Kopf­lose Rambos? Wenn Zürcher Polizist:innen prügeln (1/2)

Wenn Demon­strie­rende auf Polizist:innen treffen, kommt es oft zu Gewalt. Daran ist auch ein Para­dig­men­wechsel inner­halb der Polizei verant­wort­lich. Teil 1 der Repor­tage über Poli­zei­ge­walt in Zürich. 
Als Moritz auf den Boden gedrückt wird, begründen die Beamt:innen den Angriff mit einem Steinwurf – der laut Moritz nie stattgefunden hat. (Illustration: @lindaluxemburgerli)

Teil 1: Kopf­lose Rambos? Wenn Zürcher Polizist:innen prügeln.
Teil 2: Im Zweifel für den Beamten. 

Ein Geschoss trifft Moritz* am Hals. Ein zweites am Brust­korb. Ein drittes am Bauch. Er fällt zu Boden und verliert das Bewusstsein. 

Als er die Augen öffnet, sieht er die Stiefel von drei Polizist:innen. Ein Fuss drückt auf seinen Rücken und klemmt Moritz’ linken Arm zwischen Ober­körper und Boden ein. Eine Stimme befiehlt: „Hand auf den Rücken! Leisten Sie keinen Widerstand!“

Moritz will ansetzen, um zu erklären, dass ihm das nicht möglich sei, doch er bekommt keine Luft. Ein Poli­zist tritt mit dem Fuss mehrere Male gegen Moritz’ Ober­körper. Ein zweiter drischt von oben auf ihn ein. Moritz krümmt sich vor Schmerz.

Als er langsam zu sich kommt, hört Moritz eine näher kommende männ­liche Stimme: „Woher kommt denn der da?“ Moritz vermutet später, dass es sich dabei um den Einsatz­leiter handelt. „Der lag da vor mir auf dem Boden“, antwortet einer der anderen Poli­zi­sten. „Was hat er denn gemacht?“, fragt die erste Stimme. „Hat wahr­schein­lich Steine geschmissen“, antwortet jemand. „Ja! Genau. Steine geschmissen“, pflichten weitere Stimmen bei.

So wird es Moritz später erzählen. Seine Erin­ne­rungen hat er noch am selben Tag in einem Gedächt­nis­pro­to­koll fest­ge­halten, welches das Lamm vorliegt.

Moritz ist ein gross­ge­wach­sener Mann mit schul­ter­langem Haar. An diesem Tag im September 2019 wurde er Opfer eines gewalt­vollen Poli­zei­ein­satzes. In den vergan­genen Jahren kam es in Zürich zu einer Hand­voll Fällen schwer­wie­gender Poli­zei­ge­walt. Der bislang schlimmste ist der Fall eines Mannes, der von zwei Zürcher Poli­zi­sten 13-Mal ange­schossen wurde. Er leidet sechs Jahre danach noch an den Folgen. Das Verfahren gegen den Poli­zi­sten ist immer noch hängig.

Während Schuss­waf­fen­ein­sätze bis heute in Zürich eine Selten­heit darstellen, ist das, was an diesem Septem­bertag in Zürich geschah, nichts Unge­wöhn­li­ches. Einsätze wie dieser ereignen sich oft, fast beiläufig. Wie oft genau, weiss niemand. Es werden dazu keine Zahlen erhoben. Die Opfer haben wenig Möglich­keiten, sich dagegen zur Wehr zu setzen.

Auch Moritz konnte sich nicht wehren. Am Ende dieser Geschichte werden nämlich nicht die tretenden Einsatz­kräfte, sondern Moritz verur­teilt. Warum?

Das Lamm arbei­tete den Vorfall und das darauf­fol­gende Verfahren auf, sich­tete Hunderte Seiten Akten, sprach mit Demo­teil­neh­menden, mit Jurist:innen sowie mit lang­jäh­rigen Beobachter:innen der Stadt­zür­cher Polizei und Justiz und Expert:innen für Menschen­rechte. Am Ende konfron­tierten wir die Stadt­po­lizei und die Zürcher Staats­an­walt­schaft mit den Vorwürfen.

Die Recherche zeigt: In Zürich gilt nicht immer „im Zweifel für den Ange­klagten“. Sie legt statt­dessen nahe, dass die Justiz mit Vorur­teilen gegen Linke operiert – und gleich­zeitig Beamt:innen in Schutz nimmt, wo immer es geht.

Der Poli­zei­ein­satz

Kurz bevor Moritz zu Boden fällt, steht er inmitten eines Demon­stra­ti­ons­zugs in Zürich. Es ist der 14. September 2019, der Marsch fürs Läbe zieht durch Zürich. Queerfeminist:innen und linke Aktivist:innen stellen sich ihm in den Weg. Auch Moritz hat sich ihnen ange­schlossen. Die Polizei ist an diesem Tag eben­falls wie jedes Jahr mit einem Gross­auf­gebot vor Ort und versucht, die beiden Demos vonein­ander zu trennen.

Am Limmat­platz kommt es zu einem Gerangel zwischen der Feuer­wehr und den Demon­strie­renden. Einige haben Barri­kaden errichtet, andere rütteln am Lösch­fahr­zeug. Gemäss Vorwürfen der Staats­an­walt­schaft war auch Moritz dort anwe­send. Es entstand ein Sach­schaden am Feuer­wehr­auto, niemand wurde verletzt.

Am Nach­mittag droht die Lage bei der Josef­wiese erneut zu eska­lieren. Moritz steht auf einem Park­platz, als er sieht, wie Reiz­gas­kar­tu­schen neben ihm zu Boden fallen. Über die Ereig­nisse von diesem Tag berichten Zeitungen von der WOZ bis zur NZZ und kriti­sieren, dass die Polizei Reizgas einge­setzt hat, obwohl sich bei der Josef­wiese viele unbe­tei­ligte Fami­lien aufhielten.

Während sich Moritz’ Sicht verne­belt, ziehen sich seine Mitde­mon­strie­renden zurück. Nur Moritz bleibt stehen, richtet seinen Blick nach oben Rich­tung Viadukt­bögen und sieht Polizist:innen mit Gewehren im Anschlag. Moritz erin­nert sich, dass er verdutzt war, als sie ansetzten, um ein weiteres Mal abzu­ziehen. Also winkt er ihnen zu, als wolle er sagen: „Was soll das?“ 

Dann wird er vom Gummi­schrot getroffen. 

Die „Rambo-Truppe“

Die Prügel, der raue Tonfall und die Anschul­di­gungen, die Moritz in der Folge erfährt, gehören in der Stadt Zürich zum courant normal: Insbe­son­dere linke Demon­strie­rende werden von der Stadt­po­lizei oft hart angegangen. 

An diesem Tag sind Polizist:innen der Spezi­al­ein­heit BFE im Einsatz. Die Einheit zur Beweis­si­che­rung und Fest­nahme gehört zur speziell bewaff­neten und ausge­bil­deten Inter­ven­ti­ons­ein­heit Skor­pion, bei der die Beamt:innen rund um die Uhr verfügbar sind. Skor­pion wurde im Jahr 2005 gegründet und besteht bis heute ausschliess­lich aus Männern. Die BFE wird bei Einsätzen wie jenen am 14. September aufge­boten. Sie sind immer dann da, wenn die Polizei eine „Eska­la­tion“ befürchtet. Etwa während Fuss­ball­spielen – oder Demonstrationen. 

Lange Zeit trat sie ohne Kenn­zeich­nung auf, erst seit 2017 prangen auf ihren Uniformen die Buch­staben BFE. Ihre Aufgabe ist es, Menschen fest­zu­nehmen und Beweis­ma­te­rial für allfäl­lige Ermitt­lungen gegen Demon­strie­rende zu sammeln. 

Die Einheit gerät immer wieder in die Kritik. Ein Stadt­po­li­zist, den der Tages-Anzeiger getroffen hat, nennt sie eine „Rambo-Truppe“. Politiker:innen und Jurist:innen vermuten gegen­über das Lamm: Die Einheit ist das Resultat eines Para­dig­men­wech­sels bei der Stadt­zür­cher Polizei. 

Bilder von Polizist:innen, die mit Knüp­peln auf Demon­strie­rende losgehen, kennt man aus Deutsch­land und Frank­reich. In Zürich hingegen wurde bisher Wert darauf gelegt, dass Bedien­stete Abstand zu Demon­strie­renden halten. Sie sollten notfalls mit Gummi­schrot und Sperr­git­tern eine Menschen­menge unter Kontrolle halten. Die BFE hingegen zieht Menschen gezielt aus der Menge heraus und verhaftet sie.

Ihr Spezi­al­ge­biet ist die körper­liche Konfrontation. 

Insge­samt scheint die Polizei immer stärker auf Repres­sion statt auf Dees­ka­la­tion zu setzen. Anzei­chen dafür lassen sich auch an den Uniformen erkennen. Der Farbton wird immer dunkler und an allen Stellen tauchen neue Rüstungs­ele­mente auf. 

Im Jahr 2019 wurden in der Stadt Zürich 120 Reiz­gas­gra­naten an gerade einmal sieben Anlässen abgeschossen.

Beim Thema Gewalt­ein­satz hält sich die Stadt­po­lizei verdeckt. So gibt es keine öffent­li­chen Zahlen zum Einsatz von Gummi­schrot und Reizgas. Auf Nach­frage gibt die Stadt­po­lizei an, im Jahr 2019 144 Gummi­schrot­pa­kete verteilt auf zehn Anlässe und 120 Reiz­gas­gra­naten bei gerade einmal sieben Anlässen abge­schossen zu haben. Im Jahr davor wurden nur 40 Gasgra­naten verwendet. 

Fehlender Dialog, verschleppte innere Untersuchungen

Was Moritz erlebte, erleben Demo­teil­neh­mende in Zürich regel­mässig. Auch eine Studentin, die an einer femi­ni­sti­schen Demo am 6. März teil­nahm. Sie und andere Demon­strie­rende wurden von der Polizei einge­kes­selt. Einzelne Personen wurden aus der Menge gezogen und kontrol­liert. Darunter waren junge Frauen, auch einige die zum ersten Mal auf einer Demo waren, wie Teil­neh­mende erzählen. 

Die Studentin wurde von mehreren Männern in Uniform zu Boden geworfen. Einer schlug ihr mit der Faust ins Gesicht, wie auf einem Video zu erkennen ist (das Lamm berich­tete). Auch an diesem Tag waren BFE-Beamte vor Ort. Daraufhin wurde sie verhaftet und zum Poli­zei­po­sten gebracht. 

Zuerst kündigte die Polizei interne Unter­su­chungen an. Drei Monate nach dem Vorfall vertei­digt der Poli­zei­vor­steher Daniel Blumer gegen­über der NZZ den Vorfall: Die Demon­strantin habe den Poli­zi­sten zuvor in den Finger gebissen, die Schläge ins Gesicht als „Ablen­kung“ seien daher gerecht­fer­tigt. Es werde keine perso­nal­recht­li­chen Mass­nahmen gegen den Poli­zi­sten geben. 

Die Staats­an­walt­schaft gibt auf Anfrage von das Lamm an, gegen beide Invol­vierten eine Unter­su­chung zu führen. 

Anwältin Manuela Schiller ist der Meinung, dass bei der Polizei vor allem das Wissen fehle, Situa­tionen richtig einzu­schätzen. Früher hätten dort noch „Szenekenner:innen“ gear­beitet, die wussten, wer in der linken Szene aktiv ist und welche die poli­ti­schen Ziele unter­schied­li­cher Gruppen sind. Und eben auch: wann es zu Gewalt aus dem linken Spek­trum kommen kann und wann nicht. 

„Vor einem solchen Einsatz muss die Polizei entscheiden: Bringen wir das Dialog­team mit – oder den Wasser­werfer? Diese Entschei­dung fällt sie oft aufgrund von Vorur­teilen“, sagt Schiller. So gäbe es eine klare Vorstel­lung davon, wer die „guten“ Demon­strie­renden sind und wer die „schlechten“. Diese Einschät­zung basiere aber nicht auf Wissen, sondern auf Klischees. So gelte der Klima­streik nach wie vor als harmlos, links­au­to­nome Bewe­gungen hingegen als gefährlich. 

Zudem verfolgen solche Einsätze oft ein klares Ziel, das schon vorher fest­ge­legt wird. In einem Einsatz­dis­po­sitiv kann etwa stehen: „Absicht: auffäl­lige und/oder verdäch­tige Personen kontrol­lieren“. Was genau auffällig und verdächtig ist, ist nicht defi­niert. Das Lamm hat Einblick in die Zusam­men­fas­sung eines solchen Dispo­si­tivs erhalten. Die Polizei gibt diese Doku­mente fast nie heraus. 

„Heute gibt es niemanden mehr, der die linke Szene lesen kann.“

Manuela Schiller, Rechtsanwältin

Wenn der Wasser­werfer dann einmal da stehe, die BFE-Beamt:innen in Voll­montur bereit seien, eska­liere die Lage schneller. Auch wenn Demon­strie­rende keine Gewalt oder Sach­be­schä­di­gung im Sinn haben. „Heute gibt es bei den Behörden niemanden mehr, der die linke Szene lesen kann“, sagt Schiller. „Statt­dessen arbeiten bei der Polizei Klein­bürger, die denken, dass alles, was links aussieht, gewalt­tätig ist.“ 

Auf den Vorwurf der unge­recht­fer­tigten Gewalt­an­wen­dung entgegnet die Spre­cherin der Stadt­po­lizei Judith Hödl lapidar: „Personen, die sich von der Polizei unge­recht behan­delt fühlen, haben immer die Möglich­keit, sich beim Feed­back­ma­nage­ment der Stadt­po­lizei Zürich oder dem städ­ti­schen Ombuds­mann zu melden.“ 

„Sie sind verhaftet“ 

Moritz hat sich weder beim Feed­back­ma­nage­ment noch beim Ombuds­mann gemeldet. Nachdem er noch am Boden liegend verhaftet wird, muss er mit zum Poli­zei­auto. Als er sich wehrt, nimmt einer der Poli­zi­sten seinen Kopf und knallt ihn gegen das Auto. Dann kommt ein Mann zu ihm und sagt: „Ich bin Georg Kloos*, Einsatz­leiter. Sie sind verhaftet, weil ich beob­achtet habe, wie Sie Steine auf die Polizei geschmissen haben.“

Die Stadt­po­lizei Zürich äussert sich zum Vorfall nicht. Ob eine der Stimmen, die Moritz während der Fest­nahme gehört hatte, dieje­nige von Kloos war, kann er nicht sicher wissen. Trotzdem ist Moritz sicher, dass der Beamte lügt: „Ich habe keinen Stein geschmissen.“

Ab der Fest­nahme hört die Aufgabe der Polizei auf und fängt die Arbeit der „Krawall­gruppe“ der Staats­an­walt­schaft an. Sie muss jetzt in alle Rich­tungen ermit­teln, Beweise sammeln, Einver­nahmen durch­führen und heraus­finden: Wer sagt die Wahrheit?

Einein­halb Jahre nachdem die „Krawall­gruppe“ loslegt, wird Moritz vor Gericht schuldig gespro­chen und zu einer bedingten Gefäng­nis­strafe verur­teilt. Wie konnte es dazu kommen, obwohl er angibt, keinen Stein geworfen zu haben?
Das lesen Sie morgen im zweiten Teil der Repor­tage: „Im Zweifel für den Beamten“

*Namen von der Redak­tion geändert

Diese Recherche wurde vom Recherche-Fonds der Gott­lieb und Hans Vogt Stif­tung, vergeben durch investigativ.ch, geför­dert.


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