„Wenn ich noch einmal die Wahl hätte, ich würde ihn nicht mehr anzeigen.“

Anja wurde verge­wal­tigt. Einein­halb Jahre später sagt sie vor Gericht gegen den Täter aus. Doch die Zeit davor war für Anja eine Tortur: Miss­traui­sche Beamte, undurch­sich­tige Gesetze und das dauernde Gefühl, ihr werde nicht geglaubt. 
Illustration: Iris Weidmann (@weidmanniris).

Trig­ger­war­nung: In diesem Text geht es um sexua­li­sierte Gewalt. Er enthält einzelne expli­zite Beschreibungen.

Anja* will raus. Sie befindet sich in einer Wohnung in Basel, draussen wacht die Stadt gerade auf. Es ist sechs Uhr morgens. Anja nimmt ihr Handy, läuft zur Tür und rennt hinaus, ohne Hose, barfuss die Treppe hinunter, dann auf die Strasse.

Der Mann, mit dem Anja die letzte Nacht verbrachte, rennt ihr einige Meter hinterher. Bei einem grossen Platz erst hält sie an und setzt sich zu einer Person an die Bushal­te­stelle. Ihre Stimme ist schrill. „Es tut mir so leid. Ich bin gerade verge­wal­tigt worden.“

Einein­halb Jahre später sitzt Anja in einem Park im Klein­basel und knetet ihre Hände. Es ist Ende Januar und in einer Woche wird sie vor Gericht gegen den Mann aussagen müssen, der sie in dieser Nacht im Sommer 2019 verge­wal­tigt hat. Sie hofft, danach endlich mit dem Erlebnis abschliessen zu können. „Es ist für mich ein Schluss­strich“, sagt sie. Seit einein­halb Jahren sei sie in dieser Verge­wal­ti­gung gefangen.

Was Anja in der Zeit seit der Tat durch­ge­macht hat, bringt sie an diesem kalten Tag im Januar 2021 zum Schluss: „Wenn ich noch einmal die Wahl hätte, ich würde ihn nicht mehr anzeigen.“

Damit ist Anja nicht allein. 22 Prozent aller Frauen über 16 Jahren haben laut einer Studie des gfs Bern schon einmal unge­wollte sexu­elle Hand­lungen erlebt. Und trotzdem: Nur eine von zehn geht nach so einem Erlebnis zur Polizei, nur acht Prozent erstatten Anzeige. Rund die Hälfte aller Betrof­fenen spricht mit niemandem über das Erlebte, auch nicht mit Freund*innen oder Familie.

Wer Anjas Geschichte kennt, stellt fest: Etwas läuft gewaltig schief in der Ermitt­lung von Sexu­al­de­likten. Bei den Behörden, in der Politik und in der Justiz. Warum?

Vor der Flucht

An einem Abend sitzt Anja bei dem Mann in der Wohnung. Sie haben sich vor einigen Wochen im Internet kennen­ge­lernt, hatten schon mehr­mals einver­nehm­li­chen Geschlechts­ver­kehr. An diesem Abend bietet er ihr Benzo­dia­zepin an, das gegen Angst­zu­stände einge­setzt wird. „Was Mildes, zum Chillen“, sagt er ihr.

Anja verbringt die Nacht bei ihm. Im Laufe des frühen Morgens verge­wal­tigt er sie anal. Zu Beginn wehrt sich Anja noch, sie schreit und weint, fleht ihn an, von ihr abzu­lassen. Dann wird sie apathisch.

Die Tatsache, dass Anja sich in diesem Moment gewehrt hat, wird einein­halb Jahre später, am Straf­ge­richt Basel, von elemen­tarer Bedeu­tung sein. Denn nur, wenn sich ein Opfer von Verge­wal­ti­gung gegen den Täter zur Wehr setzt, ist im Gesetz von „Sexu­eller Nöti­gung“ oder „Verge­wal­ti­gung“ die Rede.

Viele Betrof­fene von sexua­li­sierter Gewalt schaffen es nicht, sich gegen die Täter zur Wehr zu setzen. Oft setzt eine soge­nannte Opfer­starre ein. Das heisst, dass der Körper der betrof­fenen Person sich versteift, sie sich nicht mehr bewegen und wehren kann.

Im schwei­ze­ri­schen Sexu­al­straf­recht wird dem bisher nicht Rech­nung getragen. Es muss dem Täter nach­ge­wiesen werden können, dass er sich wissent­lich über die Grenzen der anderen Person hinweg­ge­setzt hat, dass diese ihm klar gemacht hat, dass sie nicht will, was passiert. Das soll mit einer Revi­sion teil­weise verbes­sert werden.

Der Mann lässt auch nach mehr­ma­ligem Flehen nicht von Anja ab. Als er fertig ist, ergreift sie die Flucht.

Im Unispital

Am Tag nach der Tat begibt sich Anja in die Frau­en­klinik des Unispi­tals. Am Empfang sagt sie: Ich bin anal verge­wal­tigt worden und will unter­sucht werden. Die nötigen Schritte werden einge­leitet, an viele Details kann Anja sich heute noch erin­nern. Etwa, dass die dienst­ha­bende Ärztin gefragt habe, ob ihr nicht klar sei, dass die Tat 28 Stunden her sei, man im Falle einer Verge­wal­ti­gung jedoch in den ersten 24 Stunden vorbei­kommen müsse.

In den Akten hingegen fehlt ein Bericht dieser Unter­su­chung. Als das Anja Monate später auffällt, stellt sie die Ärztin zur Rede. Anja habe sich damals gegen eine Unter­su­chung gewehrt, antwortet die Ärztin, worauf sie diese unter­lassen habe. „Das ist seltsam“, sagt Anja heute, „ich war doch da, weil ich unter­sucht werden wollte.“

Zur Betreuung von Opfern sexua­li­sierter Gewalt habe das Univer­si­täts­spital Basel ein Konzept, heisst es auf Anfrage bei der Kommu­ni­ka­ti­ons­ab­tei­lung. Unter den momen­tanen Umständen habe jedoch keine*r der Expert*innen Kapa­zi­täten, dies zu erläu­tern. Das Konzept sei auch nicht einsehbar.

Das Kran­ken­haus ist in vielen Fällen von sexua­li­sierter Gewalt der Ort, an dem ein Straf­ver­fol­gungs­pro­zess ins Rollen kommt: Mitar­bei­tende ziehen bei der Unter­su­chung einer Betrof­fenen die Polizei bei, weil es sich bei Verge­wal­ti­gung und Nöti­gung um Offi­zi­al­de­likte handelt. Die Polizei muss in solchen Fällen die Ermitt­lungen von Amtes wegen aufnehmen. Oft wollen die Betrof­fenen das nicht. Das hat laut der gfs Studie viel­fäl­tige Gründe: Einige denken, ihnen werde nicht geglaubt, andere sorgen sich um die Konse­quenzen einer Anzeige. Die meisten Fälle sexua­li­sierter Gewalt passieren im Freundes- und Bekanntenkreis.

Es ginge auch anders. Das soge­nannte „Berner Modell“ sieht vor, dass sich Betrof­fene von Fach­per­sonen unter­su­chen lassen und erst danach entscheiden können, ob sie Anzeige erstatten wollen. Die Spuren­si­che­rung wird von Rechts­me­di­zi­ne­rinnen gelei­stet, die Spuren danach sicher aufbe­wahrt. Bis zu einem Jahr nach der Tat kann die Betrof­fene dann noch Anzeige erstatten. Die Istan­bul­kon­ven­tion verpflichtet alle Kantone, das eben­falls so zu regeln.

In Anjas Fall meldet das Kran­ken­haus nichts bei der Polizei – es gibt ja gemäss den Akten auch gar keine Unter­su­chung. Statt­dessen schickt man Anja zum Ambu­la­to­rium der Univer­si­tären Psych­ia­tri­schen Klinik (UPK). Dort bekommt sie sechs Tabletten Beru­hi­gungs­mittel verschrieben. Zu Hause nimmt sie alle Tabletten in kurzem Abstand nach­ein­ander ein. „Ich dachte in dem Moment nicht nach. Ich wusste einfach: Jetzt muss ich mich unbe­dingt beruhigen.“

An die zehn Tage, die danach folgten, hat Anja keine Erin­ne­rung mehr. Sie habe wohl funk­tio­niert, es gibt Fotos von ihr beim Haare­färben mit der Tochter, aber in ihrer Erin­ne­rung ist da nur ein schwarzes Loch. Auch zum Täter ist sie offenbar in dieser Zeit zurückgekehrt.

Bei der Polizei

Zehn Tage nachdem sie die Tabletten einge­nommen hatte, wacht Anja auf und ist bei klarem Verstand. Sie tele­fo­niert herum, fragt bei Freun­dinnen nach einer geeig­neten poli­zei­li­chen Person, die ihr jetzt eine Unter­stüt­zung sein kann. Bei der Wache warten zwei Mitarbeiter*innen der Sozialen Dienste und ein Poli­zist auf sie. Man nimmt sich Zeit für Anja, sie fühlt sich aufgehoben.

Nach stun­den­langem Notieren teilt man ihr mit, es werde jetzt Anzeige erstattet, ob sie das wolle oder nicht. Anja fühlt sich hinter­gangen. Sie ist herge­kommen, um Unter­stüt­zung zu bekommen. Anzeige hat sie ausdrück­lich nicht erstatten wollen, aus Angst vor den Konsequenzen.

Weil Anja anal verge­wal­tigt wurde, wird die Straftat nicht als Verge­wal­ti­gung, sondern als sexu­elle Nöti­gung verzeichnet. Im Schweizer Sexu­al­straf­recht ist eine Verge­wal­ti­gung immer noch dadurch gekenn­zeichnet, dass ein Penis in eine Vagina eindringt.

Für Fach­per­sonen ist das reine Form­sache. Für Anja ist es eine tief­grei­fende Unter­schei­dung. „Es klingt, als hätte ich keine tatsäch­liche Verge­wal­ti­gung erfahren.“

Agota Lavoyer kennt das Problem. „Gerade bei sexua­li­sierter Gewalt wäre es förder­lich, wenn juri­sti­sche Begriffe jenen Bezeich­nungen, die wir als Gesell­schaft brau­chen, entspre­chen würden“, sagt sie im Gespräch. Lavoyer ist stell­ver­tre­tende Leiterin und Bera­terin bei Lantana, der Fach­stelle Opfer­hilfe bei sexua­li­sierter Gewalt in Bern. Seit Jahren setzt sie sich für eine Sensi­bi­li­sie­rung ein.

Die irre­füh­rende juri­sti­sche Sprache führe häufig zu Miss­ver­ständ­nissen, genauso wie fehlendes Einfüh­lungs­ver­mögen seitens der Behörden. Sexu­elle Nöti­gung ist ein Offi­zi­al­de­likt, die Behörden sind also dazu verpflichtet, die Ermitt­lungen aufzunehmen.

„Hätte man Anja vor Ort aber besser aufge­klärt, würde sie sich nicht so hinter­gangen fühlen“, sagt Lavoyer. Um das zu bewerk­stel­ligen, brauche es eine stär­kere Schu­lung derje­nigen Fach­per­sonen, die mit Opfern sexua­li­sierter Gewalt zu tun haben. Darin müsse darüber aufge­klärt werden, was Trau­mata mit einer Person machen und wie eine Retrau­ma­ti­sie­rung verhin­dert werden kann.

Doch genau eine solche Schu­lung fehlt in vielen Kantonen. Es gibt keine einheit­li­chen schweiz­weiten Vorgaben dazu, keine bundes­weiten obli­ga­to­ri­schen Kurse zum Umgang mit Betrof­fenen von sexua­li­sierter Gewalt, die Ange­stellte bei der Polizei belegen müssen.

Zwar ist die Sensi­bi­li­sie­rung zum Thema sexua­li­sierte Gewalt fester Bestand­teil der Grund­aus­bil­dung aller Polizist*innen. In einigen Kantonen ist eine weiter­füh­rende Ausbil­dung eben­falls obli­ga­to­risch. So etwa in Grau­bünden, wie die Medi­en­stelle dort mitteilt. In Zürich und Bern gibt es einen Pikett­dienst, der auf die Befra­gung und Betreuung von Betrof­fenen sexua­li­sierter und häus­li­cher Gewalt spezia­li­siert ist. Auch bei der Polizei Basel-Stadt sei man sich der Heraus­for­de­rung bewusst, heisst es auf Anfrage. Das Korps werde im Rahmen von obli­ga­to­ri­schen Schu­lungen und Themen­aus­bil­dungen weitergebildet.

In anderen Kantonen hingegen sind Weiter­bil­dungen nicht verpflich­tend. Im Kanton Uri etwa haben Mitar­bei­tende, die mit Opfern sexua­li­sierter Gewalt zu tun haben, die Möglich­keit, sich in Kursen am Polizei-Institut in Neuen­burg weiter­zu­bilden – das ist jedoch frei­willig. Bei der Kantons­po­lizei Nidwalden sei der Umgang mit betrof­fenen von sexua­li­sierter Gewalt Gegen­stand interner Schu­lungen, wie die Medi­en­stelle mitteilt. Es gibt jedoch keinen Pikett­dienst, der auf das Thema spezia­li­siert ist.

Die einzelnen Sicher­heits­di­rek­tionen der Kantone entscheiden am Ende selbst, ob ein spezia­li­sierter Pikett­dienst rund um die Uhr verfügbar sein muss und ob Schu­lungen obli­ga­to­risch sind.

Viele der Weiter­bil­dungen werden am Polizei-Institut in Neuen­burg durch­ge­führt. Dort reagiert man auf Nach­fragen jedoch abweh­rend: Zu den genauen Inhalten der Grund­aus­bil­dung und der Weiter­bil­dungs­mo­dule zum Thema sexua­li­sierte Gewalt gibt der Leiter des Insti­tuts keine Infor­ma­tionen. Er betont jedoch: „Das Thema sexua­li­sierte Gewalt ist im Rahmen der Grund­aus­bil­dung wichtig und wird behan­delt.“ Es gebe zudem ein Angebot an weiter­füh­renden Kurse, zum Beispiel zum Thema „das Opfer im poli­zei­li­chen Ermitt­lungs­ver­fahren“ und zum Thema „Fach­kurs Befra­gung und Kindsbefragung“.

Anja hatte sich beim Poli­zei­po­sten tele­fo­nisch ange­meldet. Andere Betrof­fene von sexua­li­sierter Gewalt wissen nicht, dass das möglich ist. Sie laufen dann zum Schalter, müssen einer fremden Person in Uniform von dem Erlebten erzählen – und erwi­schen, wenn sie Pech haben, eine Person, die weniger einfühlsam ist, wie es bei Anja der Fall war. Viele wissen auch nicht, dass sie das Recht darauf haben, von einer Frau befragt zu werden und von einer Vertrau­ens­person begleitet zu werden. So berichten es mehrere Vertre­te­rinnen von Opferberatungsstellen.

In einem Artikel, der vergan­genes Jahr in der Repu­blik erschienen ist, schil­dern Betrof­fene von sexua­li­sierter Gewalt, dass sie bei der poli­zei­li­chen Einver­nahme nicht über ihre Rechte aufge­klärt wurden, dass ihnen ohne Einfüh­lungs­ver­mögen und mit Miss­trauen begegnet wurde. Für alle war die Einver­nahme eine retrau­ma­ti­sie­rende Erfahrung.

Agota Lavoyer von der Fach­stelle Opfer­hilfe Sexu­elle Gewalt in Bern kennt solche Geschichten aus ihrer Arbeit. Sie sagt dazu: „Der Auftrag der Polizei kann nur erfüllt werden, wenn die Polizist*innen genü­gend geschult sind. Über die Dyna­miken häus­li­cher und sexua­li­sierter Gewalt und über Trauma und Trau­ma­fol­ge­stö­rungen wie PTBS und disso­zia­tiven Störungen, die grossen Einfluss auf die Einver­nah­me­fä­hig­keit eines Opfers haben können.“ Sie fügt hinzu: „Ich habe schon oft von Polizist*innen gehört, dass sie sich inten­si­vere Schu­lungen wünschen würden, damit sie besser auf trau­ma­ti­sierte Opfer eingehen können.“

Am Ende gibt Anja den Behörden den Namen des Täters. Der Poli­zist nickt, der Mann sei ihnen bekannt. Anja fühlt sich unwohl, aber auch erleich­tert. „Ich dachte, jetzt holen sie ihn.“

Doch man holt ihn nicht. Anja begibt sich in Therapie.

Bei der Staatsanwaltschaft

Später wird sie von der Staats­an­walt­schaft zur Einver­neh­mung einge­laden. Dort erlebt sie die, wie sie sagt, demü­ti­gendste Episode der letzten einein­halb Jahre. Die Anhö­rende habe die Hände hinter dem Kopf verschränkt und ihr immer wieder miss­traui­sche Fragen gestellt.

Wieso sie nach der Verge­wal­ti­gung halb­nackt zu dem Mann an der Tram­hal­te­stelle gerannt sei, das tue man doch nicht nach so einem Erlebnis. Wieso sie die Tabletten genommen habe.

Anja musste sich immer wieder für ihre Erfah­rung recht­fer­tigen. „Mir ist klar, dass man das hinter­fragen muss, dass es eine Unter­su­chung ist“, sagt sie heute. „Aber dieses Gefühl, schuldig zu sein, hätte sie mir so nicht vermit­teln müssen. Muss ich denn weinend in der Ecke liegen, damit man mir glaubt?“

Conny Jauslin von der Opfer­hilfe Basel kennt solche Berichte von Betrof­fenen: „Die Einver­nahmen sind sehr bela­stend und es ist oft Glück, wie empa­thisch und geduldig die Mitar­bei­tende der Staats­an­walt­schaft ist. Zudem sind die Einver­nahmen oft extrem lang.“ Das wieder­holte Abfragen der schlimm­sten Szenen der Gewalt sei retrau­ma­ti­sie­rend. Das alles sei nicht opfer­freund­lich. Es brauche drin­gend Verbes­se­rungen, insbe­son­dere Schu­lungen, um diesen Prozess ange­nehmer zu gestalten.

Auch Corina Elmer von der Frau­en­be­ra­tung sexu­elle Gewalt Zürich bestä­tigt: „Die Betrof­fenen werden mit einem Verfahren konfron­tiert, das sie nicht erwarten. Viele wissen nicht, was alles auf sie zukommt, wenn sie zur Polizei gehen.“

Auf die Bitte nach Stel­lung­nahme zu Anjas Geschichte antwortet die Pres­se­stelle der Staats­an­walt­schaft Basel: „Bestehen Zweifel an Aussagen eines Opfers, so müssen diese, wie bei anderen Delikten, hinter­fragt werden, denn eine mögliche Verur­tei­lung der Täter­schaft ist nur möglich, wenn entspre­chende Beweise bzw. Indi­zien vorliegen.“

Doch die Beweis­füh­rung arbeitet oft mit falschen Vorstel­lungen, sagt Agota Lavoyer von der Fach­stelle Opfer­hilfe in Bern: „Es gibt eine sehr starke Vorstel­lung davon, wie sich ein typi­sches Opfer zu verhalten hat.“ Es komme vor, dass ein Frei­spruch unter anderem mit dem Begriff des „kontrain­tui­tiven Opfer­ver­hal­tens“ begründet wird, was impli­ziere, dass es ein intui­tives Opfer­ver­halten gibt. Also eine Art „Normal­ver­halten“, das von einem Opfer zu erwarten ist.

„Das ist einfach falsch.“ Jedes Opfer sexu­eller Gewalt gehe auf indi­vi­du­elle Art mit dem Trauma um. Studien zeigten ausserdem, dass tatsäch­li­ches Verhalten konträr zu dem stehe, was man gesell­schaft­lich unter typi­schem Opfer­ver­halten versteht: „Häufig über­nachtet das Opfer noch beim Täter, es rennt nicht sofort davon und sucht ihn später mehr­mals wieder auf.“ Wie damals Anja.

Ebenso irri­tie­rend findet Lavoyer die starke Fokus­sie­rung der Gesell­schaft auf das Opfer. „Täter sind in unserer Gesell­schaft immer noch unsichtbar. Sie kommen in fast keiner Diskus­sion vor. Viel lieber wird über das Opfer­ver­halten als über das Täter­ver­halten geredet. Täter kommen nicht mal im Begriff ‚Gewalt gegen Frauen‘ vor“, schrieb sie Mitte Januar in einem öffent­li­chen Face­book-Post. Mädchen und Frauen werde immer noch das Gefühl gegeben, sie müssten sich verän­dern, damit Männer­ge­walt gestoppt werden könne, schreibt sie weiter.

„Um Erfah­rungen wie die von Anja zu verhin­dern, braucht es mehr Schu­lungen für Fach­per­sonen, die mit Opfern arbeiten. Über sexua­li­sierte Gewalt und über den Umgang mit trau­ma­ti­sierten Opfern“, sagt Lavoyer.

Dem stimmen Vertre­te­rinnen von Opfer­hilfen aus anderen Städten zu. Im Kanton Zürich habe es zwar eine obli­ga­to­ri­sche Schu­lung für Staatsanwält*innen gegeben, sagt Corina Elmer. Doch das sei erst der Anfang. Auf dem Land sei dies oft noch nicht der Fall.

Im Kanton Obwalden zum Beispiel verfügt keine*r der Mitar­bei­tenden der Staats­an­walt­schaft über eine Weiter­bil­dung zur Befra­gung von erwach­senen Opfern sexua­li­sierter Gewalt. Man greife dabei auf Spezialist*innen anderer Kantone zurück. Einzig für die Befra­gung von Minder­jäh­rigen, die Gewalt erfahren haben, müssen Mitar­bei­tende einen Weiter­bil­dungs­kurs zum Thema Kinds­be­fra­gung belegen.

Bei den Staats­an­walt­schaften anderer Kantonen, die das Lamm kontak­tiert hat, ist den Medi­en­stellen nicht bekannt, wieviele Personen genau eine Weiter­bil­dung zum Umgang mit Betrof­fenen von sexua­li­sierter Gewalt absol­viert haben. Insge­samt ist die Situa­tion intras­pa­rent und unübersichtlich.

Die Medi­en­be­auf­tragte der Staats­an­walt­schaft Solo­thurn sagt, die Mitar­bei­tenden würden regel­mässig Weiter­bil­dungen besu­chen, teilt jedoch nicht mit, wo diese statt­finden, was ihr genauer Inhalt ist und welche davon obli­ga­to­risch sind. Die Medi­en­ver­tre­terin der Straf­ver­fol­gungs­be­hörde Zug betont, dass die Staats­an­walt­schaft des Kantons Zug „grossen Wert“ darauf lege, „dass solche Einver­nahmen durch erfah­rene Staats­an­wäl­tinnen durch­ge­führt werden, welche in der Regel Sexu­al­de­likte zu ihren Kern­kom­pe­tenzen zählen.“ Und im Kanton Bern sagt der Medi­en­ver­treter, eine obli­ga­to­ri­sche Weiter­bil­dung sei nicht nötig, da die Mitar­bei­tenden weiter­füh­rende Kurse auch frei­willig besu­chen würden.

Einige Staatsanwält*innen besu­chen Weiter­bil­dungs­kurse an der Staats­an­walts­aka­demie, an der Uni Luzern. In den ange­bo­tenen CAS sind Sexu­al­de­likte Teil des Programms. Insge­samt werden dem Modul Sexu­al­de­likte im CAS II fünf Tage gewidmet.

Die Staats­an­wältin und Dozentin an der Staats­an­walts­aka­demie in Luzern Géral­dine Sarah Kipfer sagt: „Die Aufgabe von uns Staats­an­wäl­tinnen ist die Ermitt­lung“, das sei etwas ganz anderes als die Aufgabe etwa von Opfer­be­ra­tungs­stellen. Sie räumt zudem ein: „Ein Staats­an­walt kann die beste Ausbil­dung haben, aber wenn er kein empa­thi­scher Mensch ist, hilft das in der Einver­nahme nichts. Das gilt bei der Ermitt­lung von Delikten immer, nicht nur in der Einver­nahme von Opfern sexua­li­sierter Gewalt.“

Das CAS II, dass das Modul Sexu­al­de­likte beinhaltet, ist für Staatsanwält*innen nicht schweiz­weit obli­ga­to­risch oder Bedin­gung für eine Anstellung.

Am Gericht

Es ist ein regne­ri­scher Tag Anfang Februar und vor dem Straf­ge­richt Basel stehen zwei Dutzend Menschen in Stille. Auf ihren Schil­dern steht: „I believe her“ – Ich glaube ihr. Im Gericht hingegen steht Aussage gegen Aussage, hier gilt: im Zweifel für den Angeklagten.

Anja sitzt vor dem Rich­ter­pult an einem kleinen Tisch. Vor ihr sitzt der Richter, er ist Mitglied der EVP. Hinter Anja sitzen eine Staats­an­wältin, ihre eigene Anwältin und die Vertei­di­gung. Alle notieren genau, was Anja jetzt erzählt. Der Täter sitzt in einem anderen Raum und hört auch mit. Und erneut muss Anja die Ereig­nisse aus dieser Nacht vor einein­halb Jahren beschreiben.

Auch die Gerichts­ver­hand­lung ist schwer für Betrof­fene, sagt Conny Jauslin von der Opfer­hilfe Basel: „Man sitzt dann da nochmal nackt und zieht sich aus“, sagt sie. Und der Täter schaut per Video und oft mit Bild­schirm­über­tra­gung zu. „Je nachdem, wie befragt wird, ein falsches Wort – das kann bei einer trau­ma­ti­sierten Person sofort etwas auslösen. Plötz­lich denkt die Person, man glaube ihr nicht, sie werde ange­schul­digt.“ Das Gesetz wolle nur Beweise und Fakten, sagt Jauslin, es gehe nicht um die Person.

In schmerz­hafter Detail­ge­nau­ig­keit wird anschlies­send über die Tat gespro­chen, werden noch genauere Beschrei­bungen verlangt, wird klein­lich auf sexu­elle Vorlieben der Betei­ligten hinge­wiesen und auf schein­baren Wider­sprü­chen in Verhalten und Erzäh­lung beharrt.

Es geht in der Verhand­lung unter anderem darum, wie „normaler Sex“ auszu­sehen habe. Anja muss den Anwe­senden erklären, dass es sich nicht mehr um Sex, sondern um Verge­wal­ti­gung handelt, sobald eine Person leidet.

Die Vertei­di­gung plädiert auf Frei­spruch. Der Geschlechts­ver­kehr sei einver­nehm­lich gewesen, die beiden hätten es eben gerne etwas „härter“. Die vertei­di­gende Anwältin verweist zudem auf vermeint­liche Wider­sprüche in Anjas Erzäh­lung. Redet vom „normalen Opferverhalten“.

Die Staats­an­walt­schaft ist hingegen über­zeugt von Anjas Erzäh­lungen und dem Plädoyer ihrer Anwältin. Sie plädiert für vier Jahre Haftstrafe.

Ein Tag später verkündet der Richter das Urteil: schuldig. Anjas Erzäh­lungen bezeichnet das Gericht als nach­ge­wiesen. Die Version des Täters hingegen sei nicht glaub­haft. Er wird zu 28 Monaten Haft verur­teilt, 14 davon auf Bewährung.

„Das ist zu wenig“, sagt Anjas Anwältin am Tag nach der Urteils­ver­kün­dung. Sie sei mit dem Urteil unzu­frieden und könne es nicht nach­voll­ziehen. Die Staats­an­walt­schaft hatte vier­ein­halb Jahre gefor­dert. Sie geht in Berufung.

Die Begrün­dung des Gerichts für das milde Straf­mass: Es hätte viel schlimmer sein können. Er hätte sie etwa noch öfter verge­wal­tigen oder einsperren können. Er sei zudem zum ersten Mal in ein Gewalt­de­likt verstrickt.

Dabei wurde gegen ihn schon einmal Anzeige wegen Verge­wal­ti­gung erstattet. Das Verfahren wurde damals einge­stellt. Der Täter sagt vor Gericht selbst, er domi­niere Frauen gerne.

„Schlimm ist für die Betrof­fenen ein Frei­spruch“, sagt Corina Elmer von der Frau­en­be­ra­tung Zürich. „Es geht vielen Opfern haupt­säch­lich darum, dass aner­kannt wird, dass ihnen Unrecht getan wurde. Auf einer symbo­li­schen Eben bedeutet es trotzdem eine erneute Verlet­zung, wenn die ange­schul­digte Person nur eine geringe Strafe bekommt.“

Anja musste 17 Monate auf dieses Urteil warten. Am Tag des Urteils ist sie nicht anwe­send. Sie hat am Tag zuvor all ihre Notizen und Erin­ne­rungs­stützen zum Fall verbrannt.

*Name von der Redak­tion geändert.

Diese Recherche entstand in Zusam­men­ar­beit mit dem Online­ma­gazin Bajour. Dort ist vor zwei Wochen Anjas Geschichte erschienen. Der Text in das Lamm soll die struk­tu­rellen Gründe hinter Anjas Erleb­nissen ausführen.


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