Brüchige Dämme, gefähr­liche Substanzen und der Regen­wald als CO2-Schleuder

Diesen Monat im Lamm-Rück­blick zur Lage der Welt: Tropi­sche Regen­wälder blasen viel CO2 in die Atmo­sphäre. Die EU ringt um ein neues Gesetz für hormon­ak­tive Substanzen. Und: Die fran­zö­si­sche Atom­auf­sichts­be­hörde lässt vier Reak­toren abschalten. 
Man glaubte, die Regenwälder könnten uns helfen, die Zeit bis in die postfossile Ära zu überbrücken. Dem ist nicht so. (Foto: Nagarajan Kanna)

Wie schlimm steht es wirk­lich um die Welt? Das weiss niemand ganz genau. Eine Nach­richt jagt die nächste – wie einen Über­blick gewinnen, das Chaos ordnen? Wir [info-box post_id=„7925“]helfen, indem wir ausge­wählte News häpp­chen­weise servieren und einordnen. So liefern wir Ihnen einmal pro Monat Anhalts­punkte zur Lage der Welt aus Lamm-Sicht.

Heute: Tropi­sche Regen­wälder sind CO2-Quellen. // Hormon­ak­tive Substanzen sollen verboten werden. // Bei der Atom­an­lage Trica­stin in Frank­reich ist ein Damm morsch.

Bad News: Tropi­sche Regen­wälder als CO2-Quellen

Was ist passiert? Die tropi­schen Regen­wälder sind die Lungen der Erde. Diese Meta­pher ist etwas unglück­lich, weil streng genommen verkehrt: Lungen verbrau­chen Sauer­stoff und geben CO2 ab; Wälder geben (netto) Sauer­stoff ab und lagern CO2 ein. Aber man weiss, was damit gemeint ist (das Umge­kehrte). Oder besser: Man meinte es zu wissen. Denn gemäss einer neuen Studie ist die Meta­pher von den Regen­wäl­dern als Lungen der Erde wahrer, als uns lieb sein kann: Die tropi­schen Regen­wälder stossen wohl mehr CO2 aus, als sie aufnehmen können. Sie atmen also mehr aus als ein, und das massiv: 425 Teragramm Kohlen­stoff entwei­chen den tropi­schen Regen­wäl­dern jähr­lich. Das ist soviel wie alle US-Verkehrs­emis­sionen in einem Jahr.

Warum ist das wichtig? In vielen Klima­mo­dellen werden Wälder als CO2-senkende oder zumin­dest als CO2-neutrale Flächen gehan­delt. Die Erklä­rung: CO2 versinkt via Blatt­werk in Stamm und Wurzeln der Bäume, wodurch der Atmo­sphäre CO2 entzogen wird. In der Summe stimmt das aber für diese Regen­wälder gar nicht (mehr), weil sie mehr CO2 durch Biomas­sen­ver­lust verlieren, als sie binden können. Und zwar nicht nur, weil sie abge­holzt werden, sondern haupt­säch­lich, weil es ihnen schlechter geht. Ihre Fähig­keit, CO2 aufzu­nehmen, wird von Dürren, Feuer, selek­tivem Holz­schlag und Biodi­ver­si­täts­ver­lust geschmä­lert. Und das in einem solchen Ausmass, dass den Wäldern netto viel mehr CO2 entweicht, als sie binden können. Das Perfide: Anders als bei gero­deten Flächen sieht man es diesen Wäldern von aussen nicht verläss­lich an. Unter der dichten Baum­krone kann sich ein wegrot­tender Forst verstecken. Und der bekommt dem Klima schlecht.

Aber? Gemäss den Studi­en­au­torInnen liesse sich dieser kaum sicht­bare Zerfall relativ leicht aufhalten, ja gar umkehren. Denn es gibt sie bereits, die ‚Tech­no­logie’, mittels derer die Wälder wieder netto mehr CO2 aufnehmen könnten bzw. das in ihnen einge­la­gerte CO2 zumin­dest halten könnten. Sie ist mehrere tausend Jahre alt; erfunden haben sie die indi­genen Völker der grossen Regen­wälder. Unter ihrer Bewirt­schaf­tung halten diese Wälder die vier­fache Menge der jähr­li­chen welt­weiten CO2-Emis­sionen zurück. Aller­dings stehen diese ‚Bewirt­schaf­te­rInnen‘ der Wälder massiv unter Druck, gerade weil sie aus Sicht von ‚Entwick­le­rInnen‘ nichts ‚erwirt­schaften‘ und oft auf unaus­ge­beu­teten Boden­schätzen sitzen, nach denen die Indu­strie­na­tionen lechzen. Bleibt zu hoffen, dass wir recht­zeitig erkennen: Ohne diese Wälder und ihre Bewoh­ne­rInnen sind wir nahe dem Ende.

Good News 1: Hormon­ak­tive Substanzen sollen verboten werden — auch in Pestiziden

Was ist passiert? Die EU ringt seit vier Jahren an einer Verord­nung, welche die Verwen­dung endo­kriner Disrupt­oren (=Störer des (natür­li­chen) Hormon­sy­stems) regu­lieren soll. Das sind Substanzen, die in uns wie körper­ei­gene Hormone wirken und deshalb zu Entwick­lungs­stö­rungen führen können. Bisphenol A beispiels­weise, das in Kassen­zet­teln, PET und anderen Plastik­be­häl­tern steckt, wirkt im mensch­li­chen Körper wie ein Östrogen. Damit steht es im Verdacht, insbe­son­dere in den Sexu­al­zy­klus, die Fett­ein­la­ge­rung, aber auch in den Zucker­kreis­lauf einzu­greifen; zudem erhöhe es die Gefahr für östro­gen­ge­steu­erte Milch­drü­sen­tu­more. Gene­rell wird vermutet, dass endo­krine Disrupt­oren, von Entwick­lungs- und Verhal­tens­stö­rungen über Diabetes bis hin zu Krebs, verschie­denste Gesund­heits­pro­bleme, ja schwere Krank­heiten (mit-)verursachen können.

Solche hormon­ak­tiven Substanzen sind unter anderem als Wirk­stoffe in vielen Pesti­ziden enthalten. Jetzt haben die EU-Parla­men­ta­rie­rInnen einen pesti­zid­freund­li­chen Entwurf zurück­ge­wiesen, der die Verord­nung in einer wich­tigen Hinsicht zahnlos gemacht hätte.

Warum ist das wichtig? Um zu verstehen, worum es hier geht, müssen wir zuerst diese endo­krinen Disrupt­oren etwas genauer betrachten. Das beson­dere an diesen Substanzen: Je nach Entwick­lungs­sta­dium ist ein Mensch unter­schied­lich sensibel auf solche Hormone. Wird die körper­ei­gene Regu­lie­rung an empfind­li­chen Punkten durch solche Substanzen gestört, können die Weichen für die künf­tige Entwick­lung falsch gestellt werden. Und das teils irrever­sibel. Weiter wird vermutet, dass bereits kleinste Dosen, wenn sie in ungün­stigen Momenten einge­nommen werden, eine solche falsche, endgül­tige Weichen­stel­lung verur­sa­chen. Damit ist es schier unmög­lich, ein gene­rell sicheres Expo­si­ti­ons­ni­veau anzu­geben; und gäbe es eines, es wäre so tief, dass solche Substanzen ausser­halb von Labors wohl verboten werden müssten.

Genau mit einem solchen Verbot ringen EU-Kommis­sion und ‑Parla­ment seit vier Jahren: Ausser in Labors dürfte niemand mit Substanzen, die nach­ge­wie­se­ner­massen als endo­krine Disrupt­oren im Menschen agieren, in Kontakt kommen können. Aller­dings hat das Gesetz einen Haken, den Pesti­zid­lob­by­istInnen von Bayer, BASF und Syngenta in letzter Minute in den Text haben einfliessen lassen können: Ausge­nommen werden sollen von dieser Rege­lung ausge­rechnet dieje­nigen Pesti­zide, die ihre Wirkung dadurch entfalten, dass sie in das Hormon­sy­stem von Schäd­lingen eingreifen (siehe im Verord­nungs­ent­wurf der letzte Para­graph auf der letzten Seite). Ein Verbot von endo­krinen Disrupt­oren, von dem Substanzen ausge­nommen sind, die erwie­se­ner­massen endo­krine Disrupt­oren sind? Das war der Ernäh­rungs­kom­mis­sion des EU-Parla­ments doch zu bunt, weshalb sie diesen Passus mit 36 gegen 26 Stimmen kürz­lich verworfen hat.

Aber? Noch ist die Sache nicht vom Tisch. Denn es geht um sehr viel. Alleine in Frank­reich würden durch diese Verord­nung, fiele die Ausnah­me­klausel durch, 8‘700 Tonnen Pesti­zide verboten. Zusammen mit dem fran­zö­si­schen Glyphosat-Verbot ab 2022 stünde die Pesti­zid­in­du­strie vor dem Zusam­men­bruch. Denn der aussichts­reiche Nach­folger von Glyphosat, das Herbizid 2,4‑D, würde wohl als endo­kriner Disruptor klas­si­fi­ziert. Massive Gegen­wehr vonseiten der Pesti­zid­in­du­strie ist vorprogrammiert.

Good News 2: AKW-Stopp wegen bröckelnder Staumauer

Was ist passiert? Die fran­zö­si­sche Atom­kon­troll­be­hörde (Auto­rité de sureté nuclé­aire ASN) hat in Trica­stin in Südost­frank­reich vier Reak­toren herun­ter­fahren lassen. Käme es zu einem Erdbeben, könnte der Damm eines nahe­lie­genden Kanals brechen. Die Folge davon: Die vier Reak­toren stünden unter Wasser; die Kühlung fiele aus. Damit drohte die Kern­schmelze — und die dauer­hafte Verwü­stung eines Gebiets minde­stens von der Grösse des Kantons Bern. Wenn die Betrei­berin die Reak­toren wieder hoch­fahren will, muss sie das Erdbe­ben­ri­siko genauer bestimmen können und Ausbes­se­rungen am Damm vornehmen.

Warum ist das wichtig? Dieser Sicher­heits­nach­weis sowie die bauli­chen Mass­nahmen am Damm bei Trica­stin sind seit zehn Jahren fällig. Erst jetzt ist die Behörde einge­schritten: Der Reaktor sei abzu­stellen, „dans les délais les plus courts.“ Nun eilt plötz­lich, was zehn Jahre vor sich hinschlum­merte. Bis letzte Woche geschah nichts. Und das ist ein eher unan­ge­nehmer Gedanke. Wie konnte, was so drin­gend nötig war, einfach igno­riert werden? Ganz einfach: Weil eine so abstrakte Gefahr wie ein Beben, das nur alle 10’000 Jahre einmal vorkommt, (beinahe) risi­ko­frei igno­riert werden kann — so lange nichts passiert. Und je länger nichts passiert, desto unwahr­schein­li­cher erscheint uns die Gefahr. Das Risikio bleibt aber natür­lich dennoch unverändert.

Aber? Mit dieser Abschal­tung ist die Gefahr, die vom fran­zö­si­schen, aber auch von unserem eigenen Atom­park ausgeht, längst nicht gebannt. Hier ein paar beäng­sti­gende Fakten, die gegen gefähr­li­ches Vergessen helfen könnten:

  • Das betriebs­äl­teste Atom­kraft­werk Frank­reichs (Baujahr 1970) in Fessen­heim spaltet in seinen alten Kesseln weiterhin Uran. Und die geplante Stilllegung 2019 wird vom Kapa­zi­täts­ausbau im neuen Euro­päi­schen Druck­was­ser­re­aktor EPR in Flaman­wille abhängig gemacht. Fessen­heim liegt 40 Kilo­meter nörd­lich der Schweizer Grenze.
  • Das betriebs­äl­teste Atom­kraft­werk der Schweiz ist zugleich das betriebs­äl­teste Atom­kraft­werk … welt­weit. Mit Baujahr 1969 wird es bald fünfzig. Zwar steht Beznau I seit zwei Jahren still wegen „Löchern“ im Reak­tor­mantel, aber die Axpo scheint weiterhin an eine Wieder­in­be­trieb­nahme zu glauben. Ein fixer Abschalt­termin liegt nicht vor.
  • Einem weiteren Schweizer AKW droht ein Damm­bruch: Es liegt rund 20 Meter unter­halb des Wohlen­sees bei Bern, zwölf Kilo­meter vom Bundes­haus entfernt. Zwar wird es 2019 defi­nitiv abge­schaltet. Aber auch hier ist frag­lich, ob der Stau­damm einem Alle-10‘000-Jahre-Erdbeben stand­halten würde.
  • Unsere AKWs laufen, bis auf das AKW mit den rostigen Brenn­stäben (Leib­stadt), seit dem Jahr 2000 zehn Prozent über der Leistung, für die sie konzi­piert wurden. Gemäss dem Öko-Institut Darm­statt ist das Unfall­ri­siko dadurch um 25–30 Prozent erhöht.

Bis auf weiteres wird es also nötig sein, diese und weitere Gefahren, die von der Atom­kraft ausgehen, immer wieder in Erin­ne­rung zu rufen. Denn sie existieren auch dann, wenn gerade niemand an sie denkt.

 


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