Lebe deine Träume — aber wie eigentlich?

Junge sollen viel erleben und ihre Träume verwirk­li­chen. Das sind ganz schön viele Erwar­tungen. Dabei ist Zeit­ver­schwen­dung auch ok, findet Kolum­ni­stin Helena Quarck. 
Geniesse das Leben! Leichter gesagt, als getan. (Bild: Febe Vanermen/Unsplash)

„Die Jugend wird an Jugend­li­chen verschwendet.” So lautet ein berühmtes Zitat des engli­schen Autors George Bernard Shaw, welcher sich darüber beklagt, dass eine so wunder­bare Zeit im Leben an so uner­fah­renen Menschen verschwendet wird. 

Shaw träumt davon, mit den gemachten Lebens­er­fah­rungen wieder in den eigenen jungen und gesunden Körper hinein­zu­schlüpfen und dann das Ganze noch­mals anzu­fangen. Was man dabei über­springen könnte? Das uner­träg­lich lähmende Gefühl, nicht zu wissen, was zum Teufel man gerade macht (und in den näch­sten 50 Jahren machen will). 

Wenn diese Kolumne veröf­fent­licht wird, sind es nur noch fünf Wochen bis zu meinen Matur­prü­fungen. Vier Wochen später und das Matur­zeugnis – und somit die Eintritts­karte für die Zukunft – liegt in meiner Hand. 

„Freu dich doch! Du hast so lange auf das gewartet!”

Klima­hy­ste­risch und radikal oder unver­ant­wort­lich und faul: Es wird viel an jungen Menschen rumge­nör­gelt. Schlimmer als die Kritik ist aber ihre fehlende Reprä­sen­ta­tion in der Öffent­lich­keit. Während sich alle Welt über Anliegen der Jugend äussert, finden diese selbst nur in sozialen Netz­werken eine Platt­form. Das ändert nun die Kolumne „Jung und dumm“.

Helena Quarck ist 19 Jahre alt und Schü­lerin. Sie ist als Sieben­jäh­rige aus Brasi­lien in die Schweiz gezogen und musste Deutsch lernen. Diese Beschäf­ti­gung mit Sprache hat sie zum Schreiben gebracht. Helena ist Redak­torin des Jugend­ma­ga­zins Quint.

Natür­lich freue ich mich. Etwa darauf, nie wieder morgens im Sport­un­ter­richt den Zwölf-Minuten-Lauf rennen zu müssen. Der Zwölf-Minuten-Lauf stellt das Gymna­sium exem­pla­risch wunderbar dar. Die ersten drei Minuten sind toll. Man rennt vorne mit und hat das Ganze noch im Griff. In den näch­sten fünf Minuten wird es schwie­riger: Das Atmen ist nicht mehr selbst­ver­ständ­lich, es ist heiss und die Schnell­sten sind immer weiter weg. Der Kampf­geist ist aber noch da: „Bloss nicht anhalten!”

Die letzten Minuten sind grau­en­haft. Wenn man zusätz­lich blöd ist, kommt man mögli­cher­weise auf die Idee, nur kurz anzu­halten und zu gehen. Nur kurz? Dumm. Danach wieder loszu­rennen, braucht nämlich eine Willens­stärke, die niemand mehr aufbringen kann. 

Und dann kommt die aller­letzte Minute, in welcher ich mich befinde. Die Lehr­person schreit: „Endspurt! Nur noch 40 Sekunden.” Man zieht in Erwä­gung zu sprinten, man will es sogar! Aber das Sprinten sieht dann eher aus wie „Speed­wal­king”. Das Matur­jahr ist für mich die letzte Minute: Ich setze einen Fuss vor den anderen, hoffe, mit meiner versa­genden Lunge bei keine*r meiner Mitschüler*innen aufzu­fallen und warte einfach auf das Pfeifen der Lehr­person. Zwölf Minuten sind vorbei. Und jetzt?

Das ist die grosse Preis­frage für meine Mitschüler*innen und mich: Was passiert, nachdem das Ganze vorbei ist? Wie geht es dann weiter? Während des Laufs war immerhin klar, was zu tun ist. Und plötz­lich ist man damit konfron­tiert, dass man nun in alle Rich­tungen laufen könnte. Ich muss dabei an Shaw denken und wie gerne ich an dieser Stelle mein älteres Ich fragen würde, wie ich sicher­stellen könnte, dass meine Jugend nicht an mir verschwendet wird. 

Jung zu sein bedeutet: Viel Energie haben, mit Vorfreude in die Zukunft blicken und furchtlos sein. Das erzählte mir mein Gross­vater zumin­dest immer nost­al­gisch von seiner Jugend. Ich hörte immer voller Begei­ste­rung zu: Er konnte so gut leben! Dabei bewun­derte ich nicht, wie gut sein Leben war. Ich bewun­derte ihn viel mehr für seine Gabe, sein Leben so schön gestalten zu können. Am Ende solcher Gespräche meinte er immer zu mir, ich sollte meine Jugend bedin­gungslos geniessen. Ich sollte so richtig leben!

Dabei musste ich doch zuerst lernen zu leben. Wie sollte ich gleich­zeitig auch noch heraus­finden, wie richtig leben geht? Junge Menschen vor grossen Entschei­dungen machen sich oft Sorgen, eine Fehl­ent­schei­dung zu fällen und so die goldenen Jahre ihrer Jugend zu verschwenden. Genauso wie es Shaw ihnen vorwirft. Was aber Shaw und die ältere Gene­ra­tion vergessen, ist, dass die Zeit der Jugend vor allem aus Verwir­rung, Ruhe­lo­sig­keit und aus Zeit­ver­schwen­dung besteht. Und dass das normal und sogar gut ist. 

Ich suche oft eine über­zeu­gende Antwort auf die Frage: „Was willst du nach der Schule machen?” Dann erzähle ich von meinen Reise­plänen, von der Prak­ti­kums­suche und davon, warum ein Zwischen­jahr für mich auch wirk­lich sinn­voll ist. „Ich werde nicht einfach chillen, verspro­chen!”, scheine ich allen klar­ma­chen zu wollen. Auch erwi­sche ich mich dabei, eine solche Erklä­rung von meinen Mitschüler*innen zu erwarten. Genau wie ich sind sie sich daran gewöhnt, eine Erklä­rung für ihre Entschei­dungen zu liefern. Keine*r will das Stereotyp der faulen Jugend bestätigen.

Glück wird oft als etwas gesehen, das sich Menschen aneignen können, indem sie hart arbeiten und ihren Träumen nach­gehen. Das schreibt etwa die Sozio­login Eva Illouz in ihrem Buch „Das Glücks­diktat”: „Die persön­liche Situa­tion eines Menschen wird nicht mehr als Folge struk­tu­reller Prozesse gesehen, sondern viel­mehr als indi­vi­du­eller Verdienst.” Die Idee, dass man jeder Zeit aufstehen und sein Leben in die Hand nehmen könnte und dass der Weg ab dann unmit­telbar zu Glück führen würde, sei gesell­schaft­lich stark veran­kert, so Illouz. Die Popu­la­rität des „American Dreams” entstamme dieser Denkweise.

So werden gerade junge Menschen unter Druck gesetzt. Die Angst davor, sein volles Glücks­po­ten­zial nicht auszu­schöpfen, hat eine gesamte Indu­strie erzeugt. Tausende Bücher, Podcasts und Gurus sollen einem beim Streben nach Glück helfen. 

Ganz schön geschickt: Wer will denn nicht sorglos und glück­lich sein? Vor allem in einer Gene­ra­tion, welche mit den sozialen Medien aufge­wachsen ist. Auf Insta­gram werden schliess­lich bloss die schön­sten Bilder gepo­stet und nur die besten Momente fest­ge­halten. Das erhöht den Druck zusätz­lich. Es geht nicht mehr nur darum, glück­lich zu sein, sondern das auch online zu zeigen. 

Ich habe Pläne, Ambi­tionen und Leiden­schaften, denen ich nach­gehen will. Mitten in dieser Verfol­gungs­jagd meiner „Träume” schleicht sich folgender Gedanke in meinen Kopf: „Was, wenn ich mir nur einbilde, dass ich dies oder jenes will?”

Egal wie viel eine Person vorhat und wie viel sie plant, nur die wenig­sten von uns sind sich ihrer Entschei­dungen immer sicher. Jung zu sein bedeutet nicht nur, diese wert­volle Zeit in vollen Zügen zu geniessen, sondern auch, über­haupt nicht zu wissen, wie man das anstellen soll.

Es ist nicht schlimm, wenn du in deinem Zwischen­jahr keine wilde Back­packing-Reise durch Asien planst, weil du sowieso nicht mehr als zwei Wochen weg von deiner Familie sein kannst. Oder wenn du näch­stes Jahr ein Studium anfängst, ohne zu wissen, ob es das rich­tige für dich ist. Es ist auch ok, wenn du noch gar nicht weisst, was du näch­stes Jahr machen willst. Nichts geht an miss­lun­genen Erfah­rungen verloren.

Die Jugend wird nicht an Jugend­li­chen verschwendet. Zeit­ver­schwen­dung kann nur entstehen, wenn man sich dafür schämt, verwirrt und verloren zu sein. Und beim Zwölf-Minuten-Lauf: die einzige wirk­liche Zeit­ver­schwen­dung in deiner Jugend. 


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Berühmt und brotlos

Unsere Kolumnistin maia arson crimew ist "die berühmteste Hackerin der Schweiz". Ihre aktivistische und journalistische Arbeit schlug international grosse Wellen. Trotzdem lebt sie am Existenzminimum – und so wie ihr geht es vielen Berühmtheiten heutzutage.