Rosen­gar­ten­tunnel: Wem gehört die Stadt?

Der Verkehr an der Rosen­gar­ten­strasse in Zürich soll in den Unter­grund verla­gert werden. Aber für wen eigent­lich? Ein Augen­schein vor Ort zeigt: Die Anrainer*innen sind über die angren­zende Strasse nicht glück­lich. Trotzdem brächte ihnen der Tunnel wohl nichts. Daran zeigt sich, dass die Diskus­sion um den Tunnel am eigent­li­chen Problem vorbeizielt. 
Einer von mehreren Kiosks an der Rosengartenstrasse. (Foto: David Hunziker)

Es ist schon recht laut hier an der Rosen­gar­ten­strasse, die jeden Tag rund 56’000 Autos befahren. Laut und dreckig und irgendwie düster. Nur wenige hundert Meter weiter Rich­tung Bahnhof zeigt das Quar­tier ein ganz anderes Gesicht. Wipkingen ist ange­sagt: ein etwas verträumtes Wohn­quar­tier mit vielen hübschen, kleinen Läden und Grün­flä­chen, hippen Bars und Restau­rants, ange­nehm ruhig, aber den Hotspots von Down­town Switz­er­land ganz nah, mit sehr hoher Lebens­qua­lität halt – und stetig stei­genden Mieten, Total­sa­nie­rungen und Massen­kün­di­gungen. Wipkingen entwickelte sich in den letzten Jahren zum Vorzei­ge­quar­tier: zum Show­room der Zürcher Sozialdemokratie.

Die Rosen­gar­ten­strasse ist anders. An den Wänden der Kiosk-Bar Löwen hängen selt­same Säbel; das Bier holen wir uns selbst aus dem Kühl­schrank. Die Bar ist jeden Tag bis halb fünf Uhr morgens geöffnet, am Wochen­ende sogar noch eine halbe Stunde länger. Wir sind am Nach­mittag da und fast allein. „Lauf­kund­schaft gibt es kaum“, sagt uns der Bruder des Inha­bers. „Die meisten Leute, die zu uns kommen, sind Stamm­gäste aus dem Quar­tier.“ Weil er über­zeugt ist, dass sie sowieso kommen würden, sei ihm der Tunnel ziem­lich egal. Der Lärm der vorbei­don­nernden Autos aber auch.

Im Rosen­gar­ten­shop am unteren Teil der Verkehrs­achse kaufen wir eine Auto­bahn­vi­gnette. Die Strasse sei viel zu laut und viel zu gefähr­lich, sagt der Inhaber. „Ich warte nur darauf, dass hier ein Kind verun­fallt, das zu faul dafür ist, über die Über­füh­rung zu laufen.“ Vor allem aber schade sie dem Geschäft: „Poten­zi­elle Kunden auf der anderen Stras­sen­seite nehmen den Weg zu mir rüber nicht auf sich.“ Er spricht sich für den neuen Tunnel aus: „Ich mache hier Geschäfte, und mit weniger Verkehr liefe es besser.“ Die Mehr­ein­nahmen würden die höheren Mieten amor­ti­sieren, ist er überzeugt.

Ado Sala führt an der Rosen­gar­ten­strasse seit 15 Jahren das AdoSala-Leder­ate­lier. Auch er wünscht sich eigent­lich eine schö­nere Nach­bar­schaft: „Es wäre schon schön, wenn die Strasse weniger stark befahren wäre, wenn es weniger Lärm gäbe und es für die Kinder sicherer wäre, die Strasse zu über­queren.“ Und es stimmt ja auch: Diese Strasse ist eine Zumu­tung, wie es sie in der Zürcher Innen­stadt kaum mehr gibt. Sie teilt das Quar­tier jäh entzwei, der Pausenhof des Schul­hauses Nord­strasse ist von hohen Beton­mauern umgeben, um die Kinder vor der Strasse und ihrem Lärm zu schützen, und die Fassaden vieler angren­zender Gebäude sind von Abgasen ange­schwärzt. Mit Lärm­emis­sionen von rund 70 Dezibel ist die Rosen­gar­ten­strasse die lauteste Strasse der Stadt.

Wer sie bewohnt, zeigt die Sozi­al­räum­liche Studie für das Gebiet Rosen­garten-Buchegg, welche die Stadt im Hinblick auf das Rosen­gar­ten­pro­jekt anfer­tigen liess. „Entlang der Rosen­gar­ten­strasse finden sich deut­lich höhere Auslän­der­an­teile als in den weniger stark immis­si­ons­expo­nierten Lagen“, hält die Studie fest. Der Wert liegt rund 15 Prozent höher als derje­nige, der für das ganze Quar­tier gilt und seit 1993 konti­nu­ier­lich um insge­samt 15 Prozent gesunken ist. Von den direkten Anwohner*innen der Rosen­gar­ten­strasse haben circa 45 Prozent keinen Schweizer Pass. An der Abstim­mung über das Milli­ar­den­pro­jekt vor ihrer Haustür können sie gar nicht teilnehmen.

Herr Hemmat vor seiner Brocken­stube. Höhere Mieten? „Das wäre schlecht.“ (Foto: David Hunziker)

Wie einst an der Weststrasse

Trotz seiner Unzu­frie­den­heit über den Status Quo ist Ado Sala gegen den neuen Tunnel. „Ich mache mir Sorgen um die Leute, die hier wohnen“, sagt er. Sie würden sich irgend­wann die Wohnungen nicht mehr leisten können. Er ist sich sicher, dass viele der Anwohner*innen wegziehen müssen, falls das Projekt ange­nommen wird – weil sie die Mieten nicht mehr bezahlen könnten. Über die ökono­mi­sche Situa­tion der Anwohner*innen sagt die Rosen­garten-Studie zwar nichts aus, über die Eigen­tums­ver­hält­nisse der Grund­stücke aber schon: Zwei davon gehören Genos­sen­schaften, einige wenige Kapi­tal­ge­sell­schaften. Alle anderen an den viel­be­fah­renen Teil der Strasse angren­zenden Grund­stücke befinden sich im Eigentum von Privatpersonen.

Was das bedeutet, zeigt ein Blick auf die Zürcher West­strasse. Die ehema­lige Durch­fahrts­strasse wies einst ähnliche Lärm-Emis­si­ons­werte wie die heutige Rosen­gar­ten­strasse auf – bis sie 2010 verkehrs­be­ru­higt wurde. Die Folgen werden in einer Studie der Zürcher Kanto­nal­bank darge­legt: Sobald der Zeit­plan für die Verkehrs­be­ru­hi­gung fest­stand, stieg die Anzahl der Bauge­suche betref­fend Immo­bi­lien an der West­strasse sprung­haft in die Höhe. Vor allem Anträge auf Komplett­sa­nie­rungen und Ersatz­neu­bauten seien gestellt worden, hält die Studie fest, und weiter: „In beiden Fällen bedeutet dies die Kündi­gung der bestehenden Miet­ver­hält­nisse.“ Der Preis für eine Drei­zim­mer­woh­nung mit 70 Quadrat­me­tern Wohn­fläche erhöhte sich innert weniger Jahre von 1600 Franken auf 2400 Franken. Mit der Verkehrs­be­ru­hi­gung habe die Wohn­qua­lität gesamt­haft zuge­nommen. „Negativ wirkt sich der Aufwer­tungs­pro­zess aller­dings auf die bishe­rigen Mieter aus, die sich neu orien­tieren müssen.“

In einer Garage, von der Rosen­gar­ten­strasse etwas zurück­ver­setzt, betreibt Herr Hemmat die Brocken­stube Orient­tep­piche Hemmat. Zufällig komme hier kaum jemand vorbei, sagt er. Er lebe haupt­säch­lich von Verkäufen über Ricardo, das Geschäft laufe aller­dings nicht beson­ders gut. Auch ihn störe die laute Strasse. Aber höhere Mieten? „Das wäre schlecht.“

Im Fall einer Annahme der Vorlage sind höhere Mieten so gut wie sicher; eine ähnliche Entwick­lung wie an der West­strasse ist zu erwarten. Die Frage drängt sich deshalb auf, für wen der Tunnel über­haupt gebaut werden soll. Dieje­nigen, die von den nega­tiven Auswir­kungen der Rosen­gar­ten­strasse tatsäch­lich betroffen sind, würden von deren Eindäm­mung nicht profi­tieren können. Das ändert frei­lich nichts an der Tatsache, dass die Lärm- und Schad­stoff­emis­sionen der laute­sten Strasse der Stadt eigent­lich unhaltbar sind. Die Anrainer*innen verlieren am kommenden Abstim­mungs­sonntag deshalb sowieso: Entweder die Zumu­tung Rosen­gar­ten­strasse bleibt so bestehen, wie sie jetzt ist, – oder sie werden sie vermut­lich verlassen müssen. Sie verlieren sowieso, weil ihr eigent­li­ches Problem weder dieser Tunnel noch diese Strasse ist. Sondern die Tatsache, dass ihnen ihre Stadt nicht gehört.


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