Februar 2020, ein durchregneter Samstagnachmittag. Die Zürcher Gemeinderäte Ezgi Akyol und Walter Angst von der Alternativen Liste haben das Lamm zu einem Besuch im Durchgangszentrum Sonnenbühl eingeladen. Mehrere Bewohner*innen möchten über die, laut ihnen, „unhaltbaren hygienischen Zustände“ erzählen. Das Durchgangszentrum liegt auf einem Hügel in der Gemeinde Oberembrach, Betreiberin ist die Asylorganisation Zürich (AOZ). Abgeschnitten von jeglichem öffentlichen Verkehr leben hier etwa 150 Personen. Alle paar Stunden fährt ein Shuttlebus für vier Franken nach Winterthur. Der letzte Bus fährt um 19 Uhr wieder zurück aufs Land. Im Gemeinschaftsraum hängt ein grosses Schild, auf dem steht, dass Velos auf dem Areal verboten sind und diese bei Zuwiderhandlung „eingezogen“ werden.
Dieses Verbot sei seit Sommer 2019 aufgehoben und mehrere Menschen würden sich mit einem Fahrrad fortbewegen, so Corinne Widmer von der AOZ auf Anfrage von das Lamm. Das Verbotsschild blieb bis zu unserem Besuch dort hängen. In Sonnenbühl wohnen Menschen, die im erweiterten Verfahren sind. Das heisst, Antragsteller*innen, deren Asylgesuch nicht im Schnellverfahren abgelehnt wurde, sondern noch genauer geprüft werden muss. Das erweiterte Verfahren soll höchstens ein Jahr dauern. Die Antragsteller*innen können Rechtsbeihilfe in Anspruch nehmen. Der oder die zuständige Anwält*in wird hierbei mit einer Pauschale von 300 Franken bezahlt.
Dieser Ablauf ist Teil des neuen Asylverfahrens, welches im März 2019 in Kraft trat. Seit diesem Moment hat die AOZ die Verwaltung des Durchgangszentrums Sonnenbühl übernommen. Deswegen sind auch die beiden Zürcher Gemeinderät*innen hier. Die AOZ ist ein Unternehmen, das zu 100% der Stadt Zürich gehört und ursprünglich in der Absicht gegründet wurde, bessere und humanere Standards in den Asylzentren sicherzustellen. Spätestens seit dem Skandal um das neue Bundesasylzentrum in Zürich-West (das Lamm berichtete) – auch dieses wird von der AOZ betrieben – steht das Unternehmen unter Druck. Denn an beiden Orten zeige sich, so Akyol, dass „das SEM und die AOZ es nicht schaffen, ein Mindestmass an Würde für die Bewohner*innen sicherzustellen“.
Rosa* wohnt seit etwa zwei Monaten im Durchgangszentrum Sonnenbühl. Nach ihrer Ankunft habe sie als erstes das Bad auf ihrer Etage geputzt, dieses sei an vielen Stellen mit Dreckrändern überzogen gewesen. Die dafür nötigen Putzmaterialen habe sie selber bezahlen müssen, erzählt sie. Im ganzem Haus gäbe es laut ihr und mehreren anderen Bewohner*innen nur einen Staubsauger, dazu seien die vorhandenen Besen kaputt und schmutzig. Corinne Widmer meint, es seien „genügend Putzmittel und mehrere Staubsauger vorhanden“. Allerdings hat sie nicht die genaue Zahl angegeben. Des Weiteren werden laut Widmer „Küche und die sanitären Anlagen 2x pro Tag gereinigt“. Ein Durchgang durchs Haus zeigt allerdings: In den Ecken des Flures hängen Spinnweben, der Boden in der Küche ist mit dicken Fettflecken und anderen Schmutzspuren überzogen. Der Billardtisch in einem der Gemeinschaftsräume steht behelfsmässig auf ein paar Plastikkisten. Das einzig Neue im ganzen Zentrum sind strahlend weisse Kameras, die jeden Schritt im öffentlichen Bereich überwachen.

Dass die Gemeinschaftsräume nicht professionell geputzt werden, sei ein Problem, sagt Rosa. Im Haus fehlen gute Putzmittel und die Putzarbeit wird von den Bewohner*innen selbst übernommen. Was die AOZ auf ihrer Webseite als eine von vier Aktivitäten des Zentrums unter dem Titel „Beschäftigungsmöglichkeiten“ listet, stellt sich als mies bezahlte Putzarbeit heraus. Die Höhe der Entschädigung entspreche den Vorgaben des kantonalen Sozialamts, so die AOZ. Drei Franken pro Stunde bekommen die Personen, die diese Arbeit ausführen, so die Bewohner*innen. „Logisch, dass sie dann mit wenig Elan putzen“, meint Rosa dazu. „Wenn wir uns wegen der fehlenden Putzlappen beschweren, hängt es von den angesprochenen Mitarbeitenden ab, ob wir dann neue bekommen“, erzählt sie weiter. In ihrem Zimmer öffnet sie einen ihrer Metallschränke. Darin ist Putzzeug zu sehen. Sie habe sich einen eigenen Putzschrank eingerichtet, sagt Rosa. Später serviert sie uns Tee und selbstgemachtes Essen. All das muss sie mit 400 Franken im Monat selber zahlen.

Als sie sich einmal bei der Direktion beschwert habe, sei sie auf das Plenum verwiesen worden. Dieses finde jeden Dienstag statt und diene dazu, Angelegenheiten zwischen Bewohner*innen und der Verwaltung zu koordinieren. Jedoch: In den zwei Monaten, die sie nun schon hier lebe, habe noch kein solches Treffen stattgefunden. Gemeinderat Angst meint dazu: „Die Menschen werden hier nicht ernst genommen und ihre Probleme nicht als solche anerkannt.“
Das zeigt sich auch bei der Hygiene in den Zimmern. So würden sich etwa Bettwanzen im Zentrum ausbreiten. Die Bewohner*innen hätten die Zentrumsleitung mehrmals auf das Problem aufmerksam gemacht, sagt Rosa. Als Antwort habe es jeweils geheissen: Die Bewohner*innen seien halt zu dreckig. Und sie seien ja nur ein paar Monate hier. Bis heute sei nichts gegen die Bettwanzen unternommen worden. Dies liege daran, so die AOZ, dass sich der Verdacht auf Bettwanzen nicht erhärtet habe. Laut Widmer habe ein auf „Schädlingsbekämpfung geschulter Mitarbeiter […] das Zimmer nach Anzeichen untersucht“. Er hätte weder Stiche bei den Bewohner*innen noch andere Hinweise gefunden. Auf ein routinemässiges Waschen der Wäsche mit 60°C, wie dies die Stadt Zürich bei Verdacht empfiehlt, habe man deshalb verzichtet.
Ein paar Tage nach dem Besuch im Durchgangszentrum Sonnenbühl erzählt uns Rosa per Telefon, dass am Folgetag des Besuchs die Zentrumsleitung zu ihr kam und das Zimmer, welches laut Rosa mit Bettwanzen befallen war, untersuchte. Jedoch befand sie, dass es dort keine Bettwanzen gab und unternahm weiter nichts. Sie soll einzig den Bewohner*innen gesagt haben, sie sollten besser sauber halten. Auch das Veloverbotsschild wurde nach der Medienanfrage durch das Lamm entfernt. „Es ist erschreckend, dass die AOZ erst auf Druck reagiert“, antwortet Angst auf die jüngsten Ereignisse.
„Das ist das Gesicht des neuen Asylverfahrens.“ Walter Angst klingt wütend, als er das sagt. Im Gemeinschaftsraum spielen ein paar Kinder auf dem Billardtisch. Spielmöglichkeiten gibt es anscheinend kaum. Die Kinder sind offensichtlich gelangweilt. Zwar gibt es laut der AOZ „ein Spielzimmer, einen Mal- und Bastelraum und einen kleinen Fitnessraum“. Diese befänden sich im nahegelegenen Schulgebäude, seien mit Anwesenheit eines Erwachsenen immer zugänglich und über dessen Existenz würde bei der Einführung von Familien informiert, so Corinne Widmer. Aber Informationen gibt es dazu keine auf dem schwarzem Brett im Gemeinschaftsraum. Dort hängt einzig und allein ein Zettel mit den Öffnungszeiten des Spielraums, täglich von 14 bis 16 Uhr. „Das ist auch nicht so schlimm“, meint Rosa, denn der habe eh nur ein paar Puzzles.
Eine Schwierigkeit, so Ezgi Akyol, „liegt in der fehlenden Zuständigkeit“. Niemand fühle sich im Zentrum für die Probleme der Bewohner*innen verantwortlich, diese würden von Instanz zu Instanz weitergegeben. „Dass so die qualitativ bessere Alternative zur ORS aussehen soll, ist beschämend.“ Nicht nur bei den Lebensbedingungen im Durchgangszentrum Sonnenbühl sehen die Gemeinderät*innen dringenden Handlungsbedarf. Beide finden, es brauche in der Asylregion Zürich eine Ombudsstelle, bei der sich die Geflüchteten beschweren können. Schliesslich sei das Durchgangszentrum Sonnenbühl ja nicht einmal der schlimmste Fall. Alle hier seien froh, zumindest nicht im Bundesasylzentrum in Zürich-West zu sein. „Dort ist es wie im Gefängnis. Hier gibt es zumindest keine Securitas“, sagt Rosa. Oder wie es Walter Angst ausdrückt: „Was wir hier sehen, ist die normale Verwahrlosung der Asylzentren.“
*Name geändert
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