Es war knapp. Mit nur fünf Stimmen mehr akzeptierte das Zürcher Kantonsparlament im vergangenen April den „Massnahmenplan gegen Rassismus“. Auch dank Mandy Abou Shoak. Die Zürcherin kämpft seit Jahren gegen rassistische und geschlechterspezifische Gewalt – als Beraterin in Unternehmen und Theatern. Als Verantwortliche für Bildung bei Brava, einer NGO, die sich gegen Gewalt an Frauen engagiert. Und seit Mai 2023 auch als SP-Politikerin im Kantonsrat.
Das Lamm: Mandy Abou Shoak, wann haben Sie zuletzt Gewalt erfahren?
Mandy Abou Shoak: Als Schwarze Politikerin erlebe ich nicht selten Gewalt. Jedoch vor allem online, in Form von Hatespeech oder Erniedrigung. Als wir im April den Massnahmenplan im Kantonsrat durchgebracht hatten, erhielt ich sogar eine Morddrohung.
Was macht das mit Ihnen, wenn Sie solche Nachrichten erhalten?
Es bereitet mir Sorgen, auch wenn ich mittlerweile etwas geübt bin. Als ich das erste Mal mit Rahel El-Maawi in der Öffentlichkeit stand, nachdem wir Schweizer Schulbücher auf Rassismus untersucht hatten, konnten wir von anderen Aktivisten*innen lernen. Sie haben uns empfohlen, dass wir unser E‑Mail-Postfach für eine gewisse Zeit lang fremdbetreuen lassen, damit die Leute es für uns filtern und bei gewaltvollen Inhalten Anzeige erstatten.
Warum glauben Sie, löst die Bekämpfung von Rassismus bei einigen Menschen so viel Hass aus?
Sie fühlen sich in ihrem Selbstverständnis bedroht. Denn während die einen diskriminiert werden, profitieren andere davon. Wen wir also über Diskriminierung sprechen, sprechen wir auch über Privilegien. Menschen, die diese geniessen, sind es gewohnt, dass ihre Perspektiven und Erfahrungen gelten. Je mehr ich mich öffentlich dagegen einsetze, desto eher kommt deshalb die Gegenreaktion.
Das heisst, Sie erleben mehr Rassismus, seit Sie in der Politik sind?
Ich erlebe alles, was ich früher schon erlebt habe. Die öffentliche Präsenz der Politik hat es jedoch verstärkt. Rassifizierte Menschen erleben rassistische Gewalt jedoch in allen Lebensbereichen: in Schulen, in der Darstellung von Schwarzen Personen in den Medien, im öffentlichen Raum, in der Verwaltung, im Sport und oft auch in der Familie. Fast jede*r von uns hat einen Onkel oder eine Tante, die sich am Weihnachtsessen über „Flüchtlinge“ aufregt, statt über die Kriege, die diese Menschen zur Flucht zwingen.
Sie setzen Rassismus mit Gewalt gleich. Können Sie das erklären?
Menschenrechtlich spricht man von verschiedenen Diskriminierungsformen. Dazu gehören Sexismus, Ableismus, Ageismus, Rassismus, Klassismus. In dieser Logik wird Diskriminierung als Gewalt verstanden, weil sie ein Angriff auf die psychisch, physisch, soziale und ökonomische Integrität von Menschen ist und ihnen erhebliches Leid zufügt.
Wie entsteht dieses Leid?
Gewalt verhält sich in einer Pyramide. Die Basis bildet eine Ungleichheit: Sprich eine Gesellschaft, in der weisse Menschen gegenüber nicht-weissen strukturell bevorzugt werden. Diese Hierarchie führt zu Ungleichbehandlungen. Schwarze Menschen werden bewertet, abgewertet und schliesslich auch psychisch oder körperlich angegangen. Wenn sie sich wehren, kostet sie das viel Kraft und Geld, wie der Fall von Mohamed Wa Baile zeigte. Er ging gegen Racial Profiling vor und musste sich erst durch alle gerichtlichen Instanzen kämpfen, bis ihm der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte schliesslich Recht gab.
Gab es in Ihrer eigenen Biografie ein spezifisches Ereignis, das Sie auf Ihren Weg führte?
Zum Beispiel habe ich oft Aussagen von Männern gehört, dass sie schon immer mal mit einer Schwarzen Frau schlafen wollten. In der Fachsprache nennt man das Sexotisierung, eine Kombination aus Sexualisierung und Exotisierung. Als weiblich sozialisierte Person neigt man dann dazu, sich zu schämen und die Schuld auf sich zu nehmen. Für mich war es ein wichtiger Schritt, aktiv aus dieser Rolle herauszutreten und meine Erlebnisse mit anderen Schwarzen Frauen zu teilen.
Was hat sich dadurch geändert?
Ich habe gelernt, dass meine Gewalterfahrungen nicht individuell sind, sondern kollektiv. Sie werden durch Strukturen, Normen und Gesetze produziert. Doch wir sind diesen nicht machtlos ausgeliefert, wir alle können uns dem entgegensetzen.
Sie beraten unter anderem auch Unternehmen, Theater und Vereine zu einer rassismussensiblen Kultur. Worum geht es da?
In Theatern und Organisationen ist das Ziel, Entscheidungsträger*innen bewusst zu machen, dass Ungleichheiten existieren und sie ihre Handlungsspielräume nutzen müssen. Dazu gehört, dass sie benachteiligte Menschen schützen und fördern, aber auch, dass sie Gewalt in den Institutionen verhindern. In Schulen geht es dagegen oft um Schutzkonzepte. Viele haben zwar solche, aber wenn es zu einem Vorfall kommt, greifen sie nicht – weil die Leute zu sehr damit beschäftigt sind, die Vorwürfe abzuweisen.
Im Sinne von: Rassistisch sind immer nur die anderen?
Genau. Ich mache auch oft die Erfahrung, dass es besser ankommt, wenn ich von Diskriminierung spreche. Viele können mit dem Wort Rassismus nicht umgehen, weil es impliziert, dass es jemand extra gemacht hat. Rassismus geschieht jedoch oft unbeabsichtigt.
Wie das?
Wir alle denken in Schubladen und Hierarchien. Nicht, weil wir es wollen, sondern weil die Gesellschaft es uns von klein auf so lehrt. Indem wir immer wieder dieselben Bilder sehen und Geschichten hören, internalisieren wir sie – mich eingeschlossen, als Person, die hier aufgewachsen ist, zur Schule gegangen und Medien konsumiert. Wir müssen deshalb konsequent daran arbeiten, diese Bilder zu verlernen.
Gemäss Zahlen des Bundes gelingt uns das bisher wenig. Allein 2022 wurden schweizweit 1.2 Millionen Menschen rassistisch diskriminiert. Das sind deutlich mehr als vor einigen Jahren.
Ich werte die Zahlen nicht unbedingt als schlechtes Zeichen. Es zeigt, dass das Bewusstsein zumindest insofern steigt, als dass mehr Menschen Rassismus als solchen erkennen und melden. Zahlen machen das Ausmass eines Problems sichtbar. Damit können wir den Druck in der Politik erhöhen.
Die Statistik zeigt auch, dass vor allem junge Menschen von Rassismus betroffen sind. Wie erklärt sich das, wenn man doch davon ausgehen kann, dass jüngere Generationen eher sensibilisiert sind?
Schulen sind Orte, die alle besuchen. Jugendliche kommen deshalb mit sehr vielen unterschiedlichen Menschen in Kontakt und erhalten Einblick in verschiedene Lebensrealitäten. Umso unterschiedlicher wir sind, desto höher das Konfliktpotenzial.
Das müssen Sie erklären.
Der deutsche Professor Aladin El-Mafaalani nutzt dafür das Bild einer Tafel, an der die Leute essen. Die erste Generation der Türk*innen, die damals in den 60ern als Arbeitsmigrant*innen nach Deutschland geholt wurden, sass noch am Boden und ernährte sich von den Krümeln der Deutschen am Tisch. Mit jeder Generation rückte man näher an den Tisch. Heute sitzt man mit am Tisch und will mitbestimmen können, was es zu essen gibt. Die grosse Herausforderung unserer Zeit ist deshalb, wie es uns gelingt, trotz unterschiedlicher Ausgangslagen und Erfahrungen, friedvoll am Tisch zu sitzen und gemeinsam zu essen.
Wie schaffen wir das?
Wir müssen unsere Diversitätskompetenzen stärken. Also lernen auszuhalten, dass Menschen unterschiedlich sind, andere Erfahrungen mitbringen und andere Bedürfnisse haben.
Und wie erreichen wir einen friedvollen Umgang?
Es braucht politische Massnahmen, die Konflikte verhindern, lösen und langfristig Frieden gewährleisten. Dazu müssen wir alle einen Beitrag leisten. Das kann sein, indem wir uns politisch engagieren oder Menschen in unserem Umfeld unterstützen und uns solidarisch zeigen. Gleichzeitig müssen wir auch von cis Männern und anderen privilegierten Menschen einfordern, dass sie nicht nur für sich selbst schauen, sondern Verantwortung übernehmen und zum Zusammenhalt der Gesellschaft beitragen.
Wenn wir schon bei der Politik sind: Als Sie für den Zürcher Kantonsrat kandidiert haben, sagten Sie, es brauche dort mindestens eine Schwarze Person. Warum?
You can be, what you see. Das heisst, wenn wir nie eine Schwarze Ärztin gesehen haben oder eine muslimische Berufsfeministin, dann existiert diese Möglichkeit auch nicht in unseren Köpfen. Deshalb würde ich mir wünschen, dass mehr FLINTAs (Frauen, Lesben, inter, trans und agender Personen), mehr Menschen mit Behinderung und mehr junge Menschen in die Politik kommen.
Ein wichtiger Ansatz Ihrer Politik ist Intersektionalität. Was bedeutet das?
Intersektional heisst: Ich bin nicht nur Schwarz, ich bin auch eine Frau und eine Muslimin. Zudem ist der Kontext zentral. Als Schwarze Frau spielt es eine Rolle, ob ich mich nur unter weissen Frauen oder Schwarzen Personen aufhalte, ob ich dort doziere oder Teilnehmerin bin. All das beeinflusst, wie ich wahrgenommen werde und welche Erfahrungen ich mache. So erleben etwa Schwarze Männer Rassismus eher in Form von Racial Profiling, während Schwarze Frauen öfters sexualisiert werden.
Neben Rassismus beschäftigen Sie sich auch intensiv mit sexualisierter Gewalt. Agota Lavoyer schreibt in ihrem Buch „Jede Frau“, dass es nicht die Frage sei, ob eine Frau irgendwann sexuell belästigt werde, sondern bloss wann, wo und von wem. Teilen Sie diese Einschätzung?
Auf jeden Fall. Und was Agota Lavoyer auch sagt: Wir alle kennen Opfer von sexualisierter Gewalt, aber niemand kennt die Täter. Wo also sind all die Täter und warum kennen wir sie nicht?
Was sagen Sie?
Wir alle sind potenzielle Täter*innen. Denn jede*r von uns erlebt Situationen, in denen man mehr Macht hat und potenziell Gewalt ausüben könnte, und andere, in denen man ohnmächtig ist und Gefahr läuft, Opfer zu werden. Natürlich spielt die Hierarchie der Geschlechter eine Rolle: In Paarbeziehungen sind gemäss polizeilicher Kriminalstatistik 90 Prozent der Tatpersonen männlich.
Es geht jedoch nicht darum, mit dem Finger auf Einzelpersonen zu zeigen. Vielmehr müssen wir strukturelle Ungleichheiten sichtbar machen und gleichzeitig bei uns selbst ansetzen. Das gilt übrigens auch für Rassismus: Wir müssen uns immer fragen, welche Position wir gerade einnehmen, ob wir verantwortungsvoll handeln und wenn nicht, wie wir es besser machen.
Bei sexualisierter Gewalt wird häufig kritisiert, dass Täter eben zu wenig zur Rechenschaft gezogen werden.
Das ist richtig. Ein grosses Problem ist nach wie vor Victim Blaming. Man fragt also viel eher, was die Frau getragen hat oder weshalb sie sich nicht gewehrt hat, anstatt den Täter zur Verantwortung zu ziehen.
Wie lässt sich das ändern?
Als Kantonsrätin und Sicherheitspolitikerin bin ich aktuell damit beschäftigt, dass das Sexualstrafrecht im Kanton Zürich konsequenter umgesetzt wird. Dazu nehmen wir vermehrt auch Gerichte, Staatsanwaltschaft und Polizei in die Verantwortung, damit es in Befragungen zum Beispiel eben nicht mehr zu Victim Blaming kommt. Denn die Schweiz ist gemäss der Istanbul Konvention dazu verpflichtet, Präventionsmassnahmen zu treffen, um sexualisierte wie häusliche Gewalt zu verhindern und den Schutz von Frauen und Kinder zu gewährleisten. Gleichzeitig sollen Betroffene geschützt und unterstützt und die Straftäter verfolgt und verurteilt werden.
Das Schweizer Justizsystem setzt jedoch stark auf Widereingliederung von Straftätern. Ist das nicht ein Widerspruch zur Strafe?
Nein, es braucht eben beides. Aber vor allem braucht es mehr Prävention, damit Täter gar nicht erst zu Täter werden.
Wie gelingt das?
Im Kanton Zürich setzt man zum Beispiel im Strafvollzug auf Täterarbeit, um zu verhindern, dass sie später rückfällig werden. Das Männerbüro bietet zudem Beratungen für Männer, die Angst haben Täter zu werden. Über die SP Frauen Schweiz versuchen wir derzeit diese Angebote auf andere Kantone auszuweiten. Uns ist jedoch wichtig, dass dies nicht zulasten des Opferschutzes geschieht. Denn uns fehlen auch unglaublich viele Plätze in Frauenhäusern. Wir fordern in den Kantonen dasselbe Engagement zur Rettung von Frauen und Queers wie für die Rettung der Banken.
Glauben Sie an eine Gesellschaft ohne Gewalt?
Ich komme aus einem Land, dem Sudan, wo derzeit eine der grössten humanitären Krise herrscht. Verglichen mit dem, stehen wir in der Schweiz nicht so schlecht da. Trotzdem sterben auch hier nach wie vor Menschen durch rassistische Gewalt. Alle zwei Wochen wird zudem eine Frau von ihrem Partner oder Expartner ermordet, weil sie eine Frau ist. Ich glaube deshalb nicht, dass wir jemals in einer Gesellschaft leben, wo es keine Gewalt mehr gibt. Trotzdem müssen wir alle unser Bestes geben, damit wir in einer friedvolleren Welt leben können.
Heute startet die Aktion „16 Tage gegen Gewalt an Frauen“. Schweizweit finden Veranstaltungen wie Podien, Theaterstücke oder Workshops statt, um auf Gewalt aufmerksam zu machen und Auswege zu zeigen. Hinter der Aktion stecken Organisationen wie Brava, Beratungs- und Fachstellen, Kirchgemeinden, Einzelpersonen und viele weitere.
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