17. Oktober 2020. Jahrestag der libanesischen Revolution. In Beirut versammeln sich Zehntausende auf den Strassen, um ihre Wut über die katastrophalen Lebensumstände kundzutun und für ein neues politisches System zu demonstrieren.
Am selben Tag kommen auch in Genf bis zu 50 Libanes*innen auf dem Place des Nations vor dem Büro der Vereinten Nationen zusammen. Die Demonstration vor dem zweiten Hauptsitz der UNO wird über den Twitter-Account der säkularen Graswurzelbewegung Li Haqqi („Für meine Rechte“) per Livestream in den Libanon übertragen.
Vor einem Jahr rief Li Haqqi als erste Gruppe zu den Protesten in Beirut auf. „Das Herz der Revolution schlägt noch immer von Beirut zur Diaspora“, sagt Karim Damien, libanesischer Aktivist aus Genf, durch das Mikrofon. Die Stimmung auf dem Platz ist etwas betrübt aufgrund der hohen Corona-Fallzahlen und den neueren Massnahmen des Kantons. Trotzdem skandieren die Teilnehmer*innen lautstark Parolen durch ihre Stoffmasken: „Alle von euch meint alle von euch!“ Es sind dieselben Parolen wie in Beirut.
Als vor einem Jahr auf dem Märtyrer-Platz in der libanesischen Hauptstadt die Proteste aufflammten, herrschte euphorische Aufbruchstimmung. Heute ist die Bewegung, die in der Hoffnung auf einen radikalen Systemwandel ins Leben gerufen wurde, weitgehend zurückgedrängt. Damals demonstrierten Hunderttausende Menschen in verschiedenen Städten und Orten in Libanon für eine Erneuerung ihres durch Religion, Korruption und Klientelismus gebeutelten Landes und erzwangen damit die Abdankung des Präsidenten und Milliardärs Saad Hariri. Parallel dazu organisierten sich in Genf und in der ganzen Welt Menschen aus der sechs bis neun Millionen Menschen grossen Diaspora, um sich mit der revolutionären Bewegung solidarisch zu zeigen. In Libanon leben derzeit vier Millionen Menschen.
Seither ist viel geschehen. Zu viel: Wirtschaftskollaps, Hyperinflation, Preissteigerungen, Hunger, Medikamentenknappheit, massive Repression vonseiten des Militärs und Schlägern der schiitischen Hisbollah und Harakat Amal sowie den Internen Sicherheitskräften (ISF), dazu Corona. Und am 4. August 2020 die Explosion im Hafen von Beirut, die nochmals alles auf den Kopf gestellt hat. 190 Menschen starben, mehr als 6’500 wurden verletzt. 300’000 Menschen verloren ihr Obdach, viele leiden seither unter psychischen Traumata.
Der Hafen von Beirut, der für das von Importen abhängige Land von grosser Bedeutung ist, wurde komplett ausser Stand gesetzt. Viele Menschen wollen das zwischen den Konfliktherden Syrien und Israel eingeklemmte Land verlassen. Wegen eingeschränkter Ressourcen und fehlender Ausreisemöglichkeiten versuchen einige in Booten auf das 160 Kilometer entfernte Zypern, den nächsten EU-Mitgliedsstaat, zu gelangen. Dabei sind bereits mehrere Menschen ums Leben gekommen.
Fares Halabi ist Aktivist bei Li Haqqi und seit 2015 Student am Hochschulinstitut für internationale Studien und Entwicklung in Genf. Er pendelt zwischen der Schweiz und Libanon. „Von der Politik über die Wirtschaft bis zur Infrastruktur – alles ist zerstört“, sagt Halabi. Nach der Explosion, den folgenden heftigen Demonstrationen und der Besetzung mehrerer Ministerien nahm der Aktivist an einer Sitzung von revolutionären Gruppen teil, bei der die Bildung eines Schattenkabinetts diskutiert wurde. Er erzählt: „Wir haben diese Idee vertagt. Wir haben kein Momentum mehr dafür. Die libanesische Bevölkerung interessiert sich momentan nicht dafür, ob ihr die gewählte Regierung oder eine andere vorsteht.“
Bei all den katastrophalen Wendungen und Wirrungen der letzten Monate sind die alltäglichen Probleme der Menschen derzeit zu gross, als dass sie sich für Demonstrationen organisieren könnten. Deshalb fänden keine Proteste mehr statt, sagt Halabi. Das heisse aber nicht, dass die Bewegung zum Erliegen gekommen sei: „Wir führen interne Diskussionen, wie wir weitermachen. Wir fragen uns, ob wir einen neuen Kampf vorbereiten sollen, wie wir Widerstand gegen das Regime leisten und für ein neues System kämpfen können. Ausserdem stehen die Wahlen bevor (2022, Anm. Red.). Darauf müssen wir uns vorbereiten.“
Von der momentanen Situation profitieren vor allem die politischen Parteien und ihre korrupten Vorsteher. Ihnen verschafft die umfassende Krise die Gelegenheit, ihre seit Ende des Bürgerkrieges 1990 ausgeübte Macht konsolidieren zu können. Dies zeigte sich am 22. Oktober. Fünf Tage nach dem ersten Jahrestag der Revolution wurde der vor einem Jahr unter massivem Druck der Strasse zurückgetretene Präsident Saad Hariri mit der Bildung einer neuen Regierung beauftragt.
Solidarität von Genf
„Die Explosion war ein Geschenk Gottes für das System. Nichts hätte die Bevölkerung mehr ermüden können als das“, sagt Paola Salwan Daher. Auch Daher ist eine politische Aktivistin aus Genf, sie engagiert sich in der antikapitalistischen Partei solidaritéS. Zusammen mit anderen Genfer Libanes*innen gründete sie nach Beginn der Revolution im Oktober 2019 ein Kollektiv in Solidarität mit der neuen Bewegung.
Neben den Demonstrationen vor dem UNO-Sitz stehen bei solidaritéS seit der Explosion vor allem die Hilfsaktionen für die Bevölkerung im Vordergrund. Zusammen mit dem Kollektiv hat Daher die Aktion Shipping to Beirut ins Leben gerufen. „Wir haben haltbares medizinisches Material und Baumaterial gesammelt und stehen nun mit zwei Schifffahrtsunternehmen in Kontakt. Ziel ist, das Material in Containern von Marseille nach Beirut zu transportieren“, sagt sie. In Libanon soll das Material am Hafen von Tripoli von einer akkreditierten NGO in Empfang genommen werden. So soll sichergestellt werden, dass die Güter sicher zu den Bedürftigen gelangen und nicht von der korrupten Hafenbehörde beschlagnahmt werden.
Während in Libanon Hunger und Armut grassieren, die Infrastruktur zerfällt und die staatliche Repression zunimmt, schwindet die Hoffnung auf einen Wandel. Deshalb versuche das Kollektiv die Protestbewegung von aussen zu unterstützen. „Die Diaspora ist da, um die Hoffnung hochzuhalten“, sagt Daher. Ihre Aufgabe sei es, den Handlungsspielraum, den ihr die besseren Lebensverhältnisse in der Schweiz eröffnen, zur Unterstützung der Revolution zu nutzen. Das Kollektiv steht deshalb in engem Kontakt mit politischen Gruppierungen, vor allem mit Li Haqqi. Zudem versucht das Kollektiv eine nachhaltige Kooperation mit einer libanesischen NGO einzugehen, die sich für die Rechte von marginalisierten und diskriminierten Gruppen starkmacht.
„Auf unserem Radar stehen die Antirassismus-Bewegung und Gruppen wie Haven for Artists, eine NGO, die sich für LGBTQI-Rechte einsetzt. Es geht nicht nur darum, Geld zu transferieren, sondern auch um einen Austausch zwischen dem internationalen Genf und diesen Gruppen. Wir wollen von hier aus Kanäle nutzen, um die libanesische Regierung zur Verantwortung zu ziehen.“ Mittels Berichten von Organisationen aus Beirut versuche das Kollektiv seit Längerem, Druck auf den UN-Menschenrechtsrat auszuüben, der die Augen vor der Lage in Libanon verschliesst.
Eine andere Aufgabe sieht das Kollektiv darin, den nach Genf kommenden Libanes*innen bei der Bewältigung der bürokratischen und finanziellen Hürden im Alltag zu helfen. „Viele Menschen wollen aus Libanon fort. Einige, die vom System verfolgt werden, kommen nach Genf. Wir versuchen, ihnen hier zu helfen und Schutz zu gewähren“, sagt Daher. Die Auflagen für Visa für libanesische Staatsangehörige sind streng. Am ehesten gelingt es jungen Libanes*innen, für ein Studium in die Schweiz einzureisen.
Doch auch für sie sind die Bedingungen zum Teil prekär. „Eine Aufenthaltserlaubnis heisst noch lange nicht, dass man genügend arbeiten kann, um unabhängig in der Schweiz leben zu können. Dies führt zu Ungleichheiten. Es gibt Studierende, die unter dem Regime profitiert haben und ihr Leben hier problemlos weiterführen können.“ Andere stünden permanent unter Druck, weil sie weder von ihren mittellosen Eltern noch vom Kanton Geld erhalten. Ausserdem kämen viele mit der Bürokratie der Universität und des Kantons nicht klar.
Schmutziges Geld in der Schweiz
Das Kollektiv tut, was es kann, um schutzbedürftigen Libanes*innen zu helfen. Etwa indem es Menschen aus Libanon mit Anwält*innen verlinkt, die beim Beschaffen von Visa oder bei der Beantragung von humanitärem Asyl helfen können. Doch bei den konkreten Möglichkeiten zur Ausreise aus Libanon oder zur Einreise in die Schweiz sind dem Kollektiv die Hände gebunden. „Der eigentliche Wandel müsste hier in der Schweiz passieren. Die Migrationsgesetze müssten lascher werden“, sagt Daher. Deshalb sei es wichtig, mit progressiven Parlamentarier*innen in Kontakt zu treten, die sich im National- und Ständerat für die Rechte und Interessen der unterdrückten libanesischen Bevölkerung einsetzen.
Einer dieser wenigen ist SP-Nationalrat Fabian Molina (SP). Bei einem Aufenthalt in Beirut im November 2019 konnte er mit Aktivist*innen sprechen, die unter anderem vor der Schweizer Botschaft die Rückgabe von Potentatengeldern forderten, also durch Korruption erworbenes und in der Schweiz parkiertes Vermögen.
Am 4. März 2020 reichte Molina im Nationalrat eine Interpellation ein, die die Prüfung libanesischer Potentatengelder auf Schweizer Banken verlangte. „Ich musste relativ schnell erkennen, dass die Schweiz gar nichts unternimmt, um diese Vorwürfe abzuklären“, sagt Molina. „Wir können mit grosser Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass ziemlich hohe Geldbeträge auf Schweizer Bankkonten liegen.“
Die eidgenössische Finanzmarktaufsicht (FINMA) bestätigt auf Anfrage von das Lamm, im Falle Libanon mit „relevanten Banken und nationalen und internationalen Behörden im Kontakt“ gestanden zu sein. Näheres ist nicht zu erfahren.
„Die Gesetzeslage in der Schweiz macht es schwierig, Korruptionsgelder einzufrieren oder zurückzuzahlen“, sagt Molina. Sowohl die FINMA wie auch die MROS als Meldestelle für Geldwäscherei hätten zu wenige Möglichkeiten, um Vorwürfen nachzugehen oder entsprechende Gelder zu blockieren. Das Parlament verschliesse sich der Realität, wie Molina meint. „Bei der Revision des Geldwäschereigesetzes, die gerade stattfindet, ist der Nationalrat gar nicht erst auf die Potentatengelder eingetreten.“ Zudem habe der Ständerat eine Änderung im Gesetz beschlossen, die die Meldepflicht der Banken an die MROS bei Verdachtsfällen faktisch abschafft. „Es kann sein, dass es damit noch einfacher wird, Geld in die Schweiz zu bringen. Auch aus Entwicklungsländern wie Libanon.“
Um Gelder von korrupten Politiker*innen auf Schweizer Bankkonten zu blockieren, müsste der Libanon ein Rechtshilfegesuch stellen. Dies ist auch schon geschehen, „allerdings sehr schlecht formuliert“, wie Molina sagt. Das Bundesamt für Justiz bemängelte im Januar 2020, dass dem Gesuch relevante Informationen fehlen würden. Dass dies der Fall ist, wird wohl kaum zufällig sein: Die damals amtierende und mittlerweile zurückgetretene „Technokrat*innen“-Regierung unter Ministerpräsident Hassan Diab, die unter dem permanenten Druck der etablierten Parteien stand, wollte es sich nicht mit Hariri, Hisbollah und Co. verscherzen.
Gestützt auf das Potentatengelder-Gesetz könnte auch der Bundesrat die Blockade der Gelder anordnen. Dazu müssten vier Kriterien erfüllt sein. Erstens: Der Korruptionsgrad im betroffenen Land ist hoch. Zweitens: Das Geld wurde durch Korruption erwirtschaftet. Drittens: Die Regierung hat die Kontrolle verloren, und viertens: Es liegt im Interesse der Schweiz, die Vermögen einzufrieren. Im Falle von Libanon sind die ersten drei Punkte erfüllt. „Der vierte Punkt ist ein Gummiparagraph. Das kann der Bundesrat nach Gutdünken entscheiden“, sagt Molina. Dass das Einfrieren und die schrittweise Rückzahlung von durch Korruption erworbenen Geldern durch die Schweiz möglich ist, zeigt zum Beispiel der Fall Usbekistan. Die Schweiz und das in Zentralasien liegende Land haben im Oktober 2020 einen Vertrag über die Rückführung eingefrorener Gelder ausgearbeitet.
Wenn sie wollte, könnte die politische Schweiz die korrupte libanesische Elite entscheidend schwächen und die gestohlenen Gelder den Libanes*innen zurückerstatten. Der Kampf gegen Korruption hängt von politischen Entscheidungen ab. Doch solange keine aufmerksamkeitserregenden Einzelfälle aus dem Libanon publik werden, wird der Bundesrat solche Entscheidungen nicht fällen.
In Anbetracht der wahrscheinlichen Verstrickungen zwischen dem Schweizer Finanzplatz und korrupten libanesischen Politiker*innen ist es bedenklich, dass sich die hiesige Politik nicht intensiver mit dem Thema befasst. Auch Sanktionen gegen libanesische Politiker*innen müssten in Betracht gezogen werden. Erst im November verhängten etwa die USA Sanktionen im Fall Gebran Bassil, dem Schwiegersohn des Staatspräsidenten Michel Aoun. „In der Schweiz ist das rechtlich nicht möglich“, sagt Molina. Die Schweiz sei „in ihrem Sanktionsdispositiv überhaupt nicht souverän“. Die Schweiz könnte einzig nachziehen, wenn übergeordnete Organisationen wie der UNO-Sicherheitsrat, die OSZE oder die EU Sanktionen aussprechen.
„Hoffen wir, dass dies eines Tages passieren wird“, sagt Fares Halami. Bald wird er sich wieder von Genf nach Beirut aufmachen – um mitzuhelfen, das neue alte korrupte Regime zu überwinden.
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