„Erdogan strebt einen hete­ro­pa­tri­ar­chalen Putsch an.“

Der türki­sche Präsi­dent Erdogan gab am 19. März den Austritt seines Landes aus der Istanbul Konven­tion zum Schutz von Frauen und Kindern vor Gewalt bekannt. Ein Gespräch mit der türki­schen Femi­ni­stin Meral Cinar über Politik, Patri­ar­chat und die Rolle Europas. 
"Für viele Männer ist der Austritt nun in gewisser Weise auch eine Bestätigung ihrer Übermacht innerhalb der Gesellschaft." Die türkische Feministin Meral Çinar in Zürich. (c) Kira Kynd.

Das Lamm: Erdogan verkün­dete vor wenigen Tagen, dass die Türkei aus der Istanbul-Konven­tion („Über­ein­kommen des Euro­pa­rats zur Verhü­tung und Bekämp­fung von Gewalt gegen Frauen und häus­li­cher Gewalt“) austritt. Welche poli­ti­schen Ziele verfolgt Erdogan damit?

Meral Çinar: In Erdo­gans Politik sind Frauen keine selbst­stän­digen Subjekte, sie existieren nur inner­halb der Kern­fa­milie als Ehefrauen oder Mütter. Gewalt gegen Frauen gibt es gemäss dieser Ausle­gung nicht, nur Gewalt inner­halb der Familie, welche wiederum Privat­sache ist und nicht Sache des Staates.

Erdogan versucht schon länger, Frauen inner­halb der Gesell­schaft unsichtbar zu machen und ihnen ein selbst­be­stimmtes Leben zu verunmöglichen.

Was wären Beispiele hierfür?

Als unver­hei­ra­tete Frau eine Abtrei­bung inner­halb der staat­li­chen Insti­tu­tionen zu erhalten, ist prak­tisch unmög­lich. Im Bereich des Schei­dungs­rechts hat Erdogan eine Media­ti­ons­gruppe geschaffen mit dem Ziel, dass weniger geschieden und mehr geschlichtet werden soll, was wiederum die Schei­dungs­mög­lich­keit gerade für Frauen erschwert. In seinen Reden spricht er immer wieder von drei Kindern pro Frau als Mini­mal­an­for­de­rung und das Frauen- und Fami­li­en­mi­ni­ste­rium liess er zum Fami­li­en­mi­ni­ste­rium umbe­nennen. Der Austritt aus der Istanbul-Konven­tion war entspre­chend leider absehbar.

Erdo­gans Spre­cher begrün­dete den Austritt damit, dass die Istanbul-Konven­tion miss­braucht worden sei, um Homo­se­xua­lität zu norma­li­sieren. Ein Vorwand?

Eigent­lich gibt es hier keinen Zusam­men­hang, denn in der Istanbul-Konven­tion steht ledig­lich, dass Menschen jeder sexu­ellen Orien­tie­rung vor Gewalt zu schützen seien. Die türki­sche Gesell­schaft ist in Teilen stark homo­phob, und da Erdogan nicht hinstehen und sagen kann, er wolle keine Frauen mehr schützen, zielt er eben auf die LGBTQI-Gemein­schaft. Diese ist in den letzten Jahren zuneh­mend erstarkt und lauter geworden, was unter anderem dazu geführt hatte, dass Erdogan 2015 die Pride in Istanbul verbieten liess. Auch bei den aktu­ellen Aufständen an der Bosporus-Univer­sität wurden Menschen verhaftet, weil sie Regen­bo­gen­fahnen trugen.

Obwohl die Konven­tion also im Kern nichts damit zu tun hat, verkauft Erdogan seinen Anhänger:innen die Sicht­weise, dass mit einem Austritt aus der Konven­tion diesem queeren Treiben ein Ende gesetzt werden könnte.

Nicht nur die Selbst­be­stim­mungs­be­stre­bungen von Frauen sind Erdogan also ein Dorn im Auge?

Erdogan strebt etwas an, was wir Aktivist:innen als hete­ro­pa­tri­ar­chalen Putsch bezeichnen. Ihm geht es darum, sowohl LGBTQI-Personen als auch Frauen zu entrechten. Seit die AKP an der Macht ist, setzt die Partei auf die Wich­tig­keit der Kern­fa­milie für die Nation. Diese Kern­fa­milie besteht gemäss Erdogan und seinen Leuten nun mal aus Mann, Frau und Kindern.

Meral Çinar floh vor fünf Jahren aus poli­ti­schen Gründen aus der Türkei, wo mehrere poli­tisch moti­vierte Prozesse aufgrund ihrer jour­na­li­sti­schen Tätig­keiten und poli­ti­schen Akti­vi­täten gegen sie laufen. In der Schweiz setzt sich Meral Çinar für die Rechte Geflüch­teter und migran­ti­scher Frauen ein und enga­giert sich feministisch.

Wieso ist Erdogan der Konven­tion denn über­haupt beigetreten?

Erdogan schielt ja schon länger auf einen EU-Beitritt der Türkei und bemühte sich eine Zeit lang entspre­chend darum, nach aussen das Bild eines demo­kra­ti­schen Staates abzu­geben. Der Beitritt zur Istanbul-Konven­tion 2011 kann in diesem Kontext gelesen werden. Auf der anderen Seite war der Beitritt auch eine Errun­gen­schaft der femi­ni­sti­schen Bewe­gung in der Türkei. Im Vorfeld war der Druck von dieser Seite so stark gewachsen, dass sich die Regie­rung nicht um einen Beitritt foutieren konnte.

Warum hat Erdogan die Konven­tion denn gerade jetzt aufge­kün­digt? Es scheinen ja klar wider­sprüch­liche Inter­essen von Innen- und Aussen­po­litik auf dem Spiel zu stehen.

Damals wurde der Beitritt zur Konven­tion vom Parla­ment beschlossen, was der normale Weg für inter­na­tio­nale Abkommen wäre. Jetzt hat Erdogan die Konven­tion als Präsi­dent unila­teral und verfas­sungs­widrig aufge­kün­digt. Die Unter­zeich­nung der Konven­tion fällt in die Zeit der Gezi-Proteste, als die femi­ni­sti­sche und linke Bewe­gung als solche gerade im Aufwind war. Der Beitritt kam vor dem Hinter­grund der schwel­lenden Proteste einer Befrie­dung von Prote­stie­renden gegen innen und der EU gegen aussen nahe. Aber der EU-Beitritt ist mitt­ler­weile vom Tisch.

Fast zeit­gleich mit dem Austritt leitete Erdogan auch ein Verbots­ver­fahren gegen die pro-kurdi­sche HDP ein. Ein Zufall?

Wohl kaum. Die pro-kurdi­sche und die Frau­en­be­we­gung sind die beiden stärk­sten oppo­si­tio­nellen Bewe­gungen im Land. Erdogan greift also dort an, wo er eine Bedro­hung für seine Macht­sicherung sieht.

Es gab bereits vor Erdo­gans Austritt viel Gewalt an Frauen und zahl­reiche Femi­zide in der Türkei, Frau­en­häuser etwa sind rar. Was bedeutet die Aufkün­di­gung nun ganz konkret für die Frauen im Land?

Ich bin über­zeugt, dass die Gewalt an Frauen noch weiter zunehmen wird. In den ersten zwölf Stunden nach Erdo­gans Austritts­er­klä­rung wurden sechs Frauen ermordet. Eine öffent­liche Abwer­tung der Konven­tion und somit des Frau­en­schutzes gibt den Tätern ja auch eine gewisse Legi­ti­ma­tion. Natür­lich sind das Männer, die wohl vorher nie wirk­lich etwas von der Istanbul-Konven­tion gehört hatten. Aber bereits die Ankün­di­gung des geplanten Austritts ging dermassen viral, dass das Thema plötz­lich auf den Strassen disku­tiert wurde. Für viele Männer ist der Austritt nun in gewisser Weise auch eine Bestä­ti­gung ihrer Über­macht inner­halb der Gesellschaft.

Wie steht es momentan um die Frau­en­be­we­gung in der Türkei?

Seit dem Bekannt­werden von Erdo­gans Plänen gibt es jedes Wochen­ende im ganzen Land Demon­stra­tionen. Unter der Woche gehen die Femi­ni­stinnen in die Wohn­quar­tiere und infor­mieren andere Frauen über die Bedeu­tung der Konven­tion und versu­chen für den Wider­stand zu mobi­li­sieren. Dabei werden die Frauen von der LGBTQI-Bewe­gung unter­stützt. Die beiden Bewe­gungen sind seit Jahren eng mitein­ander verflochten und agieren gemeinsam. Auch Männer soli­da­ri­sieren sich. Viele sehen die Aufkün­di­gung nicht nur als Angriff gegen die Frauen, sondern als Angriff auf die libe­rale Demo­kratie per se.

Zahl­reiche euro­päi­sche Staatschef:innen empörten sich öffent­lich über Erdo­gans Ankün­di­gung, viel mehr ist bisher nicht passiert. Hat Europa nach dem Flücht­lings­ab­kommen mit Erdogan denn über­haupt noch einen Hebel gegen die Türkei?

Symbo­lisch wird noch vieles verur­teilt, was in der Türkei passiert. Für Erdogan sind das aber nur Worte, die er entspre­chend wenig ernst nimmt. Die EU handelt im Endef­fekt anhand ihrer eigenen poli­ti­schen Inter­essen, und die Türkei hat mit dem Flücht­lings­ab­kommen nun mal etwas gegen die EU in der Hand.

Ganz ehrlich, ich habe wenig Erwar­tungen an die EU. An die Schweiz übri­gens auch nicht. Auch hier wurde die Istanbul-Konven­tion 2018 rati­fi­ziert und was passiert? Zehn Frauen versam­meln sich auf dem Helve­ti­a­platz, um gegen Femi­zide zu prote­stieren und sie werden von der Polizei ange­gangen. Das ist ja kaum eine Vorbild­funk­tion, wie soll man da denn andere glaub­würdig verurteilen?

Das sind düstere Aussichten.

Wenn sich etwas verän­dern soll, dann muss das inner­halb der Türkei passieren, von innen heraus. Die Gesell­schaft muss sich wandeln und erkennen, dass es Alter­na­tiven zu Erdogan und zu seiner auto­kra­ti­schen, rück­wärts­ge­wandten Politik gibt. Es braucht ein Zusam­men­kommen wie damals bei den Gezi-Prote­sten 2013, eine starke Oppo­si­tion mit einem klein­sten gemein­samen Nenner. Ich bin über­zeugt, dass die Frauen und die LGBTQI-Bewe­gung diesen Wandel voran­treiben und tragen werden.

Das Gespräch gedol­metscht hat Çağdaş Akkaya


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