Triggerwarnung: sexualisierte Gewalt.
Das Lamm: Agota Lavoyer, Ihr Buch handelt von sexualisierter Gewalt an Kindern. Wie kommt man dazu, über das Undenkbare ein Buch zu schreiben?
Agota Lavoyer: Ich habe jahrelang in der Opferhilfe und als Schulsozialarbeiterin gearbeitet und mitbekommen, wie viel Leid sexualisierte Gewalt bei Kindern auslöst, Leid, das diese ein Leben lang prägt. Weil ich bei der Opferhilfestelle Lantana auch einen Präventionsauftrag hatte, hielt ich unzählige Elternabende und Weiterbildungen für Lehrpersonen. Dort habe ich realisiert, dass viele Eltern mit dem Thema überfordert sind und auch nicht die Sprache haben, die es ihnen erlauben würde, mit ihren Kindern sachgerecht über sexualisierte Gewalt zu sprechen. So ist die Idee für das Buch entstanden.
Agota Lavoyer ist ausgebildete Sozialarbeiterin und systemische Beraterin. Sie arbeitet heute als selbstständige Beraterin und Referentin und schult Eltern und Fachpersonen in der Prävention von sexualisierter Gewalt. Zudem engagiert sie sich unter anderem auf den Sozialen Medien für die Sensibilisierung, Aufklärung und Enttabuisierung sexualisierter Gewalt. Ihr Buch heisst „Ist das okay?“ und ist am 10.06.2022 erschienen.
Wieso haben Sie sich für die Form des Kinderbuchs entschieden, wenn es sich an Erwachsene richtet?
Weil sich mein Buch zwar in erster Linie an Eltern und Betreuungspersonen richtet, aber schon auch an Kinder. Und weil das Thema so tabuisiert ist, ist der Zugang über ein Kinderbuch niederschwelliger. Ich kenne es selbst: Wenn ich mich über ein schwieriges Thema informieren möchte, das auch meine Kinder betrifft, kaufe ich mir oft auch ein Kinderbuch. Das erlaubt einen sanften Einstieg ins Thema, und gleichzeitig kann man den Lernprozess gemeinsam mit den Kindern durchlaufen.
Auf den ersten Seiten Ihres Buches geht es darum, den Kindern die korrekten Bezeichnungen für Geschlechtsorgane beizubringen. Warum reicht „Schnäggli“ als Bezeichnung für die Vulva nicht aus?
Grundsätzlich ist es schon ein Fortschritt, wenn Kinder überhaupt einen Begriff für ihre Körperteile haben – „Schnäggli“ ist also schon viel genauer als «da unten». Aber die richtigen Begriffe ermächtigen die Kinder, verständlich zu kommunizieren. Zudem lernen die Kinder, dass es okay ist, vor den Eltern über den Intimbereich zu reden.
Bei anderen Körperteilen ist das eine Selbstverständlichkeit: Wenn ein Kind einen Finger beim Spielen bricht, muss es wissen, dass der Finger zur Hand und nicht zum Oberschenkel gehört. Weiss es das nicht, ist es für die Eltern viel schwieriger, die Verletzung zu lokalisieren.
Das Gleiche sollte auch für Geschlechtsteile gelten. Ohne korrekte Begriffe können Kinder nicht kommunizieren, was ihnen passiert, und Eltern oder andere Betreuungspersonen nicht rechtzeitig eingreifen. Diese Sprachlosigkeit hilft nur den Täter*innen.
Sprachlosigkeit scheint mir das Hauptthema des Buchs zu sein – die Sprachlosigkeit der Kinder, die Gewalt erfahren, aber sie nicht benennen können, aber auch die Sprachlosigkeit der Erwachsenen, wenn es um Prävention geht.
Sprachlosigkeit ist ein integraler Teil von sexualisierter Gewalt. Sie führt dazu, dass sie etwas Unvorstellbares bleibt. Und was unvorstellbar ist, kann man nicht bekämpfen. Wenn wir bis heute das Feuer nicht entdeckt hätten, wüssten wir auch nicht, wie wir einen Waldbrand bekämpfen könnten. Aber für viele Erwachsene ist sexualisierte Gewalt nur dann ein Thema, wenn es um den „fremden Mann“ geht. Darüber, dass aber 97 Prozent der Übergriffe im Umfeld der Kinder passiert, reden wir kaum.
Warum hält sich dieses Bild des fremden Täters so hartnäckig in den Köpfen?
Das Bild des typischen Täters und von seinem Vorgehen hat sich seit meiner Kindheit kaum geändert: Noch heute wird jedem Kind beigebracht, dass man keine Süssigkeiten von Fremden annehmen soll und nicht in ein fremdes Auto einsteigen soll. Das ist natürlich gut. Gleichzeitig sind Kinder manchmal auf fremde Menschen angewiesen, wenn sie sich etwa verlaufen. Und ausserdem ist es nicht sinnvoll, die gesamte Prävention auf die wenigen fremden Täter*innen zu konzentrieren, wenn der grösste Teil der Übergriffe von Vätern, Trainern oder Onkeln ausgeht.
Wir müssen der Realität ins Auge blicken: Es ist wahrscheinlich, dass wir alle Täter*innen in unserem erweiterten Umfeld haben. Es ist wie mit der sexualisierten Gewalt an Frauen: Obwohl wir alle Opfer kennen und diese meist den Täter vor der Tat schon gekannt haben, glaubt niemand, übergriffige Bekannte zu haben.
Es ist unvorstellbar.
Und wenn dann ein Kind trotzdem den Mut und die Sprache findet, von einem sexualisierten Übergriff zu erzählen, wird ihm oft nicht geglaubt. Zwar behaupten immer alle Eltern, sie würden ihren Kindern schon glauben, aber wenn es hart auf hart kommt, ist es immer einfacher, Erwachsenen zu glauben als Kindern.
Auch hier gibt es eine Parallele zu sexualisierter Gewalt gegenüber FINTA-Personen. Den Opfern wird ja auch oft die Glaubwürdigkeit abgesprochen.
Genau. Im Gegensatz zur sexualisierten Gewalt gegenüber Frauen gibt es zwar nicht das Vorurteil, Kinder würden Geschichten erfinden, um bewusst jemandem zu schaden. Dafür herrscht, wie ich bereits gesagt habe, bei Übergriffen an Kindern viel Unwissen und falsche Vorstellungen.
Das zeigt sich auch im Umgang von Fachpersonen mit Kindern, die von einem sexualisierten Übergriff erzählen. Sie suchen nach dem Gespräch mit dem geschädigten Kind dann oft das Gespräch mit der beschuldigten Person. Danach schwindet der Glaube an die Aussagen des Kinds drastisch.
Das ist wenig überraschend: Eine erwachsene Person kann eine viel kohärentere Geschichte erzählen als ein siebenjähriges Kind, das unter enormem Druck steht.
Wie kann man dafür sorgen, dass man Kindern glaubt, auch wenn die Erwachsenen glaubwürdiger argumentieren?
Wir können nicht einfach die Aussage von Kindern und Erwachsenen einander gegenüberstellen, sondern müssen sie gewichten. Es gibt für Kinder keinen Grund, einen Übergriff zu erfinden, und die Tatsache, dass Übergriffe regelmässig passieren, sollte alleine schon ausreichen, dem Kind zu glauben.
Ein Gespräch mit dem Beschuldigten sollte unbedingt vermieden werden. Nicht nur hilft es nicht in der Wahrheitsfindung, es kann auch dazu führen, dass das Kind noch mehr unter Druck gesetzt wird und dass Beweise vernichtet werden.
Anders sieht es natürlich bei den Strafverfolgungsbehörden aus: Sie sind verpflichtet, beide Seiten anzuhören und Beweise zu suchen. Zudem sind sie geschult im Umgang mit Zeugenaussagen von Kindern. Aber Eltern und andere Beziehungspersonen landen in einer Sackgasse, wenn sie beide Seiten anhören wollen.
Sexualisierte Gewalt ist ein Männerproblem – auch wenn sie Kinder betrifft: Über 90 Prozent der Tatpersonen sind männlich. Trotzdem schreiben Sie: „Ich behaupte, dass Frauen im Alltag öfter die Grenzen von Kindern überschreiten als Männer.“ Wie kommen Sie auf diese Aussage?
Frauen überlegen sich im Gegensatz zu Männern nie, ob ihr Verhalten als sexuelle Absicht gedeutet werden könnte. Was dazu führt, dass sie manchmal unsensibler mit den Grenzen von Kindern umgehen. Sie überlegen womöglich seltener, ob eine Umarmung, ein Kuss oder eine Massage an den Schultern grenzverletzend sein könnte.
Im Gespräch mit Lehrpersonen gab es immer wieder den Fall, dass es für Lehrerinnen selbstverständlich war, in die Garderoben der Kinder einzutreten, während Lehrer sich das nie getraut hätten. Dabei sollten sich beide an die gleichen Regeln halten. Auch Frauen sollten sich fragen: Ist diese Nähe angebracht und notwendig? Prävention sexualisierter Gewalt fängt im Bereich der alltäglichen Grenzverletzungen an.
Bei den sexuellen Übergriffen sind die Zahlen nicht eindeutig: Einige Studien sagen, dass die allermeisten Frauen nur gemeinsam mit Männern übergriffig gegenüber Kindern sind. Andere Studien gehen davon aus, dass die Dunkelziffer gross ist und es bis zu 20% Täterinnen gibt.
In Ihrem Buch ermutigen Sie Kinder und Eltern, sich den eigenen Grenzen bewusst zu werden. Anhand von offenen Fragen wie, „Gibt es Situationen, in denen du es nicht okay findest, wenn sich Erwachsene vor dir umziehen?“, laden Sie dazu ein, über die eigenen körperlichen Grenzen nachzudenken. Ist das eine sinnvolle Prävention?
Ja, eine effektive Prävention fängt damit an, dass sich Eltern und Kinder den körperlichen Grenzen bewusst werden. Ein grosser Teil der Prävention hat sich bisher damit befasst, dass Kinder sich dann wehren, wenn sie ein Nein-Gefühl empfinden, also eine Abwehrreaktion in einer übergriffigen Situation. Das Problem ist, dass viele Übergriffe in spielartige Situationen eingebunden sind und sich somit erst viel zu spät ein Nein-Gefühl manifestiert.
In anderen Themen setzt man seinen Kindern auch klare Grenzen: Du darfst nicht stehlen, du sollst nicht bei Rot über den Fussgängerstreifen. Deshalb müssen wir bei Grenzverletzungen anfangen, die tagtäglich passieren und eine klare Haltung entwickeln. Das sendet zum einen ein klares Signal an das Kind: Du hast klare Grenzen und es ist meine Aufgabe, dafür zu sorgen, dass diese gewahrt werden.
Gleichzeitig schafft es ein Umfeld, das für den Täter*innen nicht attraktiv ist: Wo die Erwachsenen hinschauen und zuhören, ist es schwieriger, unbeobachtet übergriffig zu sein.
Im Buch beantworten Sie die Fragen aber nicht, was genau diese Grenzen sein sollen.
Nein, auch wenn ich weiss, dass sich viele Eltern gerne einen Leitfaden wünschen würden. Aber leider funktioniert das nicht so. Prävention heisst, sich mit dem Thema selber auseinanderzusetzen und die Grenzen zusammen mit den Kindern zu definieren. Wir leben in einer Gesellschaft, in der sexualisierte Gewalt an Kindern tabuisiert ist und auch Erwachsene untereinander nicht darüber sprechen. Aber diese Kommunikation muss zur Normalität werden.
Mein Buch soll Erwachsene unterstützen, mit Kindern ins Gespräch zu kommen und dem Thema mit mehr Sicherheit und Souveränität zu begegnen. Denn nichts ist für Täter*innen abschreckender als ein Umfeld, in dem offen über Nähe, Grenzverletzungen und sexualisierte Gewalt gesprochen wird.
Dieses Interview ist zuerst bei der P.S.-Zeitung erschienen. Die P.S.-Zeitung gehört wie Das Lamm zu den verlagsunabhängigen Medien der Schweiz.
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