Von Genf nach Beirut: „Die Diaspora ist da, um die Hoff­nung hochzuhalten.“

Nach dem Beginn der Revo­lu­tion und einer Explo­sion im Hafen von Beirut befindet sich der Libanon in einer Krise. Menschen in der Diaspora wollen in Genf Hilfe holen. Doch dort fehlt der poli­ti­sche Wille — obwohl die Schweiz einiges tun könnte, um zu helfen. 
Demonstration für die libanesische Revolution auf dem Place des Nations, Genf, 22. Oktober 2019 (Bild: Fares Damien)

17. Oktober 2020. Jahrestag der liba­ne­si­schen Revo­lu­tion. In Beirut versam­meln sich Zehn­tau­sende auf den Strassen, um ihre Wut über die kata­stro­phalen Lebens­um­stände kund­zutun und für ein neues poli­ti­sches System zu demonstrieren.

Am selben Tag kommen auch in Genf bis zu 50 Libanes*innen auf dem Place des Nations vor dem Büro der Vereinten Nationen zusammen. Die Demon­stra­tion vor dem zweiten Haupt­sitz der UNO wird über den Twitter-Account der säku­laren Gras­wur­zel­be­we­gung Li Haqqi („Für meine Rechte“) per Live­stream in den Libanon übertragen.

Vor einem Jahr rief Li Haqqi als erste Gruppe zu den Prote­sten in Beirut auf. „Das Herz der Revo­lu­tion schlägt noch immer von Beirut zur Diaspora“, sagt Karim Damien, liba­ne­si­scher Akti­vist aus Genf, durch das Mikrofon. Die Stim­mung auf dem Platz ist etwas betrübt aufgrund der hohen Corona-Fall­zahlen und den neueren Mass­nahmen des Kantons. Trotzdem skan­dieren die Teilnehmer*innen laut­stark Parolen durch ihre Stoff­masken: „Alle von euch meint alle von euch!“ Es sind dieselben Parolen wie in Beirut.

Als vor einem Jahr auf dem Märtyrer-Platz in der liba­ne­si­schen Haupt­stadt die Proteste aufflammten, herrschte eupho­ri­sche Aufbruch­stim­mung. Heute ist die Bewe­gung, die in der Hoff­nung auf einen radi­kalen System­wandel ins Leben gerufen wurde, weit­ge­hend zurück­ge­drängt. Damals demon­strierten Hundert­tau­sende Menschen in verschie­denen Städten und Orten in Libanon für eine Erneue­rung ihres durch Reli­gion, Korrup­tion und Klien­te­lismus gebeu­telten Landes und erzwangen damit die Abdan­kung des Präsi­denten und Milli­ar­därs Saad Hariri. Parallel dazu orga­ni­sierten sich in Genf und in der ganzen Welt Menschen aus der sechs bis neun Millionen Menschen grossen Diaspora, um sich mit der revo­lu­tio­nären Bewe­gung soli­da­risch zu zeigen. In Libanon leben derzeit vier Millionen Menschen.

Seither ist viel geschehen. Zu viel: Wirt­schafts­kol­laps, Hyper­in­fla­tion, Preis­stei­ge­rungen, Hunger, Medi­ka­men­ten­knapp­heit, massive Repres­sion vonseiten des Mili­tärs und Schlä­gern der schii­ti­schen Hisbollah und Harakat Amal sowie den Internen Sicher­heits­kräften (ISF), dazu Corona. Und am 4. August 2020 die Explo­sion im Hafen von Beirut, die noch­mals alles auf den Kopf gestellt hat. 190 Menschen starben, mehr als 6’500 wurden verletzt. 300’000 Menschen verloren ihr Obdach, viele leiden seither unter psychi­schen Traumata.

Der Hafen von Beirut, der für das von Importen abhän­gige Land von grosser Bedeu­tung ist, wurde komplett ausser Stand gesetzt. Viele Menschen wollen das zwischen den Konflikt­herden Syrien und Israel einge­klemmte Land verlassen. Wegen einge­schränkter Ressourcen und fehlender Ausrei­se­mög­lich­keiten versu­chen einige in Booten auf das 160 Kilo­meter entfernte Zypern, den näch­sten EU-Mitglieds­staat, zu gelangen. Dabei sind bereits mehrere Menschen ums Leben gekommen. 

Demon­stra­tion für die liba­ne­si­sche Revo­lu­tion auf dem Place des Nations, Genf, 22. Oktober 2019 (Bild: Fares Damien).

Fares Halabi ist Akti­vist bei Li Haqqi und seit 2015 Student am Hoch­schul­in­stitut für inter­na­tio­nale Studien und Entwick­lung in Genf. Er pendelt zwischen der Schweiz und Libanon. „Von der Politik über die Wirt­schaft bis zur Infra­struktur – alles ist zerstört“, sagt Halabi. Nach der Explo­sion, den folgenden heftigen Demon­stra­tionen und der Beset­zung mehrerer Mini­ste­rien nahm der Akti­vist an einer Sitzung von revo­lu­tio­nären Gruppen teil, bei der die Bildung eines Schat­ten­ka­bi­netts disku­tiert wurde. Er erzählt: „Wir haben diese Idee vertagt. Wir haben kein Momentum mehr dafür. Die liba­ne­si­sche Bevöl­ke­rung inter­es­siert sich momentan nicht dafür, ob ihr die gewählte Regie­rung oder eine andere vorsteht.“

Bei all den kata­stro­phalen Wendungen und Wirrungen der letzten Monate sind die alltäg­li­chen Probleme der Menschen derzeit zu gross, als dass sie sich für Demon­stra­tionen orga­ni­sieren könnten. Deshalb fänden keine Proteste mehr statt, sagt Halabi. Das heisse aber nicht, dass die Bewe­gung zum Erliegen gekommen sei: „Wir führen interne Diskus­sionen, wie wir weiter­ma­chen. Wir fragen uns, ob wir einen neuen Kampf vorbe­reiten sollen, wie wir Wider­stand gegen das Regime leisten und für ein neues System kämpfen können. Ausserdem stehen die Wahlen bevor (2022, Anm. Red.). Darauf müssen wir uns vorbereiten.“

Von der momen­tanen Situa­tion profi­tieren vor allem die poli­ti­schen Parteien und ihre korrupten Vorsteher. Ihnen verschafft die umfas­sende Krise die Gele­gen­heit, ihre seit Ende des Bürger­krieges 1990 ausge­übte Macht konso­li­dieren zu können. Dies zeigte sich am 22. Oktober. Fünf Tage nach dem ersten Jahrestag der Revo­lu­tion wurde der vor einem Jahr unter massivem Druck der Strasse zurück­ge­tre­tene Präsi­dent Saad Hariri mit der Bildung einer neuen Regie­rung beauf­tragt.

Soli­da­rität von Genf

„Die Explo­sion war ein Geschenk Gottes für das System. Nichts hätte die Bevöl­ke­rung mehr ermüden können als das“, sagt Paola Salwan Daher. Auch Daher ist eine poli­ti­sche Akti­vi­stin aus Genf, sie enga­giert sich in der anti­ka­pi­ta­li­sti­schen Partei soli­da­ritéS. Zusammen mit anderen Genfer Libanes*innen grün­dete sie nach Beginn der Revo­lu­tion im Oktober 2019 ein Kollektiv in Soli­da­rität mit der neuen Bewegung.

Neben den Demon­stra­tionen vor dem UNO-Sitz stehen bei soli­da­ritéS seit der Explo­sion vor allem die Hilfs­ak­tionen für die Bevöl­ke­rung im Vorder­grund. Zusammen mit dem Kollektiv hat Daher die Aktion Ship­ping to Beirut ins Leben gerufen. „Wir haben halt­bares medi­zi­ni­sches Mate­rial und Bauma­te­rial gesam­melt und stehen nun mit zwei Schiff­fahrts­un­ter­nehmen in Kontakt. Ziel ist, das Mate­rial in Contai­nern von Marseille nach Beirut zu trans­por­tieren“, sagt sie. In Libanon soll das Mate­rial am Hafen von Tripoli von einer akkre­di­tierten NGO in Empfang genommen werden. So soll sicher­ge­stellt werden, dass die Güter sicher zu den Bedürf­tigen gelangen und nicht von der korrupten Hafen­be­hörde beschlag­nahmt werden.

Während in Libanon Hunger und Armut gras­sieren, die Infra­struktur zerfällt und die staat­liche Repres­sion zunimmt, schwindet die Hoff­nung auf einen Wandel. Deshalb versuche das Kollektiv die Protest­be­we­gung von aussen zu unter­stützen. „Die Diaspora ist da, um die Hoff­nung hoch­zu­halten“, sagt Daher. Ihre Aufgabe sei es, den Hand­lungs­spiel­raum, den ihr die besseren Lebens­ver­hält­nisse in der Schweiz eröffnen, zur Unter­stüt­zung der Revo­lu­tion zu nutzen. Das Kollektiv steht deshalb in engem Kontakt mit poli­ti­schen Grup­pie­rungen, vor allem mit Li Haqqi. Zudem versucht das Kollektiv eine nach­hal­tige Koope­ra­tion mit einer liba­ne­si­schen NGO einzu­gehen, die sich für die Rechte von margi­na­li­sierten und diskri­mi­nierten Gruppen starkmacht.

„Auf unserem Radar stehen die Anti­ras­sismus-Bewe­gung und Gruppen wie Haven for Artists, eine NGO, die sich für LGBTQI-Rechte einsetzt. Es geht nicht nur darum, Geld zu trans­fe­rieren, sondern auch um einen Austausch zwischen dem inter­na­tio­nalen Genf und diesen Gruppen. Wir wollen von hier aus Kanäle nutzen, um die liba­ne­si­sche Regie­rung zur Verant­wor­tung zu ziehen.“ Mittels Berichten von Orga­ni­sa­tionen aus Beirut versuche das Kollektiv seit Längerem, Druck auf den UN-Menschen­rechtsrat auszu­üben, der die Augen vor der Lage in Libanon verschliesst.

Eine andere Aufgabe sieht das Kollektiv darin, den nach Genf kommenden Libanes*innen bei der Bewäl­ti­gung der büro­kra­ti­schen und finan­zi­ellen Hürden im Alltag zu helfen. „Viele Menschen wollen aus Libanon fort. Einige, die vom System verfolgt werden, kommen nach Genf. Wir versu­chen, ihnen hier zu helfen und Schutz zu gewähren“, sagt Daher. Die Auflagen für Visa für liba­ne­si­sche Staats­an­ge­hö­rige sind streng. Am ehesten gelingt es jungen Libanes*innen, für ein Studium in die Schweiz einzureisen.

Doch auch für sie sind die Bedin­gungen zum Teil prekär. „Eine Aufent­halts­er­laubnis heisst noch lange nicht, dass man genü­gend arbeiten kann, um unab­hängig in der Schweiz leben zu können. Dies führt zu Ungleich­heiten. Es gibt Studie­rende, die unter dem Regime profi­tiert haben und ihr Leben hier problemlos weiter­führen können.“ Andere stünden perma­nent unter Druck, weil sie weder von ihren mittel­losen Eltern noch vom Kanton Geld erhalten. Ausserdem kämen viele mit der Büro­kratie der Univer­sität und des Kantons nicht klar.

Schmut­ziges Geld in der Schweiz

Das Kollektiv tut, was es kann, um schutz­be­dürf­tigen Libanes*innen zu helfen. Etwa indem es Menschen aus Libanon mit Anwält*innen verlinkt, die beim Beschaffen von Visa oder bei der Bean­tra­gung von huma­ni­tärem Asyl helfen können. Doch bei den konkreten Möglich­keiten zur Ausreise aus Libanon oder zur Einreise in die Schweiz sind dem Kollektiv die Hände gebunden. „Der eigent­liche Wandel müsste hier in der Schweiz passieren. Die Migra­ti­ons­ge­setze müssten lascher werden“, sagt Daher. Deshalb sei es wichtig, mit progres­siven Parlamentarier*innen in Kontakt zu treten, die sich im National- und Stän­derat für die Rechte und Inter­essen der unter­drückten liba­ne­si­schen Bevöl­ke­rung einsetzen.

Einer dieser wenigen ist SP-Natio­nalrat Fabian Molina (SP). Bei einem Aufent­halt in Beirut im November 2019 konnte er mit Aktivist*innen spre­chen, die unter anderem vor der Schweizer Botschaft die Rück­gabe von Poten­ta­ten­gel­dern forderten, also durch Korrup­tion erwor­benes und in der Schweiz parkiertes Vermögen.

Am 4. März 2020 reichte Molina im Natio­nalrat eine Inter­pel­la­tion ein, die die Prüfung liba­ne­si­scher Poten­ta­ten­gelder auf Schweizer Banken verlangte. „Ich musste relativ schnell erkennen, dass die Schweiz gar nichts unter­nimmt, um diese Vorwürfe abzu­klären“, sagt Molina. „Wir können mit grosser Wahr­schein­lich­keit davon ausgehen, dass ziem­lich hohe Geld­be­träge auf Schweizer Bank­konten liegen.“

Die eidge­nös­si­sche Finanz­markt­auf­sicht (FINMA) bestä­tigt auf Anfrage von das Lamm, im Falle Libanon mit „rele­vanten Banken und natio­nalen und inter­na­tio­nalen Behörden im Kontakt“ gestanden zu sein. Näheres ist nicht zu erfahren.

„Die Geset­zes­lage in der Schweiz macht es schwierig, Korrup­ti­ons­gelder einzu­frieren oder zurück­zu­zahlen“, sagt Molina. Sowohl die FINMA wie auch die MROS als Melde­stelle für Geld­wä­scherei hätten zu wenige Möglich­keiten, um Vorwürfen nach­zu­gehen oder entspre­chende Gelder zu blockieren. Das Parla­ment verschliesse sich der Realität, wie Molina meint. „Bei der Revi­sion des Geld­wä­sche­rei­ge­setzes, die gerade statt­findet, ist der Natio­nalrat gar nicht erst auf die Poten­ta­ten­gelder einge­treten.“ Zudem habe der Stän­derat eine Ände­rung im Gesetz beschlossen, die die Melde­pflicht der Banken an die MROS bei Verdachts­fällen faktisch abschafft. „Es kann sein, dass es damit noch einfa­cher wird, Geld in die Schweiz zu bringen. Auch aus Entwick­lungs­län­dern wie Libanon.“

Um Gelder von korrupten Politiker*innen auf Schweizer Bank­konten zu blockieren, müsste der Libanon ein Rechts­hil­fe­ge­such stellen. Dies ist auch schon geschehen, „aller­dings sehr schlecht formu­liert“, wie Molina sagt. Das Bundesamt für Justiz bemän­gelte im Januar 2020, dass dem Gesuch rele­vante Infor­ma­tionen fehlen würden. Dass dies der Fall ist, wird wohl kaum zufällig sein: Die damals amtie­rende und mitt­ler­weile zurück­ge­tre­tene „Technokrat*innen“-Regierung unter Mini­ster­prä­si­dent Hassan Diab, die unter dem perma­nenten Druck der etablierten Parteien stand, wollte es sich nicht mit Hariri, Hisbollah und Co. verscherzen.

Gestützt auf das Poten­ta­ten­gelder-Gesetz könnte auch der Bundesrat die Blockade der Gelder anordnen. Dazu müssten vier Krite­rien erfüllt sein. Erstens: Der Korrup­ti­ons­grad im betrof­fenen Land ist hoch. Zwei­tens: Das Geld wurde durch Korrup­tion erwirt­schaftet. Drit­tens: Die Regie­rung hat die Kontrolle verloren, und vier­tens: Es liegt im Inter­esse der Schweiz, die Vermögen einzu­frieren. Im Falle von Libanon sind die ersten drei Punkte erfüllt. „Der vierte Punkt ist ein Gummi­pa­ra­graph. Das kann der Bundesrat nach Gutdünken entscheiden“, sagt Molina. Dass das Einfrieren und die schritt­weise Rück­zah­lung von durch Korrup­tion erwor­benen Geldern durch die Schweiz möglich ist, zeigt zum Beispiel der Fall Usbe­ki­stan. Die Schweiz und das in Zentral­asien liegende Land haben im Oktober 2020 einen Vertrag über die Rück­füh­rung einge­fro­rener Gelder ausgearbeitet.

Wenn sie wollte, könnte die poli­ti­sche Schweiz die korrupte liba­ne­si­sche Elite entschei­dend schwä­chen und die gestoh­lenen Gelder den Libanes*innen zurück­er­statten. Der Kampf gegen Korrup­tion hängt von poli­ti­schen Entschei­dungen ab. Doch solange keine aufmerk­sam­keits­er­re­genden Einzel­fälle aus dem Libanon publik werden, wird der Bundesrat solche Entschei­dungen nicht fällen.

In Anbe­tracht der wahr­schein­li­chen Verstrickungen zwischen dem Schweizer Finanz­platz und korrupten liba­ne­si­schen Politiker*innen ist es bedenk­lich, dass sich die hiesige Politik nicht inten­siver mit dem Thema befasst. Auch Sank­tionen gegen liba­ne­si­sche Politiker*innen müssten in Betracht gezogen werden. Erst im November verhängten etwa die USA Sank­tionen im Fall Gebran Bassil, dem Schwie­ger­sohn des Staats­prä­si­denten Michel Aoun. „In der Schweiz ist das recht­lich nicht möglich“, sagt Molina. Die Schweiz sei „in ihrem Sank­ti­ons­dis­po­sitiv über­haupt nicht souverän“. Die Schweiz könnte einzig nach­ziehen, wenn über­ge­ord­nete Orga­ni­sa­tionen wie der UNO-Sicher­heitsrat, die OSZE oder die EU Sank­tionen aussprechen.

„Hoffen wir, dass dies eines Tages passieren wird“, sagt Fares Halami. Bald wird er sich wieder von Genf nach Beirut aufma­chen – um mitzu­helfen, das neue alte korrupte Regime zu überwinden.


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