Drei Jahre Strafe

Im Sommer 2019 zeigte Anja einen Mann wegen Verge­wal­ti­gung an, auch um andere vor ihm zu schützen. Doch drei Jahre später ist der erst­in­stanz­lich verur­teilte Täter noch immer auf freiem Fuss. Der Fall ist ein Para­de­bei­spiel dafür, dass in Straf­ver­fahren Täter*innen statt Opfer im Zentrum stehen. 
Das Strafverfahren dauert immer länger, während Anja versucht, mit der Tat abzuschliessen. (Illustration: Iris Weidmann)

Es ist ein warmer Tag Ende August. Anja sitzt in ihrem Wohn­zimmer, sie hat frei. „Es geht mir gut“, versi­chert Anja via Zoom. In den letzten einein­halb Jahren hat sie ihr Leben wieder in den Griff bekommen, sagt sie. Sie geht in Therapie und hat einen neuen Job gefunden.

Vor drei Jahren hat Anja einen Mann wegen Verge­wal­ti­gung ange­zeigt. Was darauf folgte, war ein für Anja undurch­sich­tiger und retrau­ma­ti­sie­render Prozess: Sie fühlte sich weder beim Unispital noch bei der Polizei oder der Staats­an­walt­schaft gut aufge­hoben (das Lamm und Bajour berichteten).

Einein­halb Jahre nach der Tat sah das Straf­ge­richt Basel-Stadt Anjas Aussagen als erwiesen an. Der Beschul­digte wurde wegen sexu­eller Nöti­gung schuldig gespro­chen und zu 28 Monate Haft verur­teilt, davon 14 Monate bedingt. Für Anja eine Erleich­te­rung. Doch für die Staats­an­walt­schaft war die ausge­spro­chene Strafe zu tief, für den Beschul­digten – der weiterhin auf unschuldig plädiert – zu hoch: Beide gingen in Berufung.

Mitt­ler­weile sind über drei Jahre vergangen und Anja ist immer noch in den Folgen dieser Verge­wal­ti­gung gefangen, während der Beschul­digte auf freiem Fuss ist. Aber was heisst das für Anja? Was läuft in diesem Prozess von der Anzeige bis zum Urteil schief? Und wie könnte ein Straf­ver­fahren aussehen, das die Bedürf­nisse des Opfers ins Zentrum stellt?

Es geht das Lamm und Bajour in dieser Bericht­erstat­tung nicht darum, das Urteil zu werten oder jemanden vorzu­ver­ur­teilen. Es geht darum, aufzu­zeigen, was das Straf­ver­fahren aus Sicht von Opfern sexua­li­sierter Gewalt bedeutet, die durch den Prozess Gefahr laufen, retrau­ma­ti­siert zu werden. Wir möchten uns hiermit der Frage widmen, wie ein opfer­freund­li­ches Straf­ver­fahren aussehen könnte.

Wir verwenden in diesem Text das Wort „Verge­wal­ti­gung“, genauso wie die Geschä­digte selbst, obwohl es in diesem Fall juri­stisch gesehen keine war: Das erst­in­stanz­liche Urteil lautete sexu­elle Nöti­gung. Im geltenden Straf­recht wird nur von einer Verge­wal­ti­gung gespro­chen, wenn die Person „weib­li­chen Geschlechts“ ist, der Täter sie zum „Beischlaf“ gezwungen und dabei Drohung, Gewalt oder psychi­schen Druck ausgeübt hat.

Die Wort­wahl ist insbe­son­dere für Geschä­digte ein wich­tiger Punkt, weil sie das Unrecht ausdrücken soll, das ihnen angetan wurde. Diesem Punkt tragen wir in diesem Artikel Rech­nung. Was künftig juri­stisch als Verge­wal­ti­gung gelten soll, wird zudem im Rahmen der Revi­sion des Sexu­al­straf­rechts aktuell neu verhan­delt. Unter anderem die SP fordert, dass Verge­wal­ti­gungen an Männern genauso bezeichnet und im Straf­tat­be­stand inklu­diert werden und nicht mehr (wie bis anhin) nur als sexu­elle Nöti­gung gelten sollen.

Amnesty Inter­na­tional Schweiz schreibt in einer Stel­lung­nahme, dass die Tatsache, dass erzwun­gene „beischlaf­s­ähn­liche Hand­lungen“ im aktu­ellen Straf­recht nur als sexu­elle Nöti­gung und nicht als Verge­wal­ti­gung gelten, inter­na­tio­nalen Menschen­rechts­normen widerspricht.

Warten, warten, warten

Kaum hatte Anja die Verhand­lung am Straf­ge­richt Basel-Stadt im Februar 2021 über­standen, ging erneut das Warten los – auf den näch­sten Gerichts­termin. Mona­te­lang fragt sie sich, wann der Brief kommt und mit wie viel Vorlauf­zeit. Was, wenn sie genau dann in den Ferien ist? Was, wenn der Brief sie aus der Bahn wirft und sie wieder nicht im Stande sein wird, zu arbeiten? „Mein Leben war auf Pause“, fasst Anja zusammen und seufzt.

Als der Brief mit dem Gerichts­termin im Früh­ling 2022 nach über einem Jahr Warte­zeit endlich kommt, ist Anja aufge­wühlt, aber auch erleich­tert. Die Verhand­lung wird am Basler Appel­la­ti­ons­ge­richt statt­finden. Vier Monate bleiben ihr, um sich darauf einzu­stellen. Doch: Ihre Vorla­dung ist fakul­tativ. Über­setzt heisst das, dass sie nicht noch mal aussagen muss. Ihre Aussagen scheinen nicht infrage gestellt zu werden. Doch worum genau es in der Verhand­lung gehen wird, weiss Anja nicht.

Obwohl sie nicht muss, möchte sie an die Beru­fungs­ver­hand­lung gehen. „Ich will das mit eigenen Augen sehen. Ich muss wissen, dass das erle­digt ist“, erklärt Anja.

Grund­sätz­lich findet Anja es richtig, dass die Staats­an­walt­schaft eine härtere Strafe verlangt. „Aber dadurch läuft der Täter immer noch frei herum, und ich konnte deshalb nicht mit der Sache abschliessen“, sagt Anja. Hätte sie selbst wählen können, ob das Urteil weiter­ge­zogen wird, hätte sie es wohl sein gelassen. Die vom Straf­ge­richt gespro­chenen 28 Monate oder die von der Staats­an­walt­schaft verlangten vier Jahre Haft­strafe seien beides peanuts. „Ich werde jetzt schon seit drei Jahren bestraft.“

Bestraft wird Anja inso­fern, als sie sich ohnmächtig und nicht sicher fühlt. Der Beschul­digte wohnt bei Anja in der Nähe. Sie hat ihn schon beim Denner vor ihrer Haustür oder an einer femi­ni­sti­schen Aktion, die sie mitor­ga­ni­siert hat, gesehen. „Das hat bei mir oft eine Panik­at­tacke ausge­löst: Ich habe ange­fangen zu zittern, konnte kaum atmen, habe geweint“, erin­nert sich Anja.

Kürz­lich sei er sogar in ihr Quar­tier gezogen, erzählt sie. Seine neue Adresse kennt Anja nicht – sie hat kein Anrecht darauf, sie zu erfahren. Erst wenn das neue Urteil verkündet wird, wird sie seine neue Adresse schwarz auf weiss haben. Er hingegen weiss, wo sie wohnt, da sie seit dem letzten Urteil nicht umge­zogen ist.

Mitt­ler­weile reagiere sie nicht mehr so stark, wenn sie ihn sehe, sagt Anja. „Die Wut ist so viel grösser geworden als die Angst.“ Wut gegen ihn, aber auch Wut gegen den Staat, die Polizei und die Gesetze. Anja zündet sich eine Ziga­rette an, bevor sie sich aufrichtet und etwas näher an den Bild­schirm rückt: „Ich hätte mir gewünscht, dass dieser ganze Prozess viel schneller zum Abschluss gekommen wäre.“ Dass er hinter Gittern sei, und sie endlich aufatmen und abschliessen könne.

Die Tage vor der Verhand­lung nutzt Anja intensiv, um sich darauf vorzu­be­reiten. Zudem orga­ni­siert sie zusammen mit dem femi­ni­sti­schen Streik­kol­lektiv Basel für den Abend nach der Verhand­lung eine Soli­da­ri­täts­kund­ge­bung gegen sexua­li­sierte Gewalt. Auch am Morgen werden ihre Bezugs­per­sonen Anja begleiten. Einige werden vor dem Gericht eine Mahn­wache abhalten, andere mit an die Verhand­lung gehen.

„Ich bin auf alles gefasst“, sagt Anja einige Tage vorher.

Kontroll­ver­lust – schon wieder

Es ist früh­mor­gens in Basel-Stadt, die Sonne ist schon aufge­gangen und tastet langsam die Gebäude von oben nach unten ab. Heute soll der Fall am Appel­la­ti­ons­ge­richt behan­delt werden. Die Stadt erwacht, der Pendel­ver­kehr ist laut.

Nur im Gerichts­saal ist es still. Und leer. Die Verhand­lung wurde am Abend vorher abgesagt.

Anja sitzt im Tram, als ihr Handy klin­gelt – ihre Anwältin. Sie erklärt Anja, dass die Verhand­lung verschoben werden müsse, weil der Beschul­digte im Spital liege. Anja fällt aus allen Wolken. „Das kann doch nicht sein“, raunt sie ins Handy. Sie beginnt zu weinen und verlässt das Tram.

Sie habe mit allem gerechnet, nur nicht damit. „Ich habe mich total verarscht gefühlt. Vor allem, weil der Skandal an dem Ganzen ist, dass der Prozess schon so lange dauert“, erzählt Anja einige Tage später.

Dass diese Straf­ver­fahren so lang­wierig sind, sei eine der grössten Schwie­rig­keiten für Geschä­digte von Sexu­al­de­likten, bestä­tigt Sarah Schärer-Brown, Opfer­hil­fe­be­ra­terin bei der Opfer­hil­fe­stelle „beider Basel“.

„Ich habe mich total verarscht gefühlt. Vor allem, weil der Skandal an dem Ganzen ist, dass der Prozess schon so lange dauert.“

Anja

Das Problem sei, dass das Straf­ver­fahren auf den Täter zentriert sei. So könne es etwa einfach verschleppt werden, sagt Schärer-Brown. Im vorlie­genden Fall sei die Kurz­fri­stig­keit beson­ders stos­send: „Für die Betrof­fene bedeutet das schon wieder: Kontroll­ver­lust“, so Schärer-Brown. Dieser Kontroll­ver­lust, den die Betrof­fene schon in der Gewalt­si­tua­tion selbst erfahren habe, wieder­hole sich im Strafverfahren.

Wieso genau der Beschul­digte nicht am Verfahren teil­nehmen kann, ist unklar. Seine Anwältin gibt dazu auf Anfrage von das Lamm und Bajour keine Auskunft. Chri­stine Bucher, Sekre­tärin am Appel­la­ti­ons­ge­richt Basel-Stadt, bestä­tigt aber: „Die Verhand­lung wurde verschoben, weil der Beschul­digte hospi­ta­li­siert ist.“ Die Verhand­lung werde frühe­stens näch­stes Jahr statt­finden, so Bucher weiter. Der Termin­ka­lender des Appel­la­ti­ons­ge­richtes sei für dieses Jahr schon voll.

Anja wird – schon wieder – vor voll­endete Tatsa­chen gestellt und muss sich damit zurecht­finden. Das Einzige, das sie in diesem Moment noch kontrol­lieren kann, ist die geplante Kund­ge­bung: Soll sie trotz abge­sagter Verhand­lung stattfinden?

„Jetzt erst recht“, findet Anja nach einer kurzen Bespre­chung mit ihren Bezugspersonen.

Rund 100 Personen versam­meln sich am Abend der Verhand­lung auf dem Basler Markt­platz. Die graue Wolken­decke, die über der Stadt liegt, steht im Kontrast zum sonnigen Morgen. Auf den mitge­brachten Schil­dern der Anwe­senden steht „Nur Ja heisst Ja!“, „Hast du nach Konsens gefragt?“ oder „Wir glauben dir“.

Anja hat innert 24 Stunden ihre Rede umge­schrieben, die sie für die Kund­ge­bung vorbe­reitet hatte. Als sie ins Mikrofon spricht, ertönt sie laut und deut­lich: „Ich habe drei Jahre auf den heutigen Tag gewartet.“ Sie pran­gert das Straf­ver­fahren an, das ihr ihre Privat­sphäre, ihre Energie, ihre Zeit und ihr Selbst­ver­trauen geraubt habe.

„Heute ist mein Tag X“, erzählt sie den Anwe­senden. Heute schliesse sie damit ab, auch ohne Urteil.

Unter­schied­liche Bedürfnisse

Das Mantra „Zeig ihn an, damit er anderen nicht dasselbe antun kann“ hört man in Bezug auf Sexu­al­de­likte oft. Auch Anja entschied sich aus diesem Grund für die Anzeige. Ihr Fall zeigt jedoch, dass die Realität dem gar nicht gerecht werden kann.

Für Anja ist schon lange klar: Sie würde nie mehr so eine Anzeige machen und es auch niemandem empfehlen. Da ist sie nicht die Einzige – bei Sexu­al­de­likten liegt die Anzei­ge­rate gemäss einer Studie von gfs.bern bei ledig­lich acht Prozent. Nicht zur Polizei gegangen sind die Befragten aus Scham oder aus Angst, dass die Anzeige chan­cenlos wäre oder dass ihnen nicht geglaubt würde.

„Die Bedürf­nisse der Geschä­digten müssten im Straf­ver­fahren zentral oder zumin­dest gleich­ge­stellt sein wie die des Täters“, sagt Sarah Schärer-Brown. Sprich: Die Kontrolle müsste bei der Betrof­fenen liegen. „Denn genau diese wurde ihr wegge­nommen und hat mehr­heit­lich das Trauma verursacht.“

Das würde auch berück­sich­tigen, dass die Bedürf­nisse der Geschä­digten sehr unter­schied­lich seien: „Eine Betrof­fene möchte nie mehr etwas vom Täter wissen, eine andere möchte ihm viel­leicht Fragen stellen, um das Erlebte einordnen zu können“, erklärt Schärer-Brown.

Doch all diese Bedürf­nisse seien im heute gängigen Straf­ver­fahren unsichtbar. Dass die Staats­an­walt­schaft wie im vorlie­genden Fall gegen das Urteil Beru­fung einlegt, wäre bei einem opfer­zen­trierten Straf­ver­fahren nur mit dem Einver­ständnis der Geschä­digten möglich, so die Opferhilfeberaterin.

„Das Straf­ver­fahren ist tradi­tio­nel­ler­weise täter­zen­triert. Das Opfer spielt in diesem System eher eine Nebenrolle.“

Nora Scheid­egger, Juristin

Auch Nora Scheid­egger, Juri­stin und Mitau­torin des Arti­kels „Reform­be­darf im schwei­ze­ri­schen Sexu­al­straf­recht“, schreibt auf Anfrage von das Lamm und Bajour: „Das Straf­ver­fahren ist tradi­tio­nel­ler­weise täter­zen­triert. Das Opfer spielt in diesem System eher eine Nebenrolle.“

Deut­lich wurde das für Anja zum ersten Mal auf dem Poli­zei­po­sten: Obwohl sie sich nur über ihre Möglich­keiten infor­mieren wollte, erstat­tete die Polizei Anzeige gegen den Mann, weil es sich um ein Offi­zi­al­de­likt handelte. Anjas Zustim­mung brauchten sie dafür nicht. Aufgrund der Schwere der Straftat sind die Straf­ver­fol­gungs­be­hörden dazu verpflichtet, diese zu verfolgen.

Wichtig wird die Betrof­fene erst wieder in der Gerichts­ver­hand­lung, quasi ganz am Ende des Verfah­rens. Sie muss erzählen, wie schlimm es denn wirk­lich war, wie sie sich verhalten hat und wieso. Das geschieht nicht zugun­sten der Betrof­fenen, sondern zugun­sten der Straf­zu­mes­sung: Anhand ihrer Aussagen wird entschieden, wie hoch die Strafe für den Täter sein soll.

Wieso das Straf­ver­fahren so täter­zen­triert ist, lässt sich nicht in einem Satz beant­worten, schreibt Scheid­egger weiter. Möglichst kurz gesagt: Im Straf­ver­fahren werde die indi­vi­du­elle Verant­wor­tung für das Tatun­recht ausge­han­delt. Darum stehe notwen­di­ger­weise das Indi­vi­duum im Mittel­punkt, über dessen Verant­wor­tung geur­teilt wird – und dem im Fall der Fälle mehrere Jahre die Frei­heit entzogen wird.

Der Professor Karl-Ludwig Kunz schreibt dazu: „Der Staat nimmt mit dem Straf­mo­nopol dem Opfer das Recht, die Verlet­zung seiner Inter­essen beim Täter zu ahnden.“ Die staat­lich betrie­bene Straf­ver­fol­gung entferne somit sozu­sagen das Opfer und ersetze dessen Inter­essen durch den staat­li­chen Strafanspruch.

Wichtig wäre Sensibilisierung

Mit Blick auf das gängige Straf­ver­fahren sind gemäss Scheid­egger hinrei­chende Aus- und Weiter­bil­dungen für alle invol­vierten Akteur*innen betref­fend den Umgang mit Geschä­digten von sexua­li­sierter Gewalt beson­ders wichtig.

Damit spricht die Juri­stin einen Punkt an, den Anja schon vor einein­halb Jahren anpran­gerte: Das Verhalten der Staats­an­walt­schaft bei Anjas Befra­gung (das Lamm und Bajour berich­teten). Die Staats­an­wältin habe die Hände hinter dem Kopf verschränkt und gefragt, wieso Anja nach der Verge­wal­ti­gung halb nackt zu dem Mann an der Tram­hal­te­stelle hinge­rannt sei – das tue man doch nicht nach so einem Erlebnis.

Auf die Bitte nach Stel­lung­nahme zu Anjas Geschichte antwor­tete die Pres­se­stelle der Staats­an­walt­schaft damals: „Bestehen Zweifel an Aussagen eines Opfers, so müssen diese, wie bei anderen Delikten, hinter­fragt werden, denn eine mögliche Verur­tei­lung der Täter­schaft ist nur möglich, wenn entspre­chende Beweise bzw. Indi­zien vorliegen.“

Das ist kein Einzel­fall, weiss Schärer-Brown. Grund für solch unsen­sible Fragen seien die Verge­wal­ti­gungs­my­then, die immer noch in der Gesell­schaft und den Köpfen veran­kert sind, ob bewusst oder unbe­wusst. Die Staats­an­walt­schaft müsse zwar Fall­stricke ausloten und über­legen, welche Fragen von der Vertei­di­gung gestellt werden könnten – so würden sie zumin­dest unan­ge­nehme, detail­lierte Nach­fragen begründen.

„Die Aufgabe der Staats­an­walt­schaft ist die Wahr­heits­fin­dung, nicht die Wertung.“

Sarah Schärer-Brown, Opferhilfeberaterin

Schärer-Brown stellt jedoch klar: „Die Aufgabe der Staats­an­walt­schaft ist die Wahr­heits­fin­dung, nicht die Wertung.“ Als Befrager*in müsse man sich darauf achten, wie man die Fragen stellt und zu welchem Zeit­punkt, damit es für die Geschä­digte möglichst nicht retrau­ma­ti­sie­rend ist. Hierfür wäre eine Sensi­bi­li­sie­rung im Umgang mit trau­ma­ti­sierten Personen nötig.

In Basel-Stadt gibt es mitt­ler­weile einen runden Tisch zum Thema sexua­li­sierter Gewalt. Zudem äusserte sich Patrizia Krug, Erste Staats­an­wältin im Kanton Basel­land, letzten Sommer gegen­über der NZZ zu dieser Thematik: „Das Verhalten des Opfers soll nicht die zentrale Rolle spielen. Genau das aber geschieht, wenn man Frauen nach den Motiven für ihr Verhalten fragt.“

Das seien Schritte in die rich­tige Rich­tung, stellt Schärer-Brown fest. „Aber eine solche Sensi­bi­li­sie­rung ist nie abge­schlossen.“ Erstens gäbe es immer wieder neue Erkennt­nisse, zwei­tens seien Wieder­ho­lungen zentral, damit immer wieder über das eigene Verhalten reflek­tiert werden könne.

Palette von Instrumenten

Ein Grund, den sowohl Sarah Schärer-Brown wie Nora Scheid­egger hinter der langen Verfah­rens­dauer vermuten, sind perso­nelle Kapa­zi­täten. Ob und wie diese Verfahren beschleu­nigt werden könnten, lasse sich jedoch nicht allge­mein beant­worten, so Scheid­egger. „Dazu fehlen nur schon empi­ri­sche Daten zur Verfah­rens­dauer und den Gründen dahinter.“

Anjas Fall ist inso­fern speziell, als der Beschul­digte erst­in­stanz­lich schuldig gespro­chen wurde, was bei Sexu­al­de­likten gene­rell eine Selten­heit ist. Dann wurde der Prozess durch die Beru­fungen der Staats­an­walt­schaft und des Beschul­digten verlän­gert – aufgrund der Hospi­ta­li­sie­rung des Beschul­digten sogar ein zweites Mal.

Wenn die beschul­digte Person nicht an der Verhand­lung erscheint, kann sie gemäss Art. 366 der Straf­pro­zess­ord­nung (StPO) in Abwe­sen­heit der beschul­digten Person durch­ge­führt werden, wenn das die Beweis­lage zulässt. Oder die Verhand­lung wird sistiert. Das Appel­la­ti­ons­ge­richt Basel-Stadt wählte Zweiteres.

Nora Scheid­egger findet es jedoch per se proble­ma­tisch, anzu­nehmen, dass ein Straf­ver­fahren ein geeig­netes Mittel zur Bewäl­ti­gung der trau­ma­ti­schen Erfah­rung einer geschä­digten Person ist oder sein sollte. Die „noto­risch tiefen Anzei­ge­quoten“ zeigen gemäss Scheid­egger, dass sich die meisten zu Recht nicht viel vom „klas­si­schen“ Weg erhoffen. Genauso wie Schärer-Brown plädiert sie dafür, auf die Bedürf­nisse der Geschä­digten einzu­gehen und ihnen eine brei­tere Palette an „Instru­menten“ anzubieten.

„Neben der Opfer­hilfe denke ich da insbe­son­dere an Resto­ra­tive Justice“, schreibt Scheid­egger. Restau­ra­tive Justiz (RJ) ist eine alter­na­tive Heran­ge­hens­weise zur gängigen Straf­ju­stiz, die in der Schweiz noch nicht insti­tu­tio­na­li­siert ist, aber in anderen Ländern schon gute Ergeb­nisse gezeigt hat.

Das Swiss RJ Forum möchte RJ in der Schweiz fördern. Gemäss ihrer Webseite betrachtet RJ Krimi­na­lität primär als Verlet­zung statt als Geset­zes­bruch, und hat deshalb eine Heilung zum Ziel, nicht nur Strafe. Eine der älte­sten und am weite­sten verbrei­teten Formen der RJ sei der Dialog zwischen Opfer und Täter*in: Quali­fi­zierte Moderator*innen ermög­li­chen ein frei­wil­liges Treffen, sodass sowohl Opfer wie Täter*in ihre Erfah­rungen und Gefühle teilen, und versu­chen können, den Schaden zu reparieren.

Der briti­sche Resto­ra­tive Justice Council schreibt, dass RJ Geschä­digten von Sexu­al­de­likten die Möglich­keit gebe, der Täter­schaft die Auswir­kungen der Tat zu erklären – Geschä­digte würden gestärkt, weil RJ ihnen eine Stimme gibt.

Eine Stimme, die Anja in diesem Straf­ver­fahren nie hatte. Sie fragt sich, ob die letzten drei Jahre einfa­cher für sie gewesen wären, wenn sie die Verge­wal­ti­gung ausschliess­lich mit ihrer Thera­peutin verar­beitet und keine Anzeige gemacht hätte. Nichts­de­sto­trotz läuft das Straf­ver­fahren weiter.

Der neue Gerichts­termin am Appel­la­ti­ons­ge­richt Basel-Stadt wurde drei Wochen nach dem ursprüng­li­chen Termin kommu­ni­ziert. Er findet Anfang 2023 statt.

Doch Anja wartet nicht mehr. An der neuen Verhand­lung teil­nehmen wird sie nicht, „auch ein biss­chen aus Protest“. Sie möchte sich diese inten­sive Vorbe­rei­tung nicht noch einmal antun. Das Urteil wird sie feiern, wenn es dann mal da ist. Aber eigent­lich wünscht sich Anja, dass sie ihren Abschluss findet, auch ohne dass das Gericht eingreift – weil sie darauf nicht vertrauen kann.

*Name von der Redak­tion geändert.

Dieser Artikel ist gleich­zeitig beim Online­ma­gazin Bajour erschienen. Er ist eine Fort­set­zung einer Recherche, die 2021 in Zusam­men­ar­beit mit Bajour entstand.


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