Sachbuch: CO2-Ausstoß zum Nulltarif
Auf der Grundlage dieser Artikelserie ist ein Sachbuch entstanden, welches am 18.02.2024 beim Rotpunktverlag in Zürich erschienen ist. Das Buch „CO2-Ausstoß zum Nulltarif – Das Schweizer Emissionshandelssystem und wer davon profitiert“ ist bei uns im Shop oder in der Buchfiliale deines Vertrauens erhältlich.
In Kürze
- Im Schweizer Emissionshandelssystem (EHS) werden Rechte für den Ausstoss von Klimagasen gehandelt. Grosse Schweizer Industriekonzerne rechnen ihre Klimakosten darüber ab – mit dem Ziel, die Emissionen zu senken.
- Einzelne EHS-Firmen stossen mehr Treibhausgase aus fossilen Brennstoffen aus, als auf dem gesamten Gebiet der Stadt Zürich anfallen.
- In acht Jahren konnten die EHS-Konzerne laut dem eidgenössischen Emissionshandelsregister ihre Emissionen um 0.6 Millionen Tonnen Klimagase reduzieren. Doch die Zahlen werden durch Austritte und Konkurse verfälscht.
- Mit diesem System kann die Schweizer Industrie bis 2050 nicht auf Netto-Null kommen.
Zumindest in der Theorie ist die Gesetzesgrundlage solid: In der Schweiz gibt es nämlich gleich mehrere politische Instrumente, mit denen die Treibhausgasemissionen gesenkt werden sollen. Eines davon ist das Emissionshandelssystem (EHS). Das primäre Ziel des Emissionshandelssystems ist es, einen Markt zu schaffen. Einen Markt, auf dem nur ein Gut gehandelt wird: das Recht, Klimagase auszustossen. Die Hoffnung dahinter ist simpel: Die Emissionen sollen reduziert werden, indem sie einen Preis bekommen.
Bei den Firmen, die in der Schweiz ihre Klimakosten über das EHS abrechnen, handelt es sich vorwiegend um grosse Industriekonzerne: Zementwerke, Raffinerien, Papierfabriken, Stahlkonzerne und Pharmariesen. All jene also, bei denen die Politik als Erstes den Hebel ansetzen sollte.
2013 wurde das Schweizer Emissionshandelssystem in seiner heutigen Form eingeführt. Ende 2020 ging die zweite sogenannte Handelsperiode auf diesem Marktplatz für Emissionsrechte zu Ende. Sie startete 2013 und dauerte acht Jahre. Wir haben das zum Anlass genommen, um das System genauer unter die Lupe zu nehmen. Die zentrale Frage: Konnte das Emissionshandelssystem die Klimagase aus der Schweizer Industrie in den letzten Jahren wie versprochen senken?
In der vergangenen Handelsperiode nahmen rund 40 Firmen mit etwa 50 verschiedenen Industrieanlagen am EHS teil. Von den über 600’000 Firmen in der Schweiz machten diese nicht einmal 0.01 Prozent aus. Sie verursachten aber rund 10 Prozent der inländischen Emissionen.
Zu Beginn der zweiten Handelsperiode im Jahr 2013 stiessen diese laut dem nationalen Emissionshandelsregister 5.5 Millionen Tonnen Klimagase aus. Am Ende der Handelsperiode 2020 waren es 4.9 Millionen Tonnen. Aber: Diese Zahl allein als Massstab für die Wirksamkeit des EHS zu nehmen, wäre arg vereinfacht. Denn in der Zeit zwischen 2013 und 2020 ist so einiges geschehen.
Firmen, die ihre Klimakosten unter dem Emissionshandelssystem abrechnen dürfen, bezahlen keine CO2-Abgabe. Stattdessen müssen sie für jede ausgestossene Tonne CO2 ein entsprechendes Zertifikat erwerben. Diese Zertifikate sind nichts anderes als Emissionsrechte. Dabei gibt es nur eine bestimmte Menge an Zertifikaten und diese Menge, der sogenannte Cap, wird schrittweise gesenkt. Diese Verknappung soll den Preis der Zertifikate erhöhen.
Die Firmen können die Zertifikate auf zwei Arten beziehen: Entweder sie erwerben sie käuflich oder sie bekommen sie geschenkt. Das Bundesamt für Umwelt (BAFU) verteilt jedes Jahr eine grosse Menge an Gratiszertifikaten an die Schweizer EHS-Firmen, um zu verhindern, dass sie ihre Emissionen ins Ausland verlagern.
Zeitlich ist das EHS in mehrjährigen Handelsperioden mit mehr oder weniger gleichbleibenden Regeln organisiert. Die letzte Handelsperiode lief von 2013 bis 2020.
Wichtig: Die Zertifikate im Emissionshandelssystem sind nicht an Projekte gekoppelt, die der Atmosphäre Klimagase entziehen, wie man das zum Beispiel von Kompensationen für Flugreisen kennt. Bei diesen freiwilligen Kompensationszahlungen spricht man zwar oft auch von “Zertifikaten”, diese haben aber nichts mit dem EHS zu tun.
Wer darf beim EHS mitmachen?
Grundsätzlich sind im EHS Firmen aus den Branchen mit den höchsten Treibhausgasemissionen vertreten. Dabei gibt es solche, die beim EHS mitmachen „müssen“, weil sie im Anhang 6 der CO2-Verordnung stehen. Auf dieser Liste sind beispielsweise die Metall- oder die Zementindustrie. Dieses „müssen“ kann jedoch zu Missverständnissen führen. Denn die Firmen werden hier zu etwas gezwungen, das ihnen bis jetzt vor allem Vorteile verschafft hat.
Zusätzlich gibt es Branchen, die freiwillig beim EHS mitmachen können. Diese stehen im Anhang 7 der CO2-Verordnung. Hier befinden sich zum Beispiel die Chemie‑, die Papier- oder die Holzindustrie. Kurzum: Im EHS versammeln sich die Grosskonzerne aus der Energieproduktion und der Schwerindustrie.
Der überwiegende Teil der Schweizer Firmen darf aber nicht am EHS teilnehmen. Diese zahlen stattdessen für jede Tonne Klimagase eine CO2-Abgabe von 120.– Franken.
Im EHS registriert werden genau genommen nicht die Firmen selbst, sondern die verschiedenen Industrieanlagen der Firmen – also ein Zementwerk, ein Stahlwerk oder ein Heizwerk. Deshalb kann eine Firma auch mit mehreren Standorten im EHS vertreten sein.
Wie wird bestimmt, wer wie viele Gratiszertifikate erhält?
Die Anzahl Gratiszertifikate, die eine Firma vom BAFU erhält, ist von zwei Faktoren abhängig. Einerseits erhalten Firmen, die bereits eine gute CO2-Bilanz haben, mehr Gratiszertifikate als solche, die schlecht dastehen. Was man dabei aber nicht vergessen darf: Auch Firmen beziehungsweise deren Produktionsanlagen, die in diesem Ranking zu den besten zählen, emittieren immer noch Unmengen an Klimagasen.
Anderseits erhalten Firmen, die für ihre Produkte den sogenannten Carbon-Leakage-Status beanspruchen, mehr Gratiszertifikate als solche ohne. Von Carbon-Leakage spricht man dann, wenn die Klimagasemissionen wegen hoher Abgaben, Steuern oder anderen Klimaschutzmassnahmen in ein anderes Land verlagert werden, in dem es billiger ist, CO2 zu emittieren.
In der Handelsperiode von 2013 bis 2020 mussten alle Schweizer EHS-Firmen zusammen 39 Millionen Zertifikate abgeben. Vom BAFU wurden 38 Millionen Zertifikate gratis verteilt. Viele Schweizer EHS-Firmen haben deshalb eine beträchtliche Menge EHS-Zertifikate beiseitelegen können. Diese Reservebildung schwächt die Wirkung des EHS-Konzepts ab.
Wie kommen die EHS-Firmen zu den restlichen Zertifikaten?
Einerseits führt das BAFU regelmässig Versteigerungen durch. Andererseits handeln die EHS-Firmen sowie andere am CO2-Markt interessierte Akteur*innen untereinander mit den Emissionsrechten. Dieser Handel läuft über mehrere Energiebörsen – zum Beispiel über die European Energy Exchange (EEX) mit Sitz in Leipzig.
Verknüpft mit dem europäischen EHS und trotzdem anders. Wie geht das?
Seit dem 1. Januar 2020 ist das Schweizer EHS mit dem europäischen EHS verknüpft. Deshalb gelten in beiden Systemen grundsätzlich dieselben Regeln. Da diese EHS-Regeln aber in eine nationale Klimagesetzgebung eingebettet sind, bedeutet die Teilnahme am EHS für eine europäische Firma trotzdem nicht zu hundert Prozent dasselbe wie für eine Schweizer Firma. Ein Beispiel: Anders als in den meisten EU-Ländern bezahlen die Firmen, die nicht im EHS sind, in der Schweiz auf fossile Brennstoffe eine CO2-Lenkungsabgabe. Diese liegt momentan bei 120 Franken pro Tonne CO2.
Diese Lenkungsabgabe wird grösstenteils an die Schweizer Bevölkerung zurückverteilt. Aber auch EHS-Firmen erhalten bei dieser Rückverteilung Geld, obwohl sie gar keine CO2-Abgabe bezahlt haben. Diese zusätzlichen Einnahmen aus der nationalen CO2-Abgabe erhalten europäische EHS-Firmen nicht.
Zum Beispiel wurde die Erdölraffinerie Tamoil in dieser Zeitspanne stillgelegt. Tamoil steuerte 2014 noch rund 0.6 Millionen Tonnen Emissionen zum nationalen Total bei. Diese fielen im Jahr 2016 vollends weg. Andererseits erhöhte ein 2018 entdecktes Leck beim Pharmaunternehmen Lonza die dokumentierten Emissionen sprunghaft. So stark, dass die Klimagasemissionen dieser einen Lonza-Fabrik nach 2019 höher waren als die Emissionen aus dem Verbrauch fossiler Brennstoffe auf dem gesamten Gebiet der Stadt Zürich.
Die Recherchen von das Lamm zeigen: Die Entwicklungen der im EHS abgerechneten Emissionen beruhen bei Weitem nicht nur auf Klimaschutzbemühungen. Wer wirklich herausfinden will, ob das EHS die Emissionen der teilnehmenden Firmen beeinflusst hat, muss die Firmen einzelnen unter die Lupe nehmen.
Während ein grosser Teil der Industrieanlagen im EHS das Klima mit weniger als 100’000 Tonnen Klimagasen pro Jahr belasteten, stiess eine Handvoll Firmen deutlich mehr aus: der Chemiekonzern Lonza, der Betonriese Holcim mit seinen Standorten in Untervaz, Eclépens und Siggenthal, die Erdölraffiniereie Varo in Cressier, der Chemiekonzern CIMO, das Stahlwerk der Stahl Gerlafingen AG, sowie die Zementhersteller Ciments Vigier und die Jura-Cement-Fabriken mit den beiden Werken in Wildegg und Cornaux.
Insgesamt wurden im Jahr 2020 auf Schweizer Boden 43.9 Millionen Tonnen Klimagase freigesetzt. Die rund 50 Industrieanlagen, die damals ihre Emissionen im EHS abrechneten, machten mit 4.9 Millionen Tonnen mehr als 10 Prozent davon aus. Die zehn EHS-Anlagen mit den höchsten Emissionen bliesen mit rund 3.9 Millionen Tonnen CO2 über 8 Prozent der gesamtschweizerischen Emissionen in die Luft.
Das Schweizer CO2-Gesetz unterscheidet zwischen Emissionen aus Brennstoffen wie Erdöl oder Erdgas und Emissionen aus Treibstoffen wie Benzin oder Diesel. Für die Regulation der Brennstoffe gibt es neben dem EHS auch die Instrumente der CO2-Lenkungsabgabe und der Zielvereinbarung. Den Emissionen aus Treibstoffen will die Politik über das Instrument der Kompensationspflicht einen Preis geben. Diese Kompensationspflicht beschränkt sich jedoch auf Treibstoffe aus dem Strassenverkehr – sprich Diesel und Benzin. Für Kerosin gilt die Kompensationspflicht nicht.
Weshalb sind auf der Seite der Brennstoffe mehrere verschiedene Instrumente entstanden? Der Hauptgrund: Bei der Einführung der CO2-Abgabe gab es Bedenken, dass emissionsintensive und international tätige Schweizer Konzerne nicht mehr wettbewerbsfähig wären, wenn sie eine CO2-Abgabe bezahlen müssen. Deshalb hat der Bund für die Sektoren mit den höchsten Emissionen Speziallösungen entworfen. Die damalige Diskussion lässt sich in dieser SRF-Sendung aus dem Jahr 1995 nachschauen.
Nur teilweise Dekarbonisierung der Wirtschaft
Es gibt auch Entwicklungen, die optimistisch stimmen. Ein Unternehmen, das seine Emissionen in der letzten Handelsperiode stark gesenkt hat, ist die Papierfabrik Perlen. Stiess die Fabrik 2013 noch 86’339 Tonnen CO2 aus, waren es 2020 nur noch 7’946 Tonnen – das ist eine Reduktion von 90 Prozent. „Der Rückgang ist hauptsächlich auf den Dampfbezug von der KVA Renergia zurückzuführen“, schreibt die Papierfabrik auf Anfrage. Anstatt fossile Energieträger wie Erdgas oder Öl zu verbrennen, bezieht Perlen die benötigte Wärme heute von der Kehrichtverbrennungsanlage Renergia.
Dass die Energie, die bei der Verbrennung unseres Abfalls entsteht, nochmals genutzt wird, ist sicherlich sinnvoll. Ein „aber“ gibt es trotzdem, denn laut der Kehrichtverbrennungsanlage Renergia ist der bei ihnen verbrannte Abfall zu 50 Prozent fossiler Herkunft – sprich: Plastik. Und natürlich entstehen in der Kehrichtverbrennungsanlage auch Klimagase, wenn Plastik verbrannt wird – sie landen einfach nicht mehr auf dem CO2-Konto von Perlen Papier.
Was das Beispiel der Papierfabrik zeigt: Nicht jede Reduktion der im EHS gelisteten Emissionen beruht tatsächlich auf einer Dekarbonisierung des industriellen Prozesses, zum Beispiel dann, wenn die fossilen Brennstoffe einfach durch Plastikmüll ersetzt werden.
Es gibt ein weiteres Szenario, bei dem zwar die Emissionen im EHS zurückgehen, die dahinterstehende Industrie deswegen aber nicht unbedingt klimafreundlicher geworden ist. Nämlich dann, wenn die industriellen Prozesse einfach verschwinden.
So geschehen zum Beispiel bei der Industrieanlage “Kesselhaus Klybeck” in Basel. 2020 verzeichnet das Kesselhaus Klybeck fast 65 Prozent weniger Klimagasemissionen als 2013.
Auf die Frage, wie diese stolze Reduktion erreicht werden konnte, bekommen wir von der heutigen Besitzerin des Klybeck-Areals, der Rhystadt AG, folgende Antwort: “Das Klybeck-Areal zwischen Rhein und Wiese wird ‘transformiert’ und wächst in den nächsten Jahrzehnten schrittweise mit den umliegenden Quartieren zusammen”. Wo früher also die Grossindustrie mit Energie beliefert wurde, entsteht heute ein neuer Stadtteil.
Die sinkenden Emissionswerte würden die Veränderung des Nutzungsmixes inklusive des Wegfalles grossindustrieller Produktion widerspiegeln, so die Rhystadt AG weiter. Von den früher industriell genutzten Liegenschaften würden viele nicht mehr benötigt oder anders genutzt.
Und auch beim dritten Beispiel in Form eines Basler EHS-Teilnehmers sind die im EHS registrierten Klimagasreduktionen nicht nur auf Klimaschutzbemühungen zurück zu führen. Der Pharmariese Hoffmann-La Roche reduzierte die Emissionen an seinem Hauptsitz in Basel von 2013 bis 2020 um 42 Prozent.
Den grössten Sprung machte das Unternehmen 2017. In diesem Jahr sanken die Klimagase von 32’000 auf 23’000 Tonnen. Auf Anfrage verweist der Konzern zwar auch auf die Umsetzung eines neuen Energie-Leitbildes. Zugleich ist der Standort Basel seit 2017 aber gar kein Produktionsstandort mehr. „Der Standort Basel gilt [...] als ‘Launch-Site’ und nicht mehr als klassische ‘Produktions-Site’. Energieintensive, grössere Produktionsprozesse wurden an andere Standorte wie z.B. Kaiseraugst verlagert”, erklärt Hoffmann-La Roche auf Anfrage.
Wir haben auch bei weiteren Industrieanlagen mit hohen Reduktionen nachgefragt. Zum Beispiel beim Chemieunternehmen Dottikon Exclusive Synthesis ( –63 Prozent Emissionen) oder dem Aluminiumverarbeiter Constellium Valais (–50 und –46 Prozent Emissionen). Eine Antwort auf die Frage, mittels welcher Massnahmen die Emissionen reduziert werden konnten, erhielten wir jedoch auch nach mehrfachen Nachfragen nicht.
Rauf statt runter
Zu beobachten ist leider auch der entgegengesetzte Effekt: Bei 20 Industrieanlagen gingen die Emissionen in der letzten Handelsperiode trotz Teilnahme am EHS hoch. Eine von ihnen ist das GZM Extraktionswerk in Lyss, das Schlachtabfälle verarbeitet. Im Jahr 2013 verursachte die GZM rund 15’000 Tonnen CO2; 2019 waren es rund 18’000 Tonnen. „Die Zunahme der Treibhausgase in der Periode von 2013 bis 2019 ist weder technischen noch finanziellen Hürden geschuldet, sondern systemisch bedingt“, sagt der Leiter Unternehmenskommunikation der Centravo-Gruppe, zu der auch die GZM Lyss gehört, auf Anfrage. Schlussendlich sei alles davon abhängig, was bei ihnen angeliefert wird. Sprich: Je nachdem, wie viel und welche Tiere geschlachtet werden, gehen die Klimagasemissionen bei der GZM hoch oder runter.
2020 verliess die GZM das EHS. Obwohl das Unternehmen in seiner EHS-Zeit die Klimagase nicht gesenkt hat, bekam es gesamthaft mehr Zertifikate umsonst zugeteilt, als es abgeben musste. Beim Austritt konnte die GZM aus wirtschaftlicher Sicht also eine durchaus profitable Bilanz ziehen: Das Unternehmen musste nichts für seine Emissionen bezahlen und hatte am Schluss rund 12’000 Zertifikate übrig, die es irgendwann auf dem CO2-Markt verkaufen kann – Ende Januar 2023 für rund 80 Franken das Stück.
Bei unserer Recherche hat uns immer wieder aufs Neue erstaunt, wie wenig die EHS-Firmen selbst über das System wissen, indem sie ihre CO2-Kosten begleichen. Zum Beispiel das GZM Extraktionswerk: In einem ersten Mailkontakt mit dem Werk im bernischen Lyss konfrontierten wir die Betreiber*innen damit, dass sie mehr Emissionszertifikate umsonst erhalten haben, als sie total abgeben mussten. Wir wollten wissen, was das Unternehmen mit den rund 12’000 überschüssigen Zertifikaten anfangen wird. Anstatt einer Antwort erreichte uns eine Gegenfrage aus Lyss: „Über welche Quelle haben Sie Ihre Informationen?“ (sic!) Dies erstaunt. Denn um die Emissionen und Zertifikatszuteilungen der EHS-Firmen herauszufinden, braucht es weder exklusive Quellen noch grosses Investigativtalent. Die Zuteilungen und Abgabepflichten sind alle über das öffentlich zugängliche Emissionshandelsregister einsehbar.
So richtig in die Hose ging die Sache mit den Reduktionen beim Chemiekonzern Lonza: Am Ende der zweiten Handelsperiode schienen die Emissionen der Walliser Produktionsstätte um 150 Prozent höher zu sein als am Anfang. Schienen, weil Lonzas Emissionen mit grosser Wahrscheinlichkeit bereits beim Start der Handelsperiode, also 2013, so hoch waren. Nur tauchten sie von 2013 bis 2019 nicht in der Emissionsabrechnung des Chemiekonzerns auf.
Der Grund: Bei einer Kontrollmessung im Frühjahr 2018 entdeckte man bei der Lonza ein Leck, aus dem Lachgas mit einer Klimawirkung von rund 600’000 Tonnen CO2 pro Jahr austrat – und das schon seit Längerem. Die Emissionen entsprechen laut dem Bundesamt für Umwelt (BAFU) rund einem Prozent des jährlichen Treibhausgasausstosses der Schweiz. Auch die Schwankungen der Lonza-Emissionen sind also nicht vorwiegend auf einen guten oder schlechten Klimaschutz zurückzuführen – sondern lediglich auf eine fehlerhafte Messmethodik.
Prozentual am meisten gestiegen sind die Emissionen jedoch bei der Wärmeproduktionsanlage Regina-Kägi-Hof von Entsorgung und Recycling Zürich (ERZ). Doch auch diese Schwankungen haben einen anderen Ursprung. Denn ERZ gleicht mit insgesamt vier fossil betriebenen Anlagen – wenn nötig –Schwankungen im Fernwärmenetz aus. Welche Anlage angelassen wird und welche nicht, hat technische Gründe. Tatsächlich sind die Emissionen über alle vier Anlagen, die ERZ im EHS hat, von 2013 bis 2020 von 44’000 Tonnen auf 37’000 Tonnen Klimagase gesunken. Ähnlich erklären auch die Gemeinde Lausanne und EWB (Energie Wasser Bern) den starken Anstieg bei einzelnen ihrer EHS-Anlagen.
Stockende Reduktion bei Zementwerken
Bei einigen Produktionsanlagen ist in der vergangenen Handelsperiode bei der Anzahl ausgestossener Klimagastonnen mehr oder weniger nichts passiert. Zum Beispiel beim Zementwerk in Untervaz des Baustoffriesen Holcim. Der Konzern rechnet die CO2-Kosten für drei seiner Produktionsstätten im EHS ab. Laut unseren Berechnungen ist das Zementwerk Untervaz mit 0.9 Prozent mehr Emissionen als im Jahr 2013 am Ende der vergangenen Handelsperiode die Anlage mit der kleinsten Veränderung.
2018 brachte Holcim die neue Zementsorte Susteno auf den Schweizer Markt. Susteno enthält aufbereitetes Mischgranulat aus rückgebauten Gebäuden. Damit konnte Holcim 2020 laut eigenen Angaben 7’000 Tonnen CO2-Emissionen einsparen. In einer von Holcim veröffentlichten Medienmitteilung wird Susteno als der erste und einzige ressourcenschonende Zement in Europa angepriesen. Die drei Produktionsanlagen von Holcim stiessen laut dem eidgenössischen Emissionshandelsregister im selben Jahr jedoch über 1’300’000 Tonnen Klimagase aus. Auch der Zementhersteller Ciments Vigier vermarktet minimale CO2-Reduktionen. Im Nachhaltigkeitsbericht 2021 schreibt Vigier, dass man mit dem neuen E‑Dumper „Lynx“ jährlich rund 130 Tonnen CO2 einsparen könne. 2020 emittierte der Konzern 470’000 Tonnen CO2.
Auf Anfrage erklärte Holcim die Stagnation damit, dass 2020 in Untervaz mehr produziert worden sei als 2013. Die Emissionen pro produzierter Tonne Zement seien jedoch gesunken. So erklärt auch das Zementwerk Wildegg der Jura-Cement-Fabriken die nicht vorhandene Reduktion. Tatsächlich dürfte es aber noch einen anderen Grund geben, weshalb die Reduktionen bei Beton und Zement stagnieren.
Denn während in den anderen EHS-Industrien die Klimagase vorwiegend aus der Verbrennung von Erdgas und Öl stammen, entstehen hier auch sogenannte geogene Emissionen. Neben dem Brennstoffverbrauch entweicht bei der Herstellung von Beton und Zement CO2, das vorher fix im Stein gebunden war. Dieses geogene CO2, das laut dem Branchenverband cemsuisse rund zwei Drittel der Emissionen verursacht, macht die Dekarbonisierung der Zementbranche besonders schwierig.
Zu wenig Tempo beim Klimaschutz
Über alle Anlagen hinweg sanken die Emissionen in der vergangenen Handelsperiode von 5.5 Millionen Tonnen auf 4.9 Millionen Tonnen – also um rund 11 Prozent. Aber: EHS-Austritte und Konkurse verfälschen diese Gesamtschau. Betrachtet man nämlich nur die EHS-Konzerne, die während der gesamten letzten Periode im System waren, dann stiegen deren Emissionen von 4.8 Millionen Tonnen im Jahr 2013 auf 4.9 Millionen Tonnen Klimagase im Jahr 2020.
Aber auch diese Zahl muss kritisch betrachtet werden, und zwar wegen des Lachgas-Lecks von 0.6 Millionen Tonnen CO2, das man gegen Ende der Handelsperiode bei der grössten Emittentin, der Lonza AG, entdeckt hat. Geht man davon aus, dass dieses Leck schon zu Beginn der Handelsperiode, also 2013 existierte, verursachten die Firmen damals nicht einen Ausstoss von 4.8 Millionen Tonnen, sondern von 5.4 Millionen Tonnen. Das würde bis 2020 über alle EHS-Anlagen und über die gesamte letzte Handelsperiode hinweg wiederum einer Reduktion von 10 Prozent entsprechen.
Im besten Fall können die EHS-Firmen von 2013 bis 2020 rund 10 Prozent Emissionsreduktionen vorweisen. Das ist nicht nichts, aber um in nützlicher Frist auf null zu kommen, genügt dieses Tempo schlichtweg nicht.
Um das zu berechnen, muss man kein Mathegenie sein. Denn allerspätestens 2050 müssen wir mit unseren Emissionen auf null sein. Das genügt gerade mal noch für knapp vier Handelsperioden. Um mit dem aktuellen Tempo auf null zu kommen, bräuchte es aber neun Handelsperioden.
Zudem: In anderen Bereichen scheint der Klimaschutz besser vorangekommen zu sein als in der Schwerindustrie. Laut dem offiziellen Treibhausgasinventar der Schweiz sind bei den Privathaushalten die Emissionen im selben Zeitraum nämlich um 31 Prozent gesunken.
Der Hauptgrund, weshalb in der vergangenen EHS-Handelsperiode bei vielen Schweizer Industriekonzernen die Reduktionen bescheiden ausgefallen sind, ist die grosszügige Zuteilung von Gratiszertifikaten. Welche Grosskonzerne wie reich beschenkt wurden, erfährt ihr im zweiten Teil dieser Serie.
Übersichtsartikel
Emissionshandelssystem: Eine Flatrate auf Monsteremissionen
Der Bund erliess den grössten Umweltverschmutzern von 2013 bis 2020 drei Milliarden Franken an CO2-Abgaben und schenkte ihnen gleichzeitig Emissionsrechte im Wert von schätzungsweise 361 Millionen Franken. Das zeigen bislang unveröffentlichte Berechnungen vom Onlinemagazin das Lamm.
Artikel 1
Weniger CO2 dank Emissionshandel? Eine Bilanz der letzten Jahre
Die Konzerne mit den meisten Klimagasemissionen rechnen ihre CO2-Kosten im Emissionshandelssystem ab. Das sollte die Klimaverschmutzung bremsen. Gewirkt hat es kaum.
ArtikeL 2
Selbstsabotage beim Klimaschutz. Der Grund: die Wettbewerbsfähigkeit
Damit Klimaverschmutzung für die Verursacher*innen etwas kostet, führte man in der Schweiz 2008 den Zertifikatshandel ein. Weil das für emissionsintensive Firmen ziemlich teuer werden kann, verschenkt der Staat kostenlose Zertifikate. Unsere Recherche zeigt auf, wer die meisten Gratiszertifikate erhalten hat.
Artikel 3
Klimaumverteilung: Von den KMUs zu den Grosskonzernen
Nur ein paar wenige Firmen dürfen ihre CO2-Emissionen im Emissionshandelssystem abrechnen. Damit ist es für sie nicht nur günstiger, Emissionen zu verursachen. Sie profitieren auch ganz direkt von den CO2-Abgaben der KMU.
Artikel 4
Klimamilliarden für Holcim, Lonza, BASF und Co.
Erstmals zeigen Berechnungen von das Lamm: Der Staat erliess Grosskonzernen CO2-Abgaben in Milliardenhöhe. Wer hat wie stark davon profitiert? Wir bringen Licht in das letzte Jahrzehnt Emissionshandelsdunst.
Artikel 5
Ein Spezialdeal für die Klimakiller. Warum eigentlich?
Von 2013 bis 2020 subventionierte der Staat die emissionsintensivsten Firmen des Landes mit rund 3 Milliarden Franken. Ob das gerechtfertigt ist oder nicht, diskutierte man bereits vor 30 Jahren.
Artikel 6
Wann fällt die Dauerflatrate?
Die EU plant Reformen. Diese könnten das EHS raus aus der Geiselhaft der globalisierten Industrie und rein in eine tatsächliche Dekarbonisierung führen. Der Wermutstropfen: So bald wird sich kaum etwas ändern.
Artikel 7
Braucht es das EHS?
Wer heute Klimagase verursacht, der zahlt. Nur zahlen bis jetzt nicht alle gleich viel, wenn sie das Klima zerstören. Das ist nicht nur unfair, sondern bremst auch die notwendigen CO2-Reduktionen aus. Gehört das EHS deshalb abgeschafft? Eine Einordnung.
Die Recherchen für diesen Artikel wurden vom Peter Hans Hofschneider-Recherchepreis für Wissenschafts- und Medizinjournalismus der Stiftung Experimentelle Biomedizin unterstützt. Der Recherchepreis wird in Zusammenarbeit mit dem Netzwerk Recherche vergeben.
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