Tiefe Zahlen, laute Stimmen

Bei den vergan­genen Abstim­mungen betei­ligten sich ältere Menschen wieder häufiger als jüngere. Dennoch muss endlich Schluss sein mit dem Klischee der „faulen Jugend“, findet unsere Autorin. 
Die Kolumne „Jung und Dumm" schafft Platz für den Austausch über Anliegen der Jugend (Illustration: Arbnore Toska, @arbnoretoska).

Am vorletzten Samstag stand ich pünkt­lich um zwei Uhr nach­mit­tags auf dem De-Wette-Park in Basel. Einige Wochen davor hatte ich diesen Tag in grosser roter Schrift in meinem Kalender markiert: „Klima­streik“.

Das Ganze ist mir mitt­ler­weile schon vertraut: Parolen, die schon auf den Demon­stra­tionen vor der Pandemie skan­diert wurden; Menschen, die keinen Klima­streik verpassen; eine Stim­mung der Empö­rung, in der gleich­zeitig Erleich­te­rung darüber mitschwingt, dass viele andere auch empört sind. Der Gross­teil der Teil­neh­menden sind junge Menschen. So wie ich.

Am Donnerstag geht es nach Bern an die Eidge­nös­si­sche Jugend­ses­sion, wo ich viel mithören, beob­achten und mitdenken kann. Am Ende der vier Tage gestalte ich gemeinsam mit einem Team junger Journalist*innen ein Magazin zur Jugend­ses­sion. Ich freue mich schon auf vier inten­sive Tage mit span­nungs­vollen poli­ti­schen Debatten, einem Haufen junger Menschen und vegi Hot Dogs im Bundeshaus.

Klima­hy­ste­risch und radikal oder unver­ant­wort­lich und faul: Es wird viel an jungen Menschen rumge­nör­gelt. Schlimmer als die Kritik ist aber ihre fehlende Reprä­sen­ta­tion in der Öffent­lich­keit. Während sich alle Welt über Anliegen der Jugend äussert, finden diese selbst nur in sozialen Netz­werken eine Platt­form. Das ändert nun die Kolumne „Jung und dumm“. Helena Quarck schafft Platz für Diskus­sionen und den Austausch über Anliegen der Jugend.

Während den beiden Veran­stal­tungen staune ich. Die Leiden­schaft, die junge Menschen für Politik aufbringen und mit der sie Unglaub­li­ches auf die Beine stellen können, beein­druckt mich. Worüber ich manchmal aber auch staune, ist die fehlende poli­ti­sche Parti­zi­pa­tion junger Menschen, wenn es dann an die Urne geht.

Zur Stimm­be­tei­li­gung von jungen Menschen gibt es relativ wenig Recherche und Zahlen. Jene, die es gibt, sind erschreckend. Im Oktober dieses Jahres veröf­fent­lichte die Fach­stelle für Stati­stik des Kantons St. Gallen Infor­ma­tionen zur Stimm­be­tei­li­gung verschie­dener Alters­gruppen in der Abstim­mung vom 25. September 2022. 

Unter den verschie­denen Vorlagen lag mit der AHV21 eine vor, die mit dem Slogan „Echte Gene­ra­tio­nen­ge­rech­tig­keit“ beworben wurde. An dieser Abstim­mung betei­ligten sich im Kanton St. Gallen 70- bis 74-jährige Menschen etwa doppelt so stark wie 18- bis 24-jährige.

Klar, dass diese Zahlen die Verblö­dungs­res­sen­ti­ments der älteren gegen­über jüngeren Gene­ra­tionen trig­gern. Man hört sie schon wieder hornen, die altbe­kannten Klage­lieder über die faule Jugend in den Kommen­tar­blasen. Doch so einfach ist es nicht.

Dass sich junge Menschen tenden­ziell weniger betei­ligen, ist in einem gewissen Rahmen normal. Eine Einlaufs­zeit, in der sich junge Menschen an poli­ti­sche Prozesse gewöhnen dürfen, ist erwartbar und legitim. Die Zahlen, die der Kanton St. Gallen veröf­fent­lichte, sollten uns dennoch aufhor­chen lassen – gerade in einer Zeit, in der für Junge so viel auf dem Spiel steht.

Man kann die Jugend schwer als homo­gene Gesell­schafts­gruppe betrachten, denn unter uns bestehen verschie­dene Meinungen, Persön­lich­keiten und daher auch Bedürf­nisse. Eine von der Univer­sität Zürich im Sommer 2021 publi­zierte Studie analy­siert die poli­ti­sche Parti­zi­pa­tion der Zürcher Jugend. Die Ergeb­nisse legen den Blick auf einige Mängel frei, die zur vermin­derten Stimm­be­tei­li­gung führen können. 

Einer davon liegt in der fehlenden Reprä­sen­ta­tion. Dass die Betei­ligten in der Politik heute zu alt sind, verstärkt die enorme Unter­ver­tre­tung junger Menschen. Dies schadet unserer Demo­kratie nicht nur inso­fern, als dass Junge bei Entschei­dungs­pro­zessen in Parla­menten wenig bis gar keine Mitsprache haben, sondern auch darin, dass sie in unseren Parlamentarier*innen keine Rollen­vor­bilder sehen.

Ananda Klaar, junge Autorin und Gymna­sia­stin vom Bodensee, beschreibt in ihrem Buch „Nehmt uns endlich ernst!“ das fehlende Vertrauen unserer Gene­ra­tion in die Regie­rungen und inwie­fern dies einen Einfluss auf unsere poli­ti­sche Betei­li­gung hat. 

Wir sind mit dem Bewusst­sein für die Klima­krise gross geworden und müssen mitan­sehen, wie die Politik dennoch Tag für Tag mit unserer Zukunft spielt. „Der wieder­holte Vertrau­ens­bruch führt unwei­ger­lich zu einem Riss. Einem Riss zwischen Jugend und Politik“, erklärt sie.

Solange dieser Riss besteht und solange sich junge Menschen kaum von der Politik ange­spro­chen oder berück­sich­tigt fühlen, wird sich die Stimm­be­tei­li­gung auch nicht gross ändern. Die Frage, wessen Schuld dieses Problem ist, trägt meiner Meinung nach keine grosse Bedeu­tung. Viel höher zu gewichten, ist die Frage, wie wir ab jetzt handeln werden. 

Wenn ich mir die tiefen Zahlen aus St. Gallen anschaue, erkenne ich darin nicht eine faule und poli­tik­ver­dros­sene Jugend. Ich sehe junge Menschen, die sich mit der Politik nicht iden­ti­fi­zieren können oder dies aufgrund des wieder­holten Vertrau­ens­bruchs gar nicht erst wollen.

Unserer Gene­ra­tion fehlt es nicht an poli­ti­schem Inter­esse, sondern an Nähe zur Politik – das ist ein Problem. Nicht ein Problem der Jugend und auch kein Problem der älteren Gene­ra­tion, sondern ein Problem, das uns alle betrifft.

Wir brau­chen mehr junge Menschen in den Parla­menten, damit sich die junge Gene­ra­tion Vorbilder nehmen kann, um sich für poli­ti­sche Themen zu sensi­bi­li­sieren. Die Politik muss der Jugend auch gleich­zeitig ein Ohr geben, denn auch mir entgehen die tiefen Erwar­tungen an der Jugend­ses­sion nicht, etwas verän­dern zu können. Nicht zuletzt liegt es auch an uns, weiterhin zu fordern, zu schreien und darauf zu bestehen, mehr Mitsprache zu erhalten.

Wir müssen einen langen Atem haben. Jedes Jahr werden die Klima­streik-Parolen länger. Und ich will auch näch­stes Mal jede einzelne mitschreien.


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