Sticken gegen Rassismus

Die brasi­lia­nisch-schwei­ze­ri­sche Künst­lerin Eva De Souza war im Oktober Resi­dent im anti­ras­si­sti­schen commu­nity center „Living Room“ in Bern. De Souza stickt, um Gewalt­er­fah­rungen zu verar­beiten. Indem sie Geschichten auf Stoff aufnäht, klagt sie gegen eine Gesell­schaft, die Gewalt als Teil von sich akzeptiert. 
Die Ausstellung im Living-Room lädt zum mitmachen ein. (Foto: Eva De Souza)

„Der Living Room ist ein belebter Ort, darauf habe ich mich einge­lassen“, lacht Eva De Souza beim Vorbei­gehen an ihren Kunst­werken, die sie in diesem Raum – zugleich Stube, Biblio­thek und Arbeits­zimmer – ausstellt. Manche ihrer Werke hängen am Bücher­ge­stell, andere über dem Sofa, wieder andere hinter dem Tisch oder am Fenster. Auch Bilder, die Besucher*innen gemalt haben, hängen mit Draht­seilen an der Decke. Jeden Mitt­woch und jeden Samstag gibt De Souza Mal- und Textil-Workshops.

Ein Zuhause

Gegründet wurde der Living Room im Sommer 2021 durch den Berner Rassismus Stamm­tisch. Wie der Name sagt, soll er ein Ort sein, wo man sich gegen­seitig unter­stützt und in dem sich alle wie zu Hause fühlen. Im Living Room ist immer Betrieb. Derzeit kommen die Leute, um sich De Souzas Ausstel­lung anzu­sehen, die meisten aber kommen einfach so, um zu reden, sich ein Buch auszu­leihen oder sie bringen etwas zu essen.

Der Raum ist gemein­schaft­lich aufge­baut. Für die Einrich­tung haben Nachbar*innen im Berner Quar­tier Brei­ten­rain Möbel, Teppiche, Lampen und Küchenuten­si­lien gespendet. Für Projekte werden jeweils Unter­stüt­zungs­an­träge gestellt, die Geld­be­schaf­fung ist aufwendig, erzählt De Souza.

De Souzas Werke nehmen sich ihren Raum im Living Room. (Foto: Eva De Souza)

Seit der Grün­dung wurden hier schon viele Veran­stal­tungen orga­ni­siert. Nicht nur bei der Akti­ons­woche gegen Rassismus ist der Living Room zentraler Akteur. Die grossen Debatten um Rassismus werden durch die Aktivist*innen des Living Room mitge­führt oder auch mitin­iti­iert. So sind einige Mitglieder etwa beim Akti­ons­plan für die Entfer­nung des Wand­bilds im Schul­haus Wylergut involviert.

Auch De Souza ist seit der Grün­dung im Living Room aktiv. Sie kennt hier viele Leute. Die Werke, die sie ausstellt, heissen „Bord­ados Poli­ticos“ („poli­ti­sche Sticke­reien“ auf Deutsch). „Diese sind mein stiller Protest“, erklärt De Souza, „ich bear­beite poli­ti­sche Themen in einer tradi­tio­nell weib­li­chen Kunstform.“

Die Strasse im Bild

Eine grosse Stickerei, die an promi­nenter Stelle an der Wand hängt, ist in zwei Flächen unter­teilt. Im unteren Feld erkennt man den scheinbar reglosen Körper einer liegenden Frau auf grauem Grund. Um sie herum ist nichts. Die Szenerie am oberen Bild­rand dagegen ist dicht und bewegt. Bunte Gesichter aus Stoffen verschie­dener Farben und Muster bilden eine Reihe. Erst beim genaueren Schauen erkennt man, dass es keine Gesichter, sondern Masken sind.

Buntes Leben und graue Lebens­rea­lität treffen bei De Souza direkt aufein­ander. (Foto: Eva De Souza)

„Das sind die Menschen am Carneval“, erklärt De Souza, „sie ziehen an der Frau, die auf der Strasse liegt, vorbei.“ Unter den Masken steht in aufge­nähten schwarzen Buch­staben der Satz: „Wir müssen wissen, ob du ein Mensch bist.“ Die Aussage, die sich offenbar an die liegende Frau richtet, wirkt als Aussage von Gesich­tern hinter Masken paradox.

Die Arbeit ist eine Weiter­ent­wick­lung der Figur „Mulher no saco“, der Frau im Beutel, die schon in älteren Werken von De Souza vorkommt. Es handelt sich bei der Figur um eine Stras­sen­ver­käu­ferin, der De Souza einst begegnet war und deren Bild sie seither mit sich trägt.

Gestickt ist das Werk auf eine Umzugs­decke. Ein Mate­rial, das sie häufig als Unter­lage für ihre Bilder verwendet, wie De Souza erklärt. Durch ihre grob­ma­schige Struktur und die farbigen Fäden, die in das graue Garn verwoben sind, eignet es sich, um die Struktur der Strasse zu reprä­sen­tieren. Die Strasse wiederum ist Schau­platz für viele von De Souzas Werken.

Gewalt im Zentrum

Die Arbeit mit dem Titel „a TV“ zeigt eine Frau mit rotem T‑Shirt, die sich mit offenen Armen gegen zwei Poli­zi­sten in Blau stellt, um einen am Boden kauernden Mann zu vertei­digen. Die Szene erin­nert an Nahauf­nahmen aus Nach­rich­ten­sen­dungen. Die aufge­nähten Figuren im Vorder­grund fallen durch ihre Farbig­keit auf.

„Letzte Woche hatten wir hier eine Veran­stal­tung“, berichtet De Souza, „Junge Männer aus unserer Commu­nity standen draussen vor dem Living Room. Ohne Grund hielt die Strei­fen­po­lizei hier an und kontrol­lierte sie. Darauf habe ich dieses Werk in das Schau­fen­ster gehängt, damit man es von aussen sieht.“

Beim genaueren Hinsehen erkennt man auf dem Werk eine weitere Ebene: Ein Poli­zist richtet sich gegen eine Gruppe von Menschen, von denen nur die Umrisse sichtbar sind.

In ihren Bildern verar­beitet De Souza Gewalt­er­fah­rungen. (Foto: Eva De Souza)

„Das sind die Toten“, erklärt De Souza. Im Gegen­satz zur reali­sti­schen Darstel­lungs­weise im Vorder­grund wirken die weissen Silhou­etten wie eine surrea­li­sti­sche Ebene im Hinter­grund. Für De Souza aber sind die Geister bezie­hungs­weise ist die Vergan­gen­heit real, wie sie sagt, sie trage sie immer im Bewusstsein.

Am unteren Bild­rand schliess­lich holt eine weitere Figur in einem Tarn­anzug zu einem Schlag mit einem Stock aus. „Bei dieser Figur wissen wir nicht, auf welcher Seite sie steht“, sagt De Souza, „die Gewalt wohnt in uns allen, auch in mir, wie man bei meinen Arbeiten sieht.“

Das Sticken und Nähen aber hilft ihr, die Gewalt zu verar­beiten. „Die aufwen­dige Arbeit mit Textil ist für mich Teil eines Heilungs­pro­zesses. Ich fertige die Werke für mich selbst, aber auch für die Personen, die Gewalt erfahren haben“, erzählt De Souza.

Themen wie Poli­zei­ge­walt und Isola­tion sind promi­nent erkennbar in De Souzas Werken. Dennoch wirken die Figuren in den Bildern nicht alleine. Die Zuwen­dung der Künst­lerin ist spürbar. Sie gibt den Figuren Kleider und arbeitet Mantras oder den Schutz der Natur oder Natur­gei­ster mit hinein.

Die Grenzen des Möglichen

Ein Wesen, das in mehreren Werken vorkommt, meistens etwas versteckt, ist der Hahn. In De Souzas Heimat­stadt Bahia ist der Hahn in der durch das Volk der Yoruba geprägten Candomblé-Reli­gion ein wich­tiges Symbol. Ein Hahn wird geop­fert, wenn die Grenzen des Mögli­chen erreicht sind und man Unter­stüt­zung braucht, erklärt De Souza. Obwohl die Künst­lerin nicht glaubt, dass „Götter“ die Probleme der Menschen lösen können, ist es für sie wichtig, den Figuren in ihren Bildern etwas mitzugeben.

Ihre Kunst­werke bestechen durch ihre ausdrucks­starke Formen­sprache und heraus­for­dernde Inhalte. Sie spre­chen über die tief veran­kerten Probleme einer kapi­ta­li­sti­schen, anthro­po­zen­tri­schen und rassi­sti­schen Gesell­schaft. Gleich­zeitig wirken die hervor­tre­tenden Gewalt­szenen auf den Bord­ados durch ihre Offen­le­gung wie eine Anklage und eine Warnung. Die Künst­lerin soli­da­ri­siert sich mit den Betrof­fenen und ruft weitere Akteur*innen aufs Feld. So passt ihre Arbeit perfekt in den Living Room.

Die Resi­denz ist De Souzas erste Ausstel­lung nach der langen Isolie­rung aufgrund der Pandemie. Sie geniesst es, als Gast­ge­berin und Vermitt­lerin wieder unter Menschen zu sein.

Bis Ende Oktober wird De Souzas Ausstel­lung zu sehen sein, danach wird jemand Neues als Resident*in in den Living Room einziehen. Zuerst aber gibt es ein Fest für de Souza. Am Samstag, den 29. Oktober, heisst der Living Room ab 18 Uhr alle herz­lich willkommen.


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