Weniger CO2 dank Emis­si­ons­handel? Eine Bilanz der letzten Jahre (1/7)

Die Konzerne mit den meisten Klima­gas­emis­sionen rechnen ihre CO2-Kosten im Emis­si­ons­han­dels­sy­stem ab. Das Ziel: weniger Klima­ver­schmut­zung. Gewirkt hat es kaum. 
Illustration: Luca Mondgenast

Sach­buch: CO2-Ausstoß zum Nulltarif

Auf der Grund­lage dieser Arti­kel­serie ist ein Sach­buch entstanden, welches am 18.02.2024 beim Rotpunkt­verlag in Zürich erschienen ist. Das Buch „CO2-Ausstoß zum Null­tarif – Das Schweizer Emis­si­ons­han­dels­sy­stem und wer davon profi­tiert“ ist bei uns im Shop oder in der Buch­fi­liale deines Vertrauens erhältlich.

In Kürze

  • Im Schweizer Emis­si­ons­han­dels­sy­stem (EHS) werden Rechte für den Ausstoss von Klima­gasen gehan­delt. Grosse Schweizer Indu­strie­kon­zerne rechnen ihre Klima­ko­sten darüber ab – mit dem Ziel, die Emis­sionen zu senken.
  • Einzelne EHS-Firmen stossen mehr Treib­haus­gase aus fossilen Brenn­stoffen aus, als auf dem gesamten Gebiet der Stadt Zürich anfallen.
  • In acht Jahren konnten die EHS-Konzerne laut dem eidge­nös­si­schen Emis­si­ons­han­dels­re­gi­ster ihre Emis­sionen um 0.6 Millionen Tonnen Klima­gase redu­zieren. Doch die Zahlen werden durch Austritte und Konkurse verfälscht. 
  • Mit diesem System kann die Schweizer Indu­strie bis 2050 nicht auf Netto-Null kommen. 

Zumin­dest in der Theorie ist die Geset­zes­grund­lage solid: In der Schweiz gibt es nämlich gleich mehrere poli­ti­sche Instru­mente, mit denen die Treib­haus­gas­emis­sionen gesenkt werden sollen. Eines davon ist das Emis­si­ons­han­dels­sy­stem (EHS). Das primäre Ziel des Emis­si­ons­han­dels­sy­stems ist es, einen Markt zu schaffen. Einen Markt, auf dem nur ein Gut gehan­delt wird: das Recht, Klima­gase auszu­stossen. Die Hoff­nung dahinter ist simpel: Die Emis­sionen sollen redu­ziert werden, indem sie einen Preis bekommen. 

Bei den Firmen, die in der Schweiz ihre Klima­ko­sten über das EHS abrechnen, handelt es sich vorwie­gend um grosse Indu­strie­kon­zerne: Zement­werke, Raffi­ne­rien, Papier­fa­briken, Stahl­kon­zerne und Phar­ma­riesen. All jene also, bei denen die Politik als Erstes den Hebel ansetzen sollte.

2013 wurde das Schweizer Emis­si­ons­han­dels­sy­stem in seiner heutigen Form einge­führt. Ende 2020 ging die zweite soge­nannte Handel­s­pe­riode auf diesem Markt­platz für Emis­si­ons­rechte zu Ende. Sie star­tete 2013 und dauerte acht Jahre. Wir haben das zum Anlass genommen, um das System genauer unter die Lupe zu nehmen. Die zentrale Frage: Konnte das Emis­si­ons­han­dels­sy­stem die Klima­gase aus der Schweizer Indu­strie in den letzten Jahren wie verspro­chen senken? 

In der vergan­genen Handel­s­pe­riode nahmen rund 40 Firmen mit etwa 50 verschie­denen Indu­strie­an­lagen am EHS teil. Von den über 600’000 Firmen in der Schweiz machten diese nicht einmal 0.01 Prozent aus. Sie verur­sachten aber rund 10 Prozent der inlän­di­schen Emissionen.

Zu Beginn der zweiten Handel­s­pe­riode im Jahr 2013 stiessen diese laut dem natio­nalen Emis­si­ons­han­dels­re­gi­ster 5.5 Millionen Tonnen Klima­gase aus. Am Ende der Handel­s­pe­riode 2020 waren es 4.9 Millionen Tonnen. Aber: Diese Zahl allein als Mass­stab für die Wirk­sam­keit des EHS zu nehmen, wäre arg verein­facht. Denn in der Zeit zwischen 2013 und 2020 ist so einiges geschehen. 

Firmen, die ihre Klima­ko­sten unter dem Emis­si­ons­han­dels­sy­stem abrechnen dürfen, bezahlen keine CO2-Abgabe. Statt­dessen müssen sie für jede ausge­stos­sene Tonne CO2 ein entspre­chendes Zerti­fikat erwerben. Diese Zerti­fi­kate sind nichts anderes als Emis­si­ons­rechte. Dabei gibt es nur eine bestimmte Menge an Zerti­fi­katen und diese Menge, der soge­nannte Cap, wird schritt­weise gesenkt. Diese Verknap­pung soll den Preis der Zerti­fi­kate erhöhen. 

Die Firmen können die Zerti­fi­kate auf zwei Arten beziehen: Entweder sie erwerben sie käuf­lich oder sie bekommen sie geschenkt. Das Bundesamt für Umwelt (BAFU) verteilt jedes Jahr eine grosse Menge an Gratis­zer­ti­fi­katen an die Schweizer EHS-Firmen, um zu verhin­dern, dass sie ihre Emis­sionen ins Ausland verlagern. 

Zeit­lich ist das EHS in mehr­jäh­rigen Handel­s­pe­ri­oden mit mehr oder weniger gleich­blei­benden Regeln orga­ni­siert. Die letzte Handel­s­pe­riode lief von 2013 bis 2020. 

Wichtig: Die Zerti­fi­kate im Emis­si­ons­han­dels­sy­stem sind nicht an Projekte gekop­pelt, die der Atmo­sphäre Klima­gase entziehen, wie man das zum Beispiel von Kompen­sa­tionen für Flug­reisen kennt. Bei diesen frei­wil­ligen Kompen­sa­ti­ons­zah­lungen spricht man zwar oft auch von “Zerti­fi­katen”, diese haben aber nichts mit dem EHS zu tun.

Wer darf beim EHS mitmachen?

Grund­sätz­lich sind im EHS Firmen aus den Bran­chen mit den höch­sten Treib­haus­gas­emis­sionen vertreten. Dabei gibt es solche, die beim EHS mitma­chen „müssen“, weil sie im Anhang 6 der CO2-Verord­nung stehen. Auf dieser Liste sind beispiels­weise die Metall- oder die Zement­in­du­strie. Dieses „müssen“ kann jedoch zu Miss­ver­ständ­nissen führen. Denn die Firmen werden hier zu etwas gezwungen, das ihnen bis jetzt vor allem Vorteile verschafft hat.

Zusätz­lich gibt es Bran­chen, die frei­willig beim EHS mitma­chen können. Diese stehen im Anhang 7 der CO2-Verord­nung. Hier befinden sich zum Beispiel die Chemie‑, die Papier- oder die Holz­in­du­strie. Kurzum: Im EHS versam­meln sich die Gross­kon­zerne aus der Ener­gie­pro­duk­tion und der Schwerindustrie. 

Der über­wie­gende Teil der Schweizer Firmen darf aber nicht am EHS teil­nehmen. Diese zahlen statt­dessen für jede Tonne Klima­gase eine CO2-Abgabe von 120.– Franken.

Im EHS regi­striert werden genau genommen nicht die Firmen selbst, sondern die verschie­denen Indu­strie­an­lagen der Firmen – also ein Zement­werk, ein Stahl­werk oder ein Heiz­werk. Deshalb kann eine Firma auch mit mehreren Stand­orten im EHS vertreten sein. 

Wie wird bestimmt, wer wie viele Gratis­zer­ti­fi­kate erhält?

Die Anzahl Gratis­zer­ti­fi­kate, die eine Firma vom BAFU erhält, ist von zwei Faktoren abhängig. Einer­seits erhalten Firmen, die bereits eine gute CO2-Bilanz haben, mehr Gratis­zer­ti­fi­kate als solche, die schlecht dastehen. Was man dabei aber nicht vergessen darf: Auch Firmen bezie­hungs­weise deren Produk­ti­ons­an­lagen, die in diesem Ranking zu den besten zählen, emit­tieren immer noch Unmengen an Klimagasen.

Ander­seits erhalten Firmen, die für ihre Produkte den soge­nannten Carbon-Leakage-Status bean­spru­chen, mehr Gratis­zer­ti­fi­kate als solche ohne. Von Carbon-Leakage spricht man dann, wenn die Klima­gas­emis­sionen wegen hoher Abgaben, Steuern oder anderen Klima­schutz­mass­nahmen in ein anderes Land verla­gert werden, in dem es billiger ist, CO2 zu emittieren. 

In der Handel­s­pe­riode von 2013 bis 2020 mussten alle Schweizer EHS-Firmen zusammen 39 Millionen Zerti­fi­kate abgeben. Vom BAFU wurden 38 Millionen Zerti­fi­kate gratis verteilt. Viele Schweizer EHS-Firmen haben deshalb eine beträcht­liche Menge EHS-Zerti­fi­kate beisei­te­legen können. Diese Reser­ve­bil­dung schwächt die Wirkung des EHS-Konzepts ab.

Wie kommen die EHS-Firmen zu den rest­li­chen Zertifikaten?

Einer­seits führt das BAFU regel­mässig Verstei­ge­rungen durch. Ande­rer­seits handeln die EHS-Firmen sowie andere am CO2-Markt inter­es­sierte Akteur*innen unter­ein­ander mit den Emis­si­ons­rechten. Dieser Handel läuft über mehrere Ener­gie­börsen – zum Beispiel über die Euro­pean Energy Exch­ange (EEX) mit Sitz in Leipzig.

Verknüpft mit dem euro­päi­schen EHS und trotzdem anders. Wie geht das?

Seit dem 1. Januar 2020 ist das Schweizer EHS mit dem euro­päi­schen EHS verknüpft. Deshalb gelten in beiden Systemen grund­sätz­lich dieselben Regeln. Da diese EHS-Regeln aber in eine natio­nale Klima­ge­setz­ge­bung einge­bettet sind, bedeutet die Teil­nahme am EHS für eine euro­päi­sche Firma trotzdem nicht zu hundert Prozent dasselbe wie für eine Schweizer Firma. Ein Beispiel: Anders als in den meisten EU-Ländern bezahlen die Firmen, die nicht im EHS sind, in der Schweiz auf fossile Brenn­stoffe eine CO2-Lenkungs­ab­gabe. Diese liegt momentan bei 120 Franken pro Tonne CO2.

Diese Lenkungs­ab­gabe wird gröss­ten­teils an die Schweizer Bevöl­ke­rung zurück­ver­teilt. Aber auch EHS-Firmen erhalten bei dieser Rück­ver­tei­lung Geld, obwohl sie gar keine CO2-Abgabe bezahlt haben. Diese zusätz­li­chen Einnahmen aus der natio­nalen CO2-Abgabe erhalten euro­päi­sche EHS-Firmen nicht.

Zum Beispiel wurde die Erdöl­raf­fi­nerie Tamoil in dieser Zeit­spanne still­ge­legt. Tamoil steu­erte 2014 noch rund 0.6 Millionen Tonnen Emis­sionen zum natio­nalen Total bei. Diese fielen im Jahr 2016 voll­ends weg. Ande­rer­seits erhöhte ein 2018 entdecktes Leck beim Phar­ma­un­ter­nehmen Lonza die doku­men­tierten Emis­sionen sprung­haft. So stark, dass die Klima­gas­emis­sionen dieser einen Lonza-Fabrik nach 2019 höher waren als die Emis­sionen aus dem Verbrauch fossiler Brenn­stoffe auf dem gesamten Gebiet der Stadt Zürich

Die Recher­chen von das Lamm zeigen: Die Entwick­lungen der im EHS abge­rech­neten Emis­sionen beruhen bei Weitem nicht nur auf Klima­schutz­be­mü­hungen. Wer wirk­lich heraus­finden will, ob das EHS die Emis­sionen der teil­neh­menden Firmen beein­flusst hat, muss die Firmen einzelnen unter die Lupe nehmen.

Während ein grosser Teil der Indu­strie­an­lagen im EHS das Klima mit weniger als 100’000 Tonnen Klima­gasen pro Jahr bela­steten, stiess eine Hand­voll Firmen deut­lich mehr aus: der Chemie­kon­zern Lonza, der Beton­riese Holcim mit seinen Stand­orten in Untervaz, Eclé­pens und Siggen­thal, die Erdöl­raf­fi­niereie Varo in Cressier, der Chemie­kon­zern CIMO, das Stahl­werk der Stahl Gerla­fingen AG, sowie die Zement­her­steller Ciments Vigier und die Jura-Cement-Fabriken mit den beiden Werken in Wildegg und Cornaux. 

Insge­samt wurden im Jahr 2020 auf Schweizer Boden 43.9 Millionen Tonnen Klima­gase frei­ge­setzt. Die rund 50 Indu­strie­an­lagen, die damals ihre Emis­sionen im EHS abrech­neten, machten mit 4.9 Millionen Tonnen mehr als 10 Prozent davon aus. Die zehn EHS-Anlagen mit den höch­sten Emis­sionen bliesen mit rund 3.9 Millionen Tonnen CO2 über 8 Prozent der gesamt­schwei­ze­ri­schen Emis­sionen in die Luft.

Das Schweizer CO2-Gesetz unter­scheidet zwischen Emis­sionen aus Brenn­stoffen wie Erdöl oder Erdgas und Emis­sionen aus Treib­stoffen wie Benzin oder Diesel. Für die Regu­la­tion der Brenn­stoffe gibt es neben dem EHS auch die Instru­mente der CO2-Lenkungs­ab­gabe und der Ziel­ver­ein­ba­rung. Den Emis­sionen aus Treib­stoffen will die Politik über das Instru­ment der Kompen­sa­ti­ons­pflicht einen Preis geben. Diese Kompen­sa­ti­ons­pflicht beschränkt sich jedoch auf Treib­stoffe aus dem Stras­sen­ver­kehr – sprich Diesel und Benzin. Für Kerosin gilt die Kompen­sa­ti­ons­pflicht nicht.

Weshalb sind auf der Seite der Brenn­stoffe mehrere verschie­dene Instru­mente entstanden? Der Haupt­grund: Bei der Einfüh­rung der CO2-Abgabe gab es Bedenken, dass emis­si­ons­in­ten­sive und inter­na­tional tätige Schweizer Konzerne nicht mehr wett­be­werbs­fähig wären, wenn sie eine CO2-Abgabe bezahlen müssen. Deshalb hat der Bund für die Sektoren mit den höch­sten Emis­sionen Spezi­al­lö­sungen entworfen. Die dama­lige Diskus­sion lässt sich in dieser SRF-Sendung aus dem Jahr 1995 nachschauen.

Nur teil­weise Dekar­bo­ni­sie­rung der Wirtschaft

Es gibt auch Entwick­lungen, die opti­mi­stisch stimmen. Ein Unter­nehmen, das seine Emis­sionen in der letzten Handel­s­pe­riode stark gesenkt hat, ist die Papier­fa­brik Perlen. Stiess die Fabrik 2013 noch 86’339 Tonnen CO2 aus, waren es 2020 nur noch 7’946 Tonnen – das ist eine Reduk­tion von 90 Prozent. „Der Rück­gang ist haupt­säch­lich auf den Dampf­bezug von der KVA Renergia zurück­zu­führen“, schreibt die Papier­fa­brik auf Anfrage. Anstatt fossile Ener­gie­träger wie Erdgas oder Öl zu verbrennen, bezieht Perlen die benö­tigte Wärme heute von der Kehricht­ver­bren­nungs­an­lage Renergia.

Dass die Energie, die bei der Verbren­nung unseres Abfalls entsteht, noch­mals genutzt wird, ist sicher­lich sinn­voll. Ein „aber“ gibt es trotzdem, denn laut der Kehricht­ver­bren­nungs­an­lage Renergia ist der bei ihnen verbrannte Abfall zu 50 Prozent fossiler Herkunft – sprich: Plastik. Und natür­lich entstehen in der Kehricht­ver­bren­nungs­an­lage auch Klima­gase, wenn Plastik verbrannt wird – sie landen einfach nicht mehr auf dem CO2-Konto von Perlen Papier.

Was das Beispiel der Papier­fa­brik zeigt: Nicht jede Reduk­tion der im EHS geli­steten Emis­sionen beruht tatsäch­lich auf einer Dekar­bo­ni­sie­rung des indu­stri­ellen Prozesses, zum Beispiel dann, wenn die fossilen Brenn­stoffe einfach durch Plastik­müll ersetzt werden. 

Es gibt ein weiteres Szenario, bei dem zwar die Emis­sionen im EHS zurück­gehen, die dahin­ter­ste­hende Indu­strie deswegen aber nicht unbe­dingt klima­freund­li­cher geworden ist. Nämlich dann, wenn die indu­stri­ellen Prozesse einfach verschwinden. 

So geschehen zum Beispiel bei der Indu­strie­an­lage “Kessel­haus Klybeck” in Basel. 2020 verzeichnet das Kessel­haus Klybeck fast 65 Prozent weniger Klima­gas­emis­sionen als 2013.

Auf die Frage, wie diese stolze Reduk­tion erreicht werden konnte, bekommen wir von der heutigen Besit­zerin des Klybeck-Areals, der Rhystadt AG, folgende Antwort: “Das Klybeck-Areal zwischen Rhein und Wiese wird ‘trans­for­miert’ und wächst in den näch­sten Jahr­zehnten schritt­weise mit den umlie­genden Quar­tieren zusammen”. Wo früher also die Gross­in­du­strie mit Energie belie­fert wurde, entsteht heute ein neuer Stadtteil. 

Die sinkenden Emis­si­ons­werte würden die Verän­de­rung des Nutzungs­mixes inklu­sive des Wegfalles gross­in­du­stri­eller Produk­tion wider­spie­geln, so die Rhystadt AG weiter. Von den früher indu­striell genutzten Liegen­schaften würden viele nicht mehr benö­tigt oder anders genutzt. 

Und auch beim dritten Beispiel in Form eines Basler EHS-Teil­neh­mers sind die im EHS regi­strierten Klima­gas­re­duk­tionen nicht nur auf Klima­schutz­be­mü­hungen zurück zu führen. Der Phar­ma­riese Hoff­mann-La Roche redu­zierte die Emis­sionen an seinem Haupt­sitz in Basel von 2013 bis 2020 um 42 Prozent.

Den grössten Sprung machte das Unter­nehmen 2017. In diesem Jahr sanken die Klima­gase von 32’000 auf 23’000 Tonnen. Auf Anfrage verweist der Konzern zwar auch auf die Umset­zung eines neuen Energie-Leit­bildes. Zugleich ist der Standort Basel seit 2017 aber gar kein Produk­ti­ons­standort mehr. „Der Standort Basel gilt [...] als ‘Launch-Site’ und nicht mehr als klas­si­sche ‘Produk­tions-Site’. Ener­gie­in­ten­sive, grös­sere Produk­ti­ons­pro­zesse wurden an andere Stand­orte wie z.B. Kaiser­augst verla­gert”, erklärt Hoff­mann-La Roche auf Anfrage.

Wir haben auch bei weiteren Indu­strie­an­lagen mit hohen Reduk­tionen nach­ge­fragt. Zum Beispiel beim Chemie­un­ter­nehmen Dottikon Exclu­sive Synthesis ( –63 Prozent Emis­sionen) oder dem Alumi­ni­um­ver­ar­beiter Constel­lium Valais (–50 und –46 Prozent Emis­sionen). Eine Antwort auf die Frage, mittels welcher Mass­nahmen die Emis­sionen redu­ziert werden konnten, erhielten wir jedoch auch nach mehr­fa­chen Nach­fragen nicht.

Rauf statt runter

Zu beob­achten ist leider auch der entge­gen­ge­setzte Effekt: Bei 20 Indu­strie­an­lagen gingen die Emis­sionen in der letzten Handel­s­pe­riode trotz Teil­nahme am EHS hoch. Eine von ihnen ist das GZM Extrak­ti­ons­werk in Lyss, das Schlacht­ab­fälle verar­beitet. Im Jahr 2013 verur­sachte die GZM rund 15’000 Tonnen CO2; 2019 waren es rund 18’000 Tonnen. „Die Zunahme der Treib­haus­gase in der Periode von 2013 bis 2019 ist weder tech­ni­schen noch finan­zi­ellen Hürden geschuldet, sondern syste­misch bedingt“, sagt der Leiter Unter­neh­mens­kom­mu­ni­ka­tion der Centravo-Gruppe, zu der auch die GZM Lyss gehört, auf Anfrage. Schluss­end­lich sei alles davon abhängig, was bei ihnen ange­lie­fert wird. Sprich: Je nachdem, wie viel und welche Tiere geschlachtet werden, gehen die Klima­gas­emis­sionen bei der GZM hoch oder runter.

2020 verliess die GZM das EHS. Obwohl das Unter­nehmen in seiner EHS-Zeit die Klima­gase nicht gesenkt hat, bekam es gesamt­haft mehr Zerti­fi­kate umsonst zuge­teilt, als es abgeben musste. Beim Austritt konnte die GZM aus wirt­schaft­li­cher Sicht also eine durchaus profi­table Bilanz ziehen: Das Unter­nehmen musste nichts für seine Emis­sionen bezahlen und hatte am Schluss rund 12’000 Zerti­fi­kate übrig, die es irgend­wann auf dem CO2-Markt verkaufen kann – Ende Januar 2023 für rund 80 Franken das Stück.

Bei unserer Recherche hat uns immer wieder aufs Neue erstaunt, wie wenig die EHS-Firmen selbst über das System wissen, indem sie ihre CO2-Kosten beglei­chen. Zum Beispiel das GZM Extrak­ti­ons­werk: In einem ersten Mail­kon­takt mit dem Werk im berni­schen Lyss konfron­tierten wir die Betreiber*innen damit, dass sie mehr Emis­si­ons­zer­ti­fi­kate umsonst erhalten haben, als sie total abgeben mussten. Wir wollten wissen, was das Unter­nehmen mit den rund 12’000 über­schüs­sigen Zerti­fi­katen anfangen wird. Anstatt einer Antwort erreichte uns eine Gegen­frage aus Lyss: „Über welche Quelle haben Sie Ihre Infor­ma­tionen?“ (sic!) Dies erstaunt. Denn um die Emis­sionen und Zerti­fi­kats­zu­tei­lungen der EHS-Firmen heraus­zu­finden, braucht es weder exklu­sive Quellen noch grosses Inve­sti­ga­tiv­ta­lent. Die Zutei­lungen und Abga­be­pflichten sind alle über das öffent­lich zugäng­liche Emis­si­ons­han­dels­re­gi­ster einsehbar.

So richtig in die Hose ging die Sache mit den Reduk­tionen beim Chemie­kon­zern Lonza: Am Ende der zweiten Handel­s­pe­riode schienen die Emis­sionen der Walliser Produk­ti­ons­stätte um 150 Prozent höher zu sein als am Anfang. Schienen, weil Lonzas Emis­sionen mit grosser Wahr­schein­lich­keit bereits beim Start der Handel­s­pe­riode, also 2013, so hoch waren. Nur tauchten sie von 2013 bis 2019 nicht in der Emis­si­ons­ab­rech­nung des Chemie­kon­zerns auf. 

Der Grund: Bei einer Kontroll­mes­sung im Früh­jahr 2018 entdeckte man bei der Lonza ein Leck, aus dem Lachgas mit einer Klima­wir­kung von rund 600’000 Tonnen CO2 pro Jahr austrat – und das schon seit Längerem. Die Emis­sionen entspre­chen laut dem Bundesamt für Umwelt (BAFU) rund einem Prozent des jähr­li­chen Treib­haus­gas­aus­stosses der Schweiz. Auch die Schwan­kungen der Lonza-Emis­sionen sind also nicht vorwie­gend auf einen guten oder schlechten Klima­schutz zurück­zu­führen – sondern ledig­lich auf eine fehler­hafte Messmethodik.

Prozen­tual am meisten gestiegen sind die Emis­sionen jedoch bei der Wärme­pro­duk­ti­ons­an­lage Regina-Kägi-Hof von Entsor­gung und Recy­cling Zürich (ERZ). Doch auch diese Schwan­kungen haben einen anderen Ursprung. Denn ERZ gleicht mit insge­samt vier fossil betrie­benen Anlagen – wenn nötig –Schwan­kungen im Fern­wär­me­netz aus. Welche Anlage ange­lassen wird und welche nicht, hat tech­ni­sche Gründe. Tatsäch­lich sind die Emis­sionen über alle vier Anlagen, die ERZ im EHS hat, von 2013 bis 2020 von 44’000 Tonnen auf 37’000 Tonnen Klima­gase gesunken. Ähnlich erklären auch die Gemeinde Lausanne und EWB (Energie Wasser Bern) den starken Anstieg bei einzelnen ihrer EHS-Anlagen.

Stockende Reduk­tion bei Zementwerken 

Bei einigen Produk­ti­ons­an­lagen ist in der vergan­genen Handel­s­pe­riode bei der Anzahl ausge­stos­sener Klima­gastonnen mehr oder weniger nichts passiert. Zum Beispiel beim Zement­werk in Untervaz des Baustoffriesen Holcim. Der Konzern rechnet die CO2-Kosten für drei seiner Produk­ti­ons­stätten im EHS ab. Laut unseren Berech­nungen ist das Zement­werk Untervaz mit 0.9 Prozent mehr Emis­sionen als im Jahr 2013 am Ende der vergan­genen Handel­s­pe­riode die Anlage mit der klein­sten Veränderung. 

2018 brachte Holcim die neue Zement­sorte Susteno auf den Schweizer Markt. Susteno enthält aufbe­rei­tetes Misch­gra­nulat aus rück­ge­bauten Gebäuden. Damit konnte Holcim 2020 laut eigenen Angaben 7’000 Tonnen CO2-Emis­sionen einsparen. In einer von Holcim veröf­fent­lichten Medi­en­mit­tei­lung wird Susteno als der erste und einzige ressour­cen­scho­nende Zement in Europa ange­priesen. Die drei Produk­ti­ons­an­lagen von Holcim stiessen laut dem eidge­nös­si­schen Emis­si­ons­han­dels­re­gi­ster im selben Jahr jedoch über 1’300’000 Tonnen Klima­gase aus. Auch der Zement­her­steller Ciments Vigier vermarktet mini­male CO2-Reduk­tionen. Im Nach­hal­tig­keits­be­richt 2021 schreibt Vigier, dass man mit dem neuen E‑Dumper „Lynx“ jähr­lich rund 130 Tonnen CO2 einsparen könne. 2020 emit­tierte der Konzern 470’000 Tonnen CO2.

Auf Anfrage erklärte Holcim die Stagna­tion damit, dass 2020 in Untervaz mehr produ­ziert worden sei als 2013. Die Emis­sionen pro produ­zierter Tonne Zement seien jedoch gesunken. So erklärt auch das Zement­werk Wildegg der Jura-Cement-Fabriken die nicht vorhan­dene Reduk­tion. Tatsäch­lich dürfte es aber noch einen anderen Grund geben, weshalb die Reduk­tionen bei Beton und Zement stagnieren. 

Denn während in den anderen EHS-Indu­strien die Klima­gase vorwie­gend aus der Verbren­nung von Erdgas und Öl stammen, entstehen hier auch soge­nannte geogene Emis­sionen. Neben dem Brenn­stoff­ver­brauch entweicht bei der Herstel­lung von Beton und Zement CO2, das vorher fix im Stein gebunden war. Dieses geogene CO2, das laut dem Bran­chen­ver­band cemsu­isse rund zwei Drittel der Emis­sionen verur­sacht, macht die Dekar­bo­ni­sie­rung der Zement­branche beson­ders schwierig. 

Zu wenig Tempo beim Klimaschutz

Über alle Anlagen hinweg sanken die Emis­sionen in der vergan­genen Handel­s­pe­riode von 5.5 Millionen Tonnen auf 4.9 Millionen Tonnen – also um rund 11 Prozent. Aber: EHS-Austritte und Konkurse verfäl­schen diese Gesamt­schau. Betrachtet man nämlich nur die EHS-Konzerne, die während der gesamten letzten Periode im System waren, dann stiegen deren Emis­sionen von 4.8 Millionen Tonnen im Jahr 2013 auf 4.9 Millionen Tonnen Klima­gase im Jahr 2020.

Aber auch diese Zahl muss kritisch betrachtet werden, und zwar wegen des Lachgas-Lecks von 0.6 Millionen Tonnen CO2, das man gegen Ende der Handel­s­pe­riode bei der grössten Emit­tentin, der Lonza AG, entdeckt hat. Geht man davon aus, dass dieses Leck schon zu Beginn der Handel­s­pe­riode, also 2013 existierte, verur­sachten die Firmen damals nicht einen Ausstoss von 4.8 Millionen Tonnen, sondern von 5.4 Millionen Tonnen. Das würde bis 2020 über alle EHS-Anlagen und über die gesamte letzte Handel­s­pe­riode hinweg wiederum einer Reduk­tion von 10 Prozent entsprechen. 

Im besten Fall können die EHS-Firmen von 2013 bis 2020 rund 10 Prozent Emis­si­ons­re­duk­tionen vorweisen. Das ist nicht nichts, aber um in nütz­li­cher Frist auf null zu kommen, genügt dieses Tempo schlichtweg nicht. 

Um das zu berechnen, muss man kein Mathe­genie sein. Denn aller­spä­te­stens 2050 müssen wir mit unseren Emis­sionen auf null sein. Das genügt gerade mal noch für knapp vier Handel­s­pe­ri­oden. Um mit dem aktu­ellen Tempo auf null zu kommen, bräuchte es aber neun Handelsperioden.

Zudem: In anderen Berei­chen scheint der Klima­schutz besser voran­ge­kommen zu sein als in der Schwer­indu­strie. Laut dem offi­zi­ellen Treib­haus­gas­in­ventar der Schweiz sind bei den Privat­haus­halten die Emis­sionen im selben Zeit­raum nämlich um 31 Prozent gesunken.

Der Haupt­grund, weshalb in der vergan­genen EHS-Handel­s­pe­riode bei vielen Schweizer Indu­strie­kon­zernen die Reduk­tionen bescheiden ausge­fallen sind, ist die gross­zü­gige Zutei­lung von Gratis­zer­ti­fi­katen. Welche Gross­kon­zerne wie reich beschenkt wurden, erfährt ihr im zweiten Teil dieser Serie.

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Weniger CO2 dank Emis­si­ons­handel? Eine Bilanz der letzten Jahre
Die Konzerne mit den meisten Klima­gas­emis­sionen rechnen ihre CO2-Kosten im Emis­si­ons­han­dels­sy­stem ab. Das sollte die Klima­ver­schmut­zung bremsen. Gewirkt hat es kaum.

Die Recher­chen für diesen Artikel wurden vom Peter Hans Hofschneider-Recher­che­preis für Wissen­schafts- und Medi­zin­jour­na­lismus der Stif­tung Expe­ri­men­telle Biome­dizin unter­stützt. Der Recher­che­preis wird in Zusam­men­ar­beit mit dem Netz­werk Recherche vergeben.


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