verdient und weil er nur eine lächerlich kurze Zeit daheim bleiben kann, wenn er Vater wird.
Die AHV auf den Schultern von weiblich sozialisierten Menschen retten zu wollen, diese Rechnung geht darum einfach nicht auf.
Sie geht so lange nicht auf, wie es sich nur Frauen aus der Mittel- und Oberschicht leisten können, sich früher pensionieren zu lassen; so lange nicht, wie 70 Prozent der Bäuerinnen ohne Altersvorsorge leben und es immer noch vor allem als Frauen gelesene Personen sind, die sich gegenseitig eine Karriere ermöglichen, indem sie die Kinder betreuen und die Wohnungen putzen; so lange nicht, wie es Altersdiskriminierung gibt auf dem Arbeitsmarkt; so lange nicht, wie die absolute Basis der care work – die Kinderbetreuung und die Hausarbeit – nicht gerecht verteilt ist und auch nicht gerecht verteilt werden kann in einem Land, das, so scheint es, ums Verrecken keine anständig organisierte Elternzeit einführen will, die das Paar unter sich aufteilen kann; so lange nicht, wie das Stimmvolk immer wieder Initiativen bachab schickt, die die Staatskasse mit genügend Geld füllen würden, um die AHV die paar nötigen Jahre finanziell stabilisieren zu können.
Dass der Entscheid in der Woche vor dem Frauen*streik / feministischen Streik gefällt wird, wirkt fast schon bizarr. Das zeigt aber auch: Der feministische Kampf ist noch lange nicht vorbei, er ist sogar noch dringlicher geworden. Wie schon die Weather Girls sagten: According to all sources, the street’s the place to go.
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