Die Schweizer Nationalbank (SNB) ist eine Festung, randvoll gefüllt mit Währungsreserven und Devisen, und sie wird gerade gestürmt. Die Eindringlinge haben sich nur wenige Meter von den Toren entfernt stationiert, im grossen Parlamentssaal des Bundeshauses. Dort hat der Nationalrat im Juni zwei Motionen überwiesen, die beide eine Umlagerung der Nationalbankgewinne verlangen: einmal für den Schuldenabbau, einmal für die AHV. Erstere dank einer Mitte-rechts-Mehrheit, Letztere dank SP und SVP.
Für den Schuldenabbau soll der Bundesanteil der jährlichen SNB-Gewinnausschüttung verwendet werden. Die SNB erwirtschaftete 2019 einen Gewinn von 48.9 Milliarden Franken – vor allem dank ihrer Devisenanlagen. Nur ein kleiner Bruchteil davon wird an den Bund ausgeschüttet und ist damit von der Motion betroffen. Für die Geschäftsjahre 2019 und 2020 beläuft sich der Bundesanteil der SNB-Gewinnausschüttungen auf rund 1.33 Milliarden.
Die AHV hingegen soll gemäss Nationalrat mit Geld aus dem Ertrag, den die SNB durch Negativzinsen erzielt, unterstützt werden. Die Erträge aus Negativzinsen betrugen 2019 rund zwei Milliarden Franken.
Vereinfacht gesagt: Der Nationalrat möchte die Corona-Schulden mit Kursgewinnen auf Fremdwährungen bezahlen; die AHV hingegen aus den Zinsen, die Banken an die SNB für geliehene Schweizer Franken zahlen.
So weit, so gut. Doch wie sinnvoll sind die Vorstösse tatsächlich?
Schuldenabbau für des Buchhalters Seele
Für die Motion, die Gewinnausschüttung der SNB für den Schuldenabbau einzusetzen, hat der SNB-Präsident Thomas Jordan laut eigenen Aussagen eine gewisse Sympathie: „Wenn der Bundesrat und das Parlament zum Schluss kommen, dass dieses Geld dafür verwendet wird, um über die nächsten paar Jahre die erhöhte Verschuldung abzubauen, dann ist das durchaus ein vernünftiger Vorschlag.“
Rein formal spricht tatsächlich wenig gegen die Motion. Der Bund darf die Gelder aus der Gewinnausschüttung der SNB so verwenden, wie er – also das Parlament – das möchte. Der Nationalrat hat dem Vorhaben äusserts knapp mit 95 zu 91 Stimmen zugestimmt. Der Vorstoss wird als nächstes im Ständerat behandelt.
Dass die Corona-Pandemie zu einer Neuverschuldung führt, ist unumstritten; deren Ausmass hingegen schon. Die für ihre Schwarzmalerei bekannte Eidgenössische Finanzverwaltung (EFV) erwartet ein Defizit von rund 40 Milliarden; die Konjunkturforschungsstelle KOF hingegen von 16.4 Milliarden, wobei sie für das Jahr 2021 ein weiteres Defizit von 16.7 Milliarden prognostiziert.
Das genaue Ausmass der Neuverschuldung steht also in den Sternen, aber: Dank der Schuldenbremse muss sich das Parlament schon jetzt überlegen, wie die Corona-Schulden der Zukunft beglichen werden können. Denn sie, die Schuldenbremse, schreibt vor, dass eine Neuverschuldung innerhalb von sechs Jahren abgearbeitet werden muss.
Konkret bedeutet das: Liegt das kumulierte Haushaltsdefizit 2021 bei den 40 Milliarden der EFV, muss der Bund ab 2022 einen Überschuss von jährlich 6.6 Milliarden erwirtschaften, um die Schulden bis 2028 abzubauen. Erreichen kann er das durch Steuererhöhungen, Sparbemühungen (die wohl oder übel auch Bildungs- und Sozialausgaben betreffen werden), oder durch die Zusatzeinnahmen der SNB.
Und genau letzteren Ansatz verfolgt die Motion zum Schuldenabbau: Mit den zusätzlichen 1.33 Milliarden Franken pro Jahr von der Nationalbank sinkt der jährlich erforderliche Überschuss für den Schuldenabbau.
Was zunächst gut klingt, entpuppt sich aber als Scheinlösung. Die Gewinnausschüttung steht dem Bund auch jetzt schon zur Verfügung. Bis anhin wird sie im laufenden Budget verwendet. Der Entscheid, sie für den Schuldenabbau zu reservieren, bringt also keinerlei Mehreinnahmen, sondern beschliesst lediglich bevorstehende Sparmassnahmen – auf Kosten dieses laufenden Budgets. Zugunsten der Schuldenbremse.
Einen etwas eleganteren Umgang mit dieser Schuldenbremse schlagen derweil die Ökonom*innen der National COVID-19 Science Task Force (NCS-TF) vor, einem wissenschaftlichen Beratungsgremium, das den Bund während der COVID-19-Pandemie berät. Sie empfehlen eine einmalige Ausdehnung der Schuldenbremse auf 30 Jahre. So müsste der Bund ab 2022 nur gerade 1.3 Milliarden Überschuss pro Jahr in den Schuldenabbau investieren, was angesichts der Erfahrung der letzten Jahre auch ohne Einsparungen oder Steuererhöhungen möglich wäre.
Das wäre sicherlich besser, als sich an die massiven jährlichen Einsparungen von 6.6 Milliarden Franken zu halten. Aber auch diese längerfristige Schuldenbremse würde die Handlungsfähigkeit des Parlaments für Mehrausgaben einschränken, und das über Jahrzehnte hinweg. Kurz: Es scheint keinen Ausweg aus den Fängen der Schuldenbremse zu geben.
Aber das ist Blödsinn. Die Schuldenbremse ist keine Naturgewalt, sondern ein bürgerliches Konstrukt. Die Corona-Schulden könnten der Schuldenbremse ganz einfach gar nicht erst unterstellt, sondern als ausserordentliche Staatsschulden abgeschrieben werden. Die Schweiz hat eine sehr tiefe Staatsverschuldung im Verhältnis zu ihrer Wirtschaftskraft. Die Corona-Schulden würden dieses Verhältnis nur minim verschlechtern. Die Schweiz verbliebe im Kreise der Musterschüler in der OECD.
Im Gegenzug könnte sich der Bund, von den künstlichen Sachzwängen der Schuldenbremse befreit, mit dem überfälligen Ausbau des Sozialstaats beschäftigen. Wie nötig so ein Ausbau wäre, legt die Corona-Krise gnadenlos offen. Zwar wurde mit Hilfe der ALV der Kollaps der Wirtschaft verhindert. Aber zum Beispiel für Sexarbeiter*innen, Selbstständigerwerbende und Künstler*innen weist das Sicherheitsnetz des Bundes eklatante Lücken auf. Um sie zu beheben, könnte die Gewinnausschüttung der SNB eingesetzt werden.
Wieviel Geld braucht die AHV?
Die zweite Motion dreht sich um die AHV. Alfred Heers (SVP) Vorschlag aus dem Jahr 2018 sieht vor, die 1. Säule mit Geld aus dem Ertrag, den die SNB durch Negativzinsen erzielt, zu unterstützen. Jährlich zwei Milliarden Franken sollen so in die Kasse der AHV gespült werden. Auch dieser Vorstoss wird als nächstes von der kleinen Kammer behandelt.
Der Griff in die tiefen Taschen der Nationalbank zugunsten der AHV ist keine neue Idee, sondern hat Tradition. Die sogenannte KOSA-Initiative von SP und Gewerkschaften etwa forderte 2006, dass ein Grossteil des jährlichen Reingewinns der Nationalbank in die AHV fliessen sollte. Die Initiative wurde mit 58.6 Prozent abgelehnt.
Die Motivation hinter all den Vorschlägen ist immer die Gleiche: Die AHV wird totgesagt, mit zum Teil zweifelhaften Prognosen. Das ist längst nicht mehr ein Narrativ, das nur Bürgerliche bedienen: Die SP hat den milliardenschweren Steuergeschenken an internationale Unternehmen zugestimmt, weil sie im Gegenzug zwei Milliarden und 0.15 Lohnprozente für die AHV erhalten hat.
Das Problem? Die AHV steht nicht vor dem Kollaps. Der politische Defätismus bei der ersten Säule hat Kalkül: Die bürgerlichen Parteien stören sich an der grosszügigen Umverteilung, die durch die gedeckelten Renten erfolgt. Die AHV wirke als eine Hochlohnsteuer, welche die Steuerprogression weiter verschärfe, moniert etwa die NZZ. Laut Berechnungen des Bundesamts für Sozialversicherungen erhalten rund 90 Prozent der AHV-Bezüger*innen mehr Geld aus der AHV, als sie in das Sozialwerk einbezahlt haben. Im Gegensatz dazu ist die zweite Säule, die Pensionskasse, eine treibende Kraft in der Vermögensungleichheit in der Schweiz. Und im Gegensatz zur AHV steckt sie tatsächlich in einer Krise.
Die Strategie funktioniert. Dank der ewigen Diffamierung der AHV ist die Finanzierung der Altersvorsorge laut Sorgenbarometer weiterhin das drängendste politische Thema der Schweiz. Und bietet sich damit an, um für Scheinlösungen instrumentalisiert zu werden: Bürgerliche können sich über die grosse Umverteilung empören, die Linke verspürt dank zum Teil hanebüchener Prognosen einen politischen Zugzwang und lässt sich zu faulen Kompromissen hinreissen. Ganz undenkbar werden dabei arbeitsrechtliche Forderungen wie weniger Wochenarbeitszeit oder eine Rentenaltersenkung. Dafür wird die private Vorsorge attraktiver, was Banken, Anlageberater*innen und Immobilienbesitzer*innen freut.
Blinder Aktionismus
Der Griff in die prall gefüllten Nationalbank-Kassen wird als Tabubruch beschrieben, als Eingriff in die Unabhängigkeit der Nationalbank. Eine in diesem Zusammenhang völlig müssige Diskussion. Die Nationalbank ist auch nach der Annahme dieser Motionen in ihrer Geld- und Währungspolitik noch politisch unabhängig. Leider. Denn eigentlich hat sich diese laut Bundesverfassung am Gesamtinteresse des Landes auszurichten. Und hierbei weicht die Geld- und Währungspolitik der SNB oft vom (trügerischen) Selbstbild der Schweiz als humanistischer Akteur ab.
Mit ihren Investitionen ist die SNB für etwa gleichviele CO2-Emissionen verantwortlich wie die ganze Schweiz. Einen beachtlichen Teil ihres US-Aktienportfolios investiert sie in die fossile Industrie und befeuert damit die Klimakatastrophe.
Die SNB investiert in Firmen wie Chevron. Der Öl-Konzern investiert seinerseits wiederum in Polizeistiftungen in den USA, die mit privat alimentierten Mitteln Polizeidepartemente aufrüsten. Mit ihrem Staatsvermögen finanziert die Schweiz indirekt die dystopischen Szenen auf den Strassen der USA.
Und die SNB investiert Milliarden in Kriegsmaterialproduzenten. Als nach der Tötung von Qasem Soleimani, dem iranischen Divisionskommandeur, durch die USA die Aktien des US-Rüstungskonzerns Raytheon um drei Prozent zulegten, bedeutete das für die SNB als Grossaktionärin einen Wertgewinn von sieben Millionen Dollar. Dagegen versucht jetzt die Initiative „Für ein Verbot der Finanzierung von Kriegsmaterialproduzenten” vorzugehen. Parlament und Bundesrat lehnen sie ab.
Anstatt all diese Probleme anzugehen, beschränkt sich der Nationalrat lieber auf einen Tabubruch, der gar keiner ist: Was mit dem SNB-Gewinn passieren soll, lag schon immer in den Händen des Parlaments. Die vorliegenden Motionen sind also vor allem eines: blinder Aktionismus. Eine publikumswirksame Antwort auf Scheinprobleme, die von eben diesem Parlament überhaupt erst geschaffen wurden. Tatsächlich stürmt der Nationalrat nicht die Festung SNB. Er rennt gegen Windräder an, die er selbst hat bauen lassen.
Transparenz: Der Autor sitzt für eine regionale Jungpartei im Gemeindparlament von Olten in einer Fraktion mit der SP. Er ist aber weder Mitglied der SP Schweiz, noch der SP Olten.
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