2002 schloss sich im deutschen Brandenburg eine Gruppe von geflüchteten Frauen zusammen und gründete „Women in Exile“. Die Gruppe setzt sich spezifisch für geflüchtete Frauen ein, da diese doppelt diskriminiert werden: Einerseits werden sie als Asylbewerberinnen durch rassistische Gesetze ausgegrenzt, andererseits werden sie als Frauen sexistisch diskriminiert. Im Interview sprechen die zwei „Women in Exile“-Mitglieder Elizabeth Ngari und Madeleine Mawamba.
Das Lamm: Wie ist „Women in Exile“ organisiert?
Elizabeth Ngari: Wir treffen uns jeden ersten Samstag im Monat und tauschen uns aus. Diese Treffen sind offen für geflüchtete Frauen. Da sind jeweils 30 bis 45 Frauen anwesend. Zudem haben wir alle zwei Wochen ein etwas kleineres Treffen für „Women in Exile & Friends“, an dem wir politische Entscheidungen treffen, über Strategien sprechen und Aktionen organisieren. Diese solidarische Gruppe aus Aktivist*innen hat sich 2011 gegründet. So können wir auch Personen ohne Fluchterfahrung, die uns unterstützen wollen, einen Platz geben.
Madeleine Mawamba: Wir versuchen jeweilige Aufgaben so zu verteilen, dass es zu den Skills und Wünschen der Person passt: Gewisse halten gerne Reden an den Demos, andere möchten lieber einen Workshop organisieren.
Worin besteht eure Arbeit?
EN: Unser Fokus liegt damals sowie heute darauf, geflüchtete Frauen in den Lagern zu besuchen. Wir sprechen mit ihnen, geben ihnen Informationen und motivieren sie dazu, unseren Empowerment-Workshop zu besuchen. Wir haben selbst Fluchterfahrung und können uns in diese Frauen reinversetzen. Wir möchten das Lager-System bekämpfen, deshalb auch unser Slogan „Abolish all Lagers!“.
MM: Die Situation in den Lagern ist katastrophal. Nach den Besuchen schreiben wir darum auch regelmässig Berichte über die Zustände und machen Fotos von den Schlafzimmern, der Küche und der Toilette. Anschliessend schicken wir das dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales. Zudem verschicken wir vier Mal pro Jahr einen Newsletter, wo wir Geschichten von geflüchteten Frauen aufschreiben.
Worum geht es im Empowerment-Workshop?
EN: Der Untertitel lautet „Von persönlichen Problemen zu politischer Aktion“. Da können geflüchtete Frauen ihre Probleme äussern und realisieren, dass sie damit nicht allein sind und ihre Erfahrungen nicht nur persönliche sind. Wir überlegen uns dann auch, wie wir die Probleme an die Öffentlichkeit bringen können.
MM: Wir möchten an diesen Treffen gemeinsame Strategien für unsere Kämpfe finden, denn wir kämpfen gegen Rassismus, Diskriminierung und Gewalt. Allein schafft man das nicht.
Gebt ihr auch weitere Workshops?
EN: Ja, wir haben mehrere, zum Beispiel zum Thema Klimawandel als Fluchtgrund, „Stop Deportation“ oder Gesundheit. Zudem organisieren wir auch Demonstrationen oder Bustouren, in denen wir etwas weiter wegfahren, um mit geflüchteten Frauen in Kontakt zu kommen.
Arbeitet ihr alle ehrenamtlich?
EN: Die allermeisten sind Freiwillige; wir haben nur drei bezahlte Stellen. Diese Personen koordinieren die Freiwilligen und übernehmen die Organisation.
Woher kommt das Geld?
EN: Das ist das Schwierigste in „Women in Exile“. Manchmal erhalten wir Geld für ein spezifisches Projekt. 2020 haben wir zum Beispiel eine Broschüre zum Thema Gesundheit zusammengestellt. Ansonsten erhalten wir Spenden und verlangen bei externen Workshops eine Gebühr. Es ist sehr schwierig als Gruppe von geflüchteten Personen Geld zu bekommen. Wenn du Geld vom Staat haben möchtest, darfst du sie nicht kritisieren – aber genau das machen wir ja.
„Women in Exile“ hat kürzlich 20 Jahre gefeiert. Was waren eure Meilensteine?
MM: Wir haben schon Einiges erreicht. Früher bekamen Geflüchtete nur Gutscheine statt Geld, dagegen haben wir uns erfolgreich eingesetzt. Wir haben auch gegen die Residenzpflicht gekämpft, die besagt, dass Asylbewerber*innen sich während des Asylverfahrens nur in einem bestimmten Bereich aufhalten dürfen. Seit 2015 verfällt die Residenzpflicht nach drei Monaten; geflüchtete Personen können sich also endlich frei bewegen.
Ihr habt vorhin eure Gesundheits-Broschüre „Health Care For All Without Discrimination“ erwähnt. Darin nennt ihr die Krankenversicherungskarte; ist diese auch neu?
MM: Genau. Früher durften geflüchtete Personen nicht einfach ins Krankenhaus gehen, sondern mussten sich zuerst im Lager melden und einen „Krankenschein“ beantragen. Wenn du also am Samstagmorgen ein Problem hattest, musstest du teilweise bis Montag warten. Nun erhalten jedoch auch geflüchtete Personen eine elektronische Krankenversicherungskarte, womit sie selbstständig ärztliche Hilfe suchen können.
In der Broschüre steht auch, dass gemäss dem Asylbewerberleistungsgesetz für geflüchtete Personen nur akute Krankheiten oder Notfälle übernommen werden. Ist das auch mit der Krankenversicherungskarte so?
EN: Ja, leider schon. Wenn etwas über einen akuten Schmerz hinausgeht, muss eine geflüchtete Person beim Sozialamt eine Erlaubnis einholen, damit die Behandlung finanziert wird. Das zeigt sich auch visuell: Auf der Karte für geflüchtete Personen sind hinten nicht wie üblich die Kontaktdaten verfasst, sondern es ist einfach mit X’s gefüllt.
Wie funktioniert so ein Antrag ans Sozialamt genau?
EN: Zuerst muss die behandelnde Ärztin bestätigen, dass du diese Behandlung brauchst. Dann schickst du das dem Sozialamt. Sie wiederum entscheiden vielleicht, dich für eine zweite Meinung zu einem ihrer Vertrauensärzte zu schicken. Schlussendlich entscheidet das Sozialamt: Manchmal sagen sie ja, manchmal nein – dann heisst es, die Behandlung sei nicht nötig oder du hättest kein Anrecht darauf.
Kann man gegen den Entscheid ankämpfen?
EN: Man kann Berufung einlegen, aber der Prozess dauert lang und die Bürokratie ist sehr kompliziert. Du musst wissen, wie eine solche Berufung formuliert sein muss und wie du sie einreichst. Manchmal musst du dafür vielleicht sogar eine Anwältin konsultieren. Es kann auch sein, dass du sehr viel Geld ausgibst, weil du für all diese Konsultationen und Termine Zeit brauchst und ÖV-Tickets zahlen musst.
Ihr erwähnt in der Broschüre auch, dass gewisse Frauen im Krankenhaus nicht verstehen, was die Ärzt*innen sagen, weil es keine Übersetzer*innen gibt. Wieso funktioniert das nicht besser?
MM: Weil sie uns diskriminieren. Es ist doch völlig normal, dass mal eine Person ins Krankenhaus kommt, die kein Deutsch spricht und darum eine Übersetzung braucht. Aber bei uns machen sie sich die Mühe nicht. Das heisst, die Frauen verstehen die Ärzt*innen nicht und umgekehrt. Wir werden meistens kaum untersucht und erhalten maximal etwas Paracetamol.
EN: Viele geflüchtete Frauen haben keine Ahnung, dass sie ein Anrecht auf eine Übersetzung hätten. Sie gehen also ins Krankenhaus und bekommen vielleicht einen Arzt, der sich weigert, Englisch zu sprechen und ihnen auch nicht sagt „ich kann dich nicht behandeln, weil du mich nicht verstehst“. Übersetzer*innen würden natürlich wieder Geld kosten, und das versuchen sie zu vermeiden. Es ist ein diskriminierendes System.
Wie kann „Women in Exile“ in so einem Fall helfen?
EN: Wir bemühen uns natürlich darum, eine Freiwillige von „Women in Exile & Friends“ zu finden, welche die geflüchtete Frau begleiten und für sie übersetzen kann. Die meisten unserer Freiwilligen sprechen aber leider nur Deutsch, Englisch und teilweise noch Französisch. Ansonsten versuchen wir die Frauen zu Ärzt*innen zu schicken, mit denen wir schon gute Erfahrungen gemacht haben.
Welche Forderungen habt ihr im Gesundheitsbereich?
EN: Wir fordern eine Gesundheitsvorsorge ohne Diskriminierung! Wir sind genauso Menschen, die krank werden und leiden – wahrscheinlich sogar noch mehr aufgrund unseren Traumas. Ärzt*innen denken aber gar nicht so weit, dass wir gesundheitliche Probleme entwickeln könnten, die auf unseren Traumata oder unserem alltäglichen Stress zurückzuführen sind. Viele geflüchtete Frauen leiden zum Beispiel unter Depressionen oder haben Zysten.
„Women in Exile“ macht sehr viel Aufklärungs- und Öffentlichkeitsarbeit, vor allem aber auch Care-Arbeit für die Community. Wie kümmert ihr euch umeinander?
EN: Wir sprechen viel miteinander und tauschen uns aus, sowohl in den Workshops wie an unseren Sitzungen. Wir sprechen offen über unsere Probleme und versuchen einander gegenseitig zu unterstützen. Wir wissen, dass wir hier wenigstens eine bessere Chance haben als dort, wo wir hergekommen sind. Einige von uns, die schon länger hier sind, haben ein stabiles soziales Netzwerk – das ist sehr wichtig.
In Oktober kommt ihr an die Aktionskonferenz zu Care-Arbeit in Zürich. Worauf freut ihr euch?
EN: Wir freuen uns darauf, neue Personen und Perspektiven kennenzulernen, die wir in unserer Kampagne aufnehmen können. Zudem möchten wir gerne darüber sprechen, dass geflüchtete Frauen oft dazu gedrängt werden, Care-Arbeit zu machen – ob zu Hause oder in der Lohnarbeit. Wir möchten betonen, dass wir auch andere Talente haben und uns nicht immer um alle und alles kümmern müssen. Wer es mag, soll Care-Arbeit machen, aber niemand soll dazu gedrängt werden.
Dieser Text ist zuerst bei der Fabrikzeitung erschienen.
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