Mit Placebos gegen Phantomschmerzen

Die Gewinne der Schweizer Natio­nal­bank sollen es richten: Die drohenden Corona-Schulden ausglei­chen, die AHV retten. Das verlangt der Natio­nalrat in zwei im Juni über­wie­senen Motionen. Er betreibt dabei blinden Aktio­nismus und igno­riert die wirk­li­chen Probleme der Geld-und Währungs­po­litik der SNB, findet unser Autor. Eine Analyse. [ 
Die Schweizer Nationalbank ist randgefüllt mit Währungsreserven und Devisen (Foto: Wikicommons).

Die Schweizer Natio­nal­bank (SNB) ist eine Festung, rand­voll gefüllt mit Währungs­re­serven und Devisen, und sie wird gerade gestürmt. Die Eindring­linge haben sich nur wenige Meter von den Toren entfernt statio­niert, im grossen Parla­ments­saal des Bundes­hauses. Dort hat der Natio­nalrat im Juni zwei Motionen über­wiesen, die beide eine Umla­ge­rung der Natio­nal­bank­ge­winne verlangen: einmal für den Schul­den­abbau, einmal für die AHV. Erstere dank einer Mitte-rechts-Mehr­heit, Letz­tere dank SP und SVP.

Für den Schul­den­abbau soll der Bundes­an­teil der jähr­li­chen SNB-Gewinn­aus­schüt­tung verwendet werden. Die SNB erwirt­schaf­tete 2019 einen Gewinn von 48.9 Milli­arden Franken  – vor allem dank ihrer Devi­sen­an­lagen. Nur ein kleiner Bruch­teil davon wird an den Bund ausge­schüttet und ist damit von der Motion betroffen. Für die Geschäfts­jahre 2019 und 2020 beläuft sich der Bundes­an­teil der SNB-Gewinn­aus­schüt­tungen auf rund 1.33 Milliarden.

Die AHV hingegen soll gemäss Natio­nalrat mit Geld aus dem Ertrag, den die SNB durch Nega­tiv­zinsen erzielt, unter­stützt werden. Die Erträge aus Nega­tiv­zinsen betrugen 2019 rund zwei Milli­arden Franken.

Verein­facht gesagt: Der Natio­nalrat möchte die Corona-Schulden mit Kurs­ge­winnen auf Fremd­wäh­rungen bezahlen; die AHV hingegen aus den Zinsen, die Banken an die SNB für gelie­hene Schweizer Franken zahlen.

So weit, so gut. Doch wie sinn­voll sind die Vorstösse tatsächlich?

Schul­den­abbau für des Buch­hal­ters Seele

Für die Motion, die Gewinn­aus­schüt­tung der SNB für den Schul­den­abbau einzu­setzen, hat der SNB-Präsi­dent Thomas Jordan laut eigenen Aussagen eine gewisse Sympa­thie: „Wenn der Bundesrat und das Parla­ment zum Schluss kommen, dass dieses Geld dafür verwendet wird, um über die näch­sten paar Jahre die erhöhte Verschul­dung abzu­bauen, dann ist das durchaus ein vernünf­tiger Vorschlag.“

Rein formal spricht tatsäch­lich wenig gegen die Motion. Der Bund darf die Gelder aus der Gewinn­aus­schüt­tung der SNB so verwenden, wie er – also das Parla­ment – das möchte. Der Natio­nalrat hat dem Vorhaben äusserts knapp mit 95 zu 91 Stimmen zuge­stimmt. Der Vorstoss wird als näch­stes im Stän­derat behandelt.

Dass die Corona-Pandemie zu einer Neuver­schul­dung führt, ist unum­stritten; deren Ausmass hingegen schon. Die für ihre Schwarz­ma­lerei bekannte Eidge­nös­si­sche Finanz­ver­wal­tung (EFV) erwartet ein Defizit von rund 40 Milli­arden; die Konjunk­tur­for­schungs­stelle KOF hingegen von 16.4 Milli­arden, wobei sie für das Jahr 2021 ein weiteres Defizit von 16.7 Milli­arden prognostiziert.

Das genaue Ausmass der Neuver­schul­dung steht also in den Sternen, aber: Dank der Schul­den­bremse muss sich das Parla­ment schon jetzt über­legen, wie die Corona-Schulden der Zukunft begli­chen werden können. Denn sie, die Schul­den­bremse, schreibt vor, dass eine Neuver­schul­dung inner­halb von sechs Jahren abge­ar­beitet werden muss.

Konkret bedeutet das: Liegt das kumu­lierte Haus­halts­de­fizit 2021 bei den 40 Milli­arden der EFV, muss der Bund ab 2022 einen Über­schuss von jähr­lich 6.6 Milli­arden erwirt­schaften, um die Schulden bis 2028 abzu­bauen. Errei­chen kann er das durch Steu­er­erhö­hungen, Spar­be­mü­hungen (die wohl oder übel auch Bildungs- und Sozi­al­aus­gaben betreffen werden), oder durch die Zusatz­ein­nahmen der SNB.

Und genau letz­teren Ansatz verfolgt die Motion zum Schul­den­abbau: Mit den zusätz­li­chen 1.33 Milli­arden Franken pro Jahr von der Natio­nal­bank sinkt der jähr­lich erfor­der­liche Über­schuss für den Schuldenabbau.

Was zunächst gut klingt, entpuppt sich aber als Schein­lö­sung. Die Gewinn­aus­schüt­tung steht dem Bund auch jetzt schon zur Verfü­gung. Bis anhin wird sie im laufenden Budget verwendet. Der Entscheid, sie für den Schul­den­abbau zu reser­vieren, bringt also keinerlei Mehr­ein­nahmen, sondern beschliesst ledig­lich bevor­ste­hende Spar­mass­nahmen – auf Kosten dieses laufenden Budgets. Zugun­sten der Schuldenbremse.

Einen etwas elegan­teren Umgang mit dieser Schul­den­bremse schlagen derweil die Ökonom*innen der National COVID-19 Science Task Force (NCS-TF) vor, einem wissen­schaft­li­chen Bera­tungs­gre­mium, das den Bund während der COVID-19-Pandemie berät. Sie empfehlen eine einma­lige Ausdeh­nung der Schul­den­bremse auf 30 Jahre. So müsste der Bund ab 2022 nur gerade 1.3 Milli­arden Über­schuss pro Jahr in den Schul­den­abbau inve­stieren, was ange­sichts der Erfah­rung der letzten Jahre auch ohne Einspa­rungen oder Steu­er­erhö­hungen möglich wäre.

Das wäre sicher­lich besser, als sich an die massiven jähr­li­chen Einspa­rungen von 6.6 Milli­arden Franken zu halten. Aber auch diese länger­fri­stige Schul­den­bremse würde die Hand­lungs­fä­hig­keit des Parla­ments für Mehr­aus­gaben einschränken, und das über Jahr­zehnte hinweg. Kurz: Es scheint keinen Ausweg aus den Fängen der Schul­den­bremse zu geben.

Aber das ist Blöd­sinn. Die Schul­den­bremse ist keine Natur­ge­walt, sondern ein bürger­li­ches Konstrukt. Die Corona-Schulden könnten der Schul­den­bremse ganz einfach gar nicht erst unter­stellt, sondern als ausser­or­dent­liche Staats­schulden abge­schrieben werden. Die Schweiz hat eine sehr tiefe Staats­ver­schul­dung im Verhältnis zu ihrer Wirt­schafts­kraft. Die Corona-Schulden würden dieses Verhältnis nur minim verschlech­tern. Die Schweiz verbliebe im Kreise der Muster­schüler in der OECD.

Im Gegenzug könnte sich der Bund, von den künst­li­chen Sach­zwängen der Schul­den­bremse befreit, mit dem über­fäl­ligen Ausbau des Sozi­al­staats beschäf­tigen. Wie nötig so ein Ausbau wäre, legt die Corona-Krise gnadenlos offen. Zwar wurde mit Hilfe der ALV der Kollaps der Wirt­schaft verhin­dert. Aber zum Beispiel für Sexarbeiter*innen, Selbst­stän­dig­er­wer­bende und Künstler*innen weist das Sicher­heits­netz des Bundes ekla­tante Lücken auf. Um sie zu beheben, könnte die Gewinn­aus­schüt­tung der SNB einge­setzt werden.

Wieviel Geld braucht die AHV?

Die zweite Motion dreht sich um die AHV. Alfred Heers (SVP) Vorschlag aus dem Jahr 2018 sieht vor, die 1. Säule mit Geld aus dem Ertrag, den die SNB durch Nega­tiv­zinsen erzielt, zu unter­stützen. Jähr­lich zwei Milli­arden Franken sollen so in die Kasse der AHV gespült werden. Auch dieser Vorstoss wird als näch­stes von der kleinen Kammer behandelt.

Der Griff in die tiefen Taschen der Natio­nal­bank zugun­sten der AHV ist keine neue Idee, sondern hat Tradi­tion. Die soge­nannte KOSA-Initia­tive von SP und Gewerk­schaften etwa forderte 2006, dass ein Gross­teil des jähr­li­chen Rein­ge­winns der Natio­nal­bank in die AHV fliessen sollte. Die Initia­tive wurde mit 58.6 Prozent abgelehnt.

Die Moti­va­tion hinter all den Vorschlägen ist immer die Gleiche: Die AHV wird totge­sagt, mit zum Teil zwei­fel­haften Prognosen. Das ist längst nicht mehr ein Narrativ, das nur Bürger­liche bedienen: Die SP hat den milli­ar­den­schweren Steu­er­ge­schenken an inter­na­tio­nale Unter­nehmen zuge­stimmt, weil sie im Gegenzug zwei Milli­arden und 0.15 Lohn­pro­zente für die AHV erhalten hat.

Das Problem? Die AHV steht nicht vor dem Kollaps. Der poli­ti­sche Defä­tismus bei der ersten Säule hat Kalkül: Die bürger­li­chen Parteien stören sich an der gross­zü­gigen Umver­tei­lung, die durch die gedeckelten Renten erfolgt. Die AHV wirke als eine Hoch­lohn­steuer, welche die Steu­er­pro­gres­sion weiter verschärfe, moniert etwa die NZZ. Laut Berech­nungen des Bundes­amts für Sozi­al­ver­si­che­rungen erhalten rund 90 Prozent der AHV-Bezüger*innen mehr Geld aus der AHV, als sie in das Sozi­al­werk einbe­zahlt haben. Im Gegen­satz dazu ist die zweite Säule, die Pensi­ons­kasse, eine trei­bende Kraft in der Vermö­gens­un­gleich­heit in der Schweiz. Und im Gegen­satz zur AHV steckt sie tatsäch­lich in einer Krise.

Die Stra­tegie funk­tio­niert. Dank der ewigen Diffa­mie­rung der AHV ist die Finan­zie­rung der Alters­vor­sorge laut Sorgen­ba­ro­meter weiterhin das drän­gendste poli­ti­sche Thema der Schweiz. Und bietet sich damit an, um für Schein­lö­sungen instru­men­ta­li­siert zu werden: Bürger­liche können sich über die grosse Umver­tei­lung empören, die Linke verspürt dank zum Teil hane­bü­chener Prognosen einen poli­ti­schen Zugzwang und lässt sich zu faulen Kompro­missen hinreissen. Ganz undenkbar werden dabei arbeits­recht­liche Forde­rungen wie weniger Wochen­ar­beits­zeit oder eine Renten­al­ter­sen­kung. Dafür wird die private Vorsorge attrak­tiver, was Banken, Anlageberater*innen und Immobilienbesitzer*innen freut.

Blinder Aktio­nismus

Der Griff in die prall gefüllten Natio­nal­bank-Kassen wird als Tabu­bruch beschrieben, als Eingriff in die Unab­hän­gig­keit der Natio­nal­bank. Eine in diesem Zusam­men­hang völlig müssige Diskus­sion. Die Natio­nal­bank ist auch nach der Annahme dieser Motionen in ihrer Geld- und Währungs­po­litik noch poli­tisch unab­hängig. Leider. Denn eigent­lich hat sich diese laut Bundes­ver­fas­sung am Gesamt­in­ter­esse des Landes auszu­richten. Und hierbei weicht die Geld- und Währungs­po­litik der SNB oft vom (trüge­ri­schen) Selbst­bild der Schweiz als huma­ni­sti­scher Akteur ab.

Mit ihren Inve­sti­tionen ist die SNB für etwa gleich­viele CO2-Emis­sionen verant­wort­lich wie die ganze Schweiz. Einen beacht­li­chen Teil ihres US-Akti­en­port­fo­lios inve­stiert sie in die fossile Indu­strie und befeuert damit die Klimakatastrophe.

Die SNB inve­stiert in Firmen wie Chevron. Der Öl-Konzern inve­stiert seiner­seits wiederum in Poli­zei­stif­tungen in den USA, die mit privat alimen­tierten Mitteln Poli­zei­de­par­te­mente aufrü­sten. Mit ihrem Staats­ver­mögen finan­ziert die Schweiz indi­rekt die dysto­pi­schen Szenen auf den Strassen der USA.

Und die SNB inve­stiert Milli­arden in Kriegs­ma­te­ri­al­pro­du­zenten. Als nach der Tötung von Qasem Solei­mani, dem irani­schen Divi­si­ons­kom­man­deur, durch die USA die Aktien des US-Rüstungs­kon­zerns Raytheon um drei Prozent zulegten, bedeu­tete das für die SNB als Gross­ak­tio­närin einen Wert­ge­winn von sieben Millionen Dollar. Dagegen versucht jetzt die Initia­tive „Für ein Verbot der Finan­zie­rung von Kriegs­ma­te­ri­al­pro­du­zenten” vorzu­gehen. Parla­ment und Bundesrat lehnen sie ab.

Anstatt all diese Probleme anzu­gehen, beschränkt sich der Natio­nalrat lieber auf einen Tabu­bruch, der gar keiner ist: Was mit dem SNB-Gewinn passieren soll, lag schon immer in den Händen des Parla­ments. Die vorlie­genden Motionen sind also vor allem eines: blinder Aktio­nismus. Eine publi­kums­wirk­same Antwort auf Schein­pro­bleme, die von eben diesem Parla­ment über­haupt erst geschaffen wurden. Tatsäch­lich stürmt der Natio­nalrat nicht die Festung SNB. Er rennt gegen Wind­räder an, die er selbst hat bauen lassen.

Trans­pa­renz: Der Autor sitzt für eine regio­nale Jung­partei im Gemeind­par­la­ment von Olten in einer Frak­tion mit der SP. Er ist aber weder Mitglied der SP Schweiz, noch der SP Olten. 


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