500 Jahre Leid und Wider­stand in Mexiko

Nach einer 50-tägigen Schiffs­reise ist Mitte Juni in Spanien eine sieben­köp­fige Dele­ga­tion von Zapa­ti­stas aus Mexiko einge­troffen, von wo aus sie nun bis in die Schweiz gelangten. Vergan­genen Donnerstag bis Sonntag fanden auf dem für den Anlass besetzten Gelände unter der Drei­rosen-Brücke in Basel Akti­ons­tage rund um die Ankunft der revo­lu­tio­nären Grup­pie­rung aus den auto­nomen Gebieten von Chiapas statt. 
Die Delegation der zapatistischen Schwadron 421 auf einer Bühne in Basel. (Foto: Gira Zapatista Basel)

Die Zuschauer:innen im Zelt verstummen, als die sieben Dele­gierten der zapa­ti­sti­schen Schwa­dron 421 (Escua­drón 421) vorne Platz nehmen. Das Ereignis ist geschichts­trächtig, denn vor genau 500 Jahren begann die blutige Unter­jo­chung der ursprüng­li­chen Hoch­kul­turen Mexikos unter Hernán Cortés. Dies nahm die revo­lu­tio­näre Grup­pie­rung zum Anlass, den Spiess umzu­drehen und ihrer­seits in einem symbo­li­schen Feldzug Europa zu „erobern“.

Doch statt Feuer­waffen und christ­li­cher Kreuze, wie sie die Spanier:innen mit sich führten, bringen die Zapa­ti­stas offene Ohren und Erfah­rungs­be­richte aus ihrem eigenen Kampf um Auto­nomie in Mexiko nach Europa. Sie seien nicht gekommen, um Lösungen zu präsen­tieren, sondern um Genoss:innen im Kampf gegen den Kapi­ta­lismus und für ein würde­volles Leben zu finden, so die Mitglieder der Zapa­ti­sti­schen Armee der Natio­nalen Befreiung EZLN in Basel.

Daher nennen sie ihre Über­fahrt nach Europa „die Reise für das Leben“. Auf dem Weg soli­da­ri­sieren sie sich in Montreuil mit der Sans-Papiers-Bewe­gung, nehmen im besetzten Gelände ZAD (zone à défendre) bei Nantes an einem Treffen von Frauen und trans, inter und nicht-binären Personen teil und tauschen sich in Basel mit Aktivist:innen aus Kurdi­stan und Sri Lanka aus.

Die Anfänge

Die Zapa­ti­stas auf dem Basler Camp beginnen mit einem Vortrag über das Leid ihrer Ahnen, das sie zu ihrem Wider­stand ange­trieben habe. Sie berichten davon, wie ihre Gross­el­tern und Eltern auf dem Feld und im Haus der Grossgrundbesitzer:innen ohne gere­gelte Arbeits­zeiten schuf­teten. Wenn die Arbeit eines Mannes oder Kindes die Vorge­setzten nicht zufrie­den­stellte, wurden sie mit einem Stier­penis ausge­peitscht. Die Frauen wurden zur Strafe vor den Augen ihrer Ehemänner, die man in einem Netz aufge­hängt hatte, verge­wal­tigt. Wenn ein junger Mann heiraten wollte, hatten Grossgrundbesitzer:innen das Recht, die Verlobte davor über Wochen zu verge­wal­tigen. Wenn jemand krank wurde, gab es kaum medi­zi­ni­sche Versorgung.

„Die Tiere haben sie besser behan­delt als uns“, bemerkt eine Zapa­ti­stin. Trauer und Wut über diese Untaten stehen ihr ins Gesicht geschrieben. Unter den Zuschauer:innen herrscht betrof­fenes Schweigen.

1983 schlossen sich fünf Männer und eine Frau aus verschie­denen Regionen Mexikos im lakan­do­ni­schen Regen­wald zusammen, um eine Guerilla aufzu­bauen. Die Region zählt zu den margi­na­li­sier­te­sten des Landes und hat den höch­sten Anteil indi­gener Bewoh­nender, die haupt­säch­lich als Kleinbäuer:innen tätig sind. 

Die Aktivist:innen in Basel berichten, wie die ersten Zapa­ti­stas als Lehr­per­sonen oder Ölbohr-Personal getarnt in den Dörfern vertrau­ens­wür­dige Personen rekru­tierten. In nächt­li­chen Geheim­ak­tionen wurden Nahrungs­mittel in die Berge getragen, um die dort versteckten Widerstandskämpfer:innen während ihrer mili­tä­ri­schen Ausbil­dung zu versorgen. So wurde die Orga­ni­sa­tion über ein Jahr­zehnt hinweg im Geheimen aufgebaut.

Als Abtrün­nige schliess­lich die Regie­rung über die geheimen Akti­vi­täten infor­mierte und das EZLN (Ejército Zapa­tista de Libe­r­ación Nacional) bedrohten, orga­ni­sierten die Zapa­ti­stas im Januar 1994 den bis heute bekannten bewaff­neten Aufstand im Bundes­staat Chiapas. Nicht zufällig fand er am selben Tag statt, an dem das Nord­ame­ri­ka­ni­sche Frei­han­dels­ab­kommen NAFTA zwischen Mexiko, den USA und Kanada in Kraft trat. 

Zwei Jahre zuvor hatte man zu dessen Vorbe­rei­tung in Mexiko einen Verfas­sungs­ar­tikel abge­schafft, sodass der Agrar­sektor keine staat­liche Hilfe mehr erhielt und kommu­nales Land priva­ti­siert wurde, was die Lebens­grund­lage vieler Kleinbäuer:innen akut bedrohte.

Nach zwei­jäh­rigen Verhand­lungen zwischen dem EZLN und der mexi­ka­ni­schen Regie­rung wurden im Abkommen von San Andrés 1996 Rechte der indi­genen Bevöl­ke­rung fest­ge­halten. Die mangel­hafte Umset­zung des Abkom­mens kriti­sieren die Zapa­ti­stas jedoch bis heute. Mit ihrem Kampf sehen sie sich in einer langen Tradi­tion, die mit dem Wider­stand gegen Cortés begann: „Wir blicken nicht nur auf 500 Jahre Unter­drückung und Leid zurück, sondern auch auf 500 Jahre Wider­stand. Denn der Wider­stand war immer präsent und er ist es bis heute“, resü­miert ein Zapatist.

Das zapa­ti­sti­sche Selbstverständnis

In mehreren Kommu­ni­qués betont das EZLN, dass es sich als hete­ro­gene Grup­pie­rung versteht. Dies zeigt sich im Escua­drón 421 an der Geschlech­ter­durch­mi­schung genauso wie an den Alters­un­ter­schieden der Mitglieder, die zwischen 19 und 57 Jahren alt sind, und den verhan­delten Diskursen. Die Schwa­dron setzt sich zusammen aus vier Frauen, die in indi­genen Trachten auftreten, zwei Männern in Jeans und T‑Shirts und einer extra­va­gant geklei­deten, geschminkten otroa, was laut Kommu­niqué eine Sammel­be­zeich­nung der Zapa­ti­stas für alle Gender ist, die „weder Frau noch Mann sind“.

Alle stammen ursprüng­lich von der präko­lum­bi­schen Ethnie der Maya ab. Durch die unter­schied­liche regio­nale Herkunft spre­chen sie Tzotzil, Tzeltal, Cho’ol oder Tojo­labal, weshalb sie unter­ein­ander auf Spanisch kommu­ni­zieren. Ihre Kämpfe beschreiben sie als divers: Natur­schutz würden sie etwa betreiben, indem sie gänz­lich auf den Einsatz von Chemi­ka­lien verzichten; Frau­en­rechte sind im revo­lu­tio­nären Frau­en­ge­setz (ley revo­lu­cio­naria de las mujeres) fest­ge­halten und öffent­liche Ämter unter­liegen einer Frau­en­quote von 50 Prozent; Drogen­konsum ist gänz­lich verboten und bedeutet den Ausschluss aus der Gemein­schaft. Insbe­son­dere die Fort­schritte der zapa­ti­sti­schen Frau­en­be­we­gung beju­belt das Camp-Publikum lautstark.

Trotz aller Hete­ro­ge­nität sind die Revolutionär:innen durch einige fest­ge­schrie­benen Grund­sätze vereint. Einer davon fordert die Gleich­be­rech­ti­gung aller Mitglieder. Symbo­lisch kam dies an den Basler Akti­ons­tagen dadurch zum Ausdruck, dass alle Genoss:innen über die gleiche Rede­zeit verfügten. Der basis­de­mo­kra­ti­sche Gedanke zeigt sich darin, dass öffent­liche Personen nur eine reprä­sen­ta­tive Funk­tion einnehmen können, die von der Mehr­heit der Bevöl­ke­rung inhalt­lich legi­ti­miert werden muss. So äusserte sich die zapa­ti­sti­sche Dele­ga­tion in Europa erst­mals in Basel öffent­lich, weil sie vorher nicht von ihrer Gemein­schaft dazu auto­ri­siert war. Auch der Inhalt der Reden war von der Gemein­schaft vorbestimmt. 

Für die Zapa­ti­stas ausserdem von grosser Bedeu­tung ist der Erhalt von Kultur, indi­genen Spra­chen, Kunst­hand­werk und Tradi­tionen. Orga­ni­siert sind sie in Räte­struk­turen und Kollek­tiven, wobei jegliche Einnahmen für die Gemein­schaft und in Absprache mit der Bevöl­ke­rung einge­setzt werden. In ihren auto­nomen Regionen verfügen sie mitt­ler­weile über ein eigenes Bildungs- und Gesundheitssystem.

Aktu­elle Problematiken

„Der Klas­sen­kampf, der Wider­stand gegen Gross­kon­zerne, der Kampf um die Aner­ken­nung und Gleich­be­rech­ti­gung sowie das Recht auf Land“ seien Themen, welche den diversen Akti­vismus indi­gener Gruppen in Latein­ame­rika verbinden, so eine Koor­di­na­torin des Camps in Basel. Aktuell wider­setzen sich beispiels­weise verschie­denste indi­gene Orga­ni­sa­tionen, darunter auch das EZLN, einem Schie­nen­bau­pro­jekt des mexi­ka­ni­schen Präsi­denten López Obrador, das ihre Gebiete durch­kreuzt und die Natur zerstört. Eine Genossin des Escua­drón 421 kriti­sierte auch, dass der durch die Bildungs­di­rek­tion fest­ge­legte, über ein Jahr dauernde Fern­un­ter­richt in Mexiko während der Pandemie grosse Teile indi­gener Bevöl­ke­rungs­schichten voll­ständig von der Bildung ausge­schlossen habe.

Die kriti­sche Selbst­re­fle­xion, die eben­falls zu den Grund­sätzen der Zapa­ti­stas gehört, wird in den Reden in Basel mehr­fach deut­lich. So verur­teilen sie Dieb­stahl und Korrup­tion in den eigenen Reihen und benennen gesell­schafts­po­li­ti­sche Probleme. Zum Beispiel, dass manche Frauen nach der Heirat ihre Ämter aufgeben, um einem patri­ar­chalen Rollen­bild gerecht zu werden. 

Ein externes Problem seien Schlepper, welche die auto­nome Region dazu nutzen, Papier­lose für viel Geld durch Mexiko zu schleusen. Ebenso sind die Zapa­ti­stas von gewalt­samen Land­räu­mungen und Vertrei­bungen, von Angriffen des Para­mi­li­tärs sowie Entfüh­rungen und Mord­an­schlägen der Orga­ni­sierten Krimi­na­lität in Mexiko betroffen. Die Euro­pa­reise widmen sie daher den verschwun­denen und ermor­deten Menschen und deren Angehörigen.

Inter­na­tio­nale Zusammenarbeit

Die Zapa­ti­stas finan­zieren sich teil­weise durch den Verkauf von Kunst­hand­werk oder Kaffee. In der Schweiz hat mitt­ler­weile der biolo­gi­sche Kaffee RebelDía grosse Bekannt­heit erlangt. Er wird von Zapa­ti­stas produ­ziert, die für ihre Arbeit fair entlohnt werden. Auch am Camp loben die Rebell:innen die inter­na­tio­nale Zusam­men­ar­beit. Das Problem sei nur, dass manchmal Gelder für einen vorbe­stimmten Zweck gespendet würden, ohne dass man sie gefragt habe, wofür sie eigent­lich Unter­stüt­zung bräuchten. Im Akti­ons­zelt in Basel werden daraufhin neue Ideen für soli­da­ri­sche Projekte diskutiert.

Neben den sieben Schiffs­rei­senden hätte gleich­zeitig eine Dele­ga­tion von 177 zapa­ti­sti­schen Widerstandskämpfer:innen mit dem Flug­zeug einreisen sollen. Ihnen wurden jedoch, so der zapa­ti­sti­sche Koor­di­nator der Euro­pa­reise Insur­gente Moisés, von unter­schied­li­chen Ämtern Steine in den Weg gelegt. Etwa wurden 62 Reise­pässe nicht ausge­stellt, obwohl die Indi­vi­duen ihre Iden­tität und Herkunft belegt hätten. Die gemein­nüt­zige Orga­ni­sa­tion aus der Schweiz Direkte Soli­da­rität mit Chiapas berichtet zudem, dass die Covid-Zerti­fi­kate der Zapa­ti­stas von Frank­reich nicht aner­kannt wurden. 

Im jüng­sten Kommu­niqué bestä­tigt der Subkom­man­dant Insur­gente Moisés, dass die besagte Flotte am 13. September in zwei Gruppen nach Wien fliegen wird. Dort würden sie sich in 28 kleine Gruppen unter­teilen, um „simultan 28 euro­päi­sche Stand­orte abdecken zu können“. Einge­laden sind sie von 30 Ländern.

Die zapa­ti­sti­sche Flug­de­le­ga­tion nennt sich nach dem Stempel in ihren Reise­pässen „extem­po­ránea“. Es handelt sich dabei um eine Fremd­be­zeich­nung durch den mexi­ka­ni­schen Staat, die mit „Unzeit­ge­mässe“ über­setzt werden kann. Im Kommu­niqué kommen­tiert Insur­gente Moisés sarka­stisch, sie seien glück­lich, dass die Regie­rung endlich eine Bezeich­nung für die indi­gene Bevöl­ke­rung gefunden habe. Die Bitte des mexi­ka­ni­schen Präsi­denten López Obrador an Spanien von 2019, sich für die Verbre­chen der Conquista zu entschul­digen, sei in Wahr­heit die Entschul­di­gung dafür, sie nicht voll­ständig ausge­löscht zu haben.

Die Rede der Zapa­ti­stas in Basel schliesst mit einer spon­tanen Son-Jarocho-Einlage des Kollek­tivs Barfuss, in der sie die Vorbild­funk­tion der Zapa­ti­stas besingen. Trotz spür­barer Betrof­fen­heit durch die eindrück­li­chen Berichte der Dele­ga­tion macht sich unter den Besucher:innen fest­liche Aufbruch­stim­mung breit, ganz im Sinne der zapa­ti­sti­schen Parole „otro mundo es posible“ – eine andere Welt ist möglich.

Eine Koor­di­na­torin des Camps hält fest: „Ich denke, ein zentrales Ziel der Zapa­ti­stas ist, uns wach­zu­rüt­teln und uns unter­ein­ander zu vernetzen. Es geht nicht darum, ihre Struk­turen zu über­nehmen, sondern uns kritisch zu hinter­fragen, welchen Kampf wir in unserem persön­li­chen Umfeld führen, auf welche Art und Weise wir dies tun und welche Möglich­keiten uns offen­stehen. Für mich persön­lich gespro­chen habe ich durch die Mitor­ga­ni­sa­tion des Camps viele Internationalist:innen unter­schied­li­cher Wider­stands­kämpfe in verschie­denen Regionen kennen­ge­lernt. Ich bin nun vernetzter und möchte diese Verbin­dungen in Zukunft fruchtbar machen.“


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