„Das Mittel­meer ist zurzeit eine Blackbox, die meisten Menschen­rechts­ver­let­zungen können nicht einmal mehr doku­men­tiert werden“

Das Watch the Med-Alarm­phone betreibt eine Hotline für Geflüch­tete, die auf dem Mittel­meer in Seenot geraten. Das Netz­werk ist mitt­ler­weile die letzte zivile Orga­ni­sa­tion, die noch von Personen in Seenot erfährt. Die zivilen Such- und Rettungs­schiffe werden an ihrer Arbeit gehin­dert. Im Gespräch mit dem Lamm reden zwei Aktivist*innen des Alarm­phones über ihre Arbeit, die Situa­tion auf dem Mittel­meer – und die Notwen­dig­keit der Seebrücke-Demonstrationen. 
Wie alle anderen zivilen Rettungsschiffe ist die Sea-Watch zurzeit nicht aktiv. Die maltesische Regierung hält das Schiff im Hafen fest. (Foto: Sea-Watch)

Seit vier Jahren gibt es das Watch the Med-Alarm­phone bereits. Mehr als hundert Aktivist*innen aus über 15 Ländern in Europa und Nord­afrika sind dem Netz­werk ange­schlossen. Sie betreiben eine Tele­fon­hot­line für Personen, die bei der Über­que­rung des Mittel­meers („Med“ steht für „Medi­ter­ra­nean“) in Seenot geraten. Das Telefon wird rund um die Uhr betreut, dafür über­nehmen die Aktivist*innen regel­mässig Vier- oder Acht­stunden-Schichten. Zudem hat das Alarm­phone die Seebrücke-Demon­stra­tionen für sichere Flucht­wege und eine stär­kere Seenot­ret­tung mitin­iti­iert, die zurzeit in ganz Europa stattfinden.

Das Lamm: Das Netz­werk Watch the Med-Alarm­phone betreibt eine Tele­fon­hot­line für Personen, die auf der Flucht über das Mittel­meer in Seenot geraten. Gibt es dafür nicht eine offi­zi­elle Anlaufstelle?

A.S.: Doch, die zustän­dige Küsten­wache. Oftmals wurde diese von den Geflüch­teten bereits kontak­tiert, wenn sie sich an das Alarm­phone richten. Aber die Küsten­wa­chen haben oft viel zu tun oder sie fühlen sich nicht zuständig. Wir wenden uns dann eben­falls an sie. Wir schauen hin und bauen Druck auf: Sie sollen sich bewusst sein, dass wir wissen, dass sie über die Menschen in Seenot infor­miert sind. Wir kontrol­lieren so gut wie möglich, dass sie ihrer Pflicht nach­kommen. Dafür bleiben wir wenn immer möglich so lange mit den Geflüch­teten in Kontakt, bis sie tatsäch­lich gerettet werden. All diese Fälle werden doku­men­tiert, und alle zwei Monate veröf­fent­li­chen wir einen Bericht.

O.A.: Zwischen den einzelnen Küsten­wa­chen gibt es grosse Unter­schiede. Die grie­chi­sche ist zurzeit sehr koope­rativ, die italie­ni­sche ist reser­viert, und in Spanien kommt es stark auf die einzelne Person an, die man gerade erreicht. Bei einigen muss man immer und immer wieder anrufen, andere sind sehr freund­lich. Das ändert sich immer wieder, ist nicht statisch. Es geht aber nicht nur darum, Druck aufzu­bauen. Manchmal sind wir tatsäch­lich auch die erste Anlauf­stelle für die Personen in Seenot – und die zustän­dige Küsten­wache weiss noch nichts vom Notfall, wenn wir anrufen.

Das Lamm: Arbeitet ihr auch mit der liby­schen Küsten­wache zusammen?

A.S.: Es ist äusserst wichtig fest­zu­halten, dass es sich bei der liby­schen Küsten­wache nicht um eine ‚rich­tige‘ Küsten­wache handelt. Es sind unzäh­lige Menschen­rechts­ver­let­zungen ihrer­seits doku­men­tiert. Ein Beispiel: Kürz­lich hat die liby­sche Küsten­wache ein Boot mit Geflüch­teten an Bord aufge­halten. Als später das zivile spani­sche Such- und Rettungs­schiff von ProAc­tiva Open­Arms dort eintraf, fanden sie eine Frau in einem kaputten Schlauch­boot. Die liby­sche Küsten­wache hatte sie zurück­ge­lassen. Zusätz­lich fanden sie die toten Körper eines Klein­kinds und einer weiteren Frau. Sie wurden eben­falls zurück­ge­lassen. Die liby­sche Küsten­wache ist nur dazu da, die Menschen am Verlassen des Landes zu hindern. Sie verfügt über keine offi­zi­elle Hotline, die man im Notfall anrufen kann – und wenn wir doch einmal einzelne Vertreter*innen errei­chen, sind sie uns gegen­über in der Regel sehr feind­lich gesinnt.

O.A.: Die Inter­na­tional Mari­time Orga­nization listet Stan­dards, die eine Küsten­wache erfüllen muss, um als solche zu gelten. Die liby­sche Küsten­wache erfüllt diese Stan­dards nicht. Trotzdem wird sie von der EU gestärkt und finan­ziell unter­stützt: Erst kürz­lich wurde ihr Zustän­dig­keits­ge­biet vergrös­sert, und aus Europa fliesst viel Geld in die Orga­ni­sa­tion. Wohin dieses Geld genau gelangt, das weiss niemand. Es gibt keine Trans­pa­renz. Natür­lich geht es auch darum, Verant­wor­tung auszu­la­gern. In Libyen wird Grenz­si­che­rung im Auftrag der EU betrieben – und viel Geld damit verdient. Und je härter die Küsten­wache durch­greift, je mehr Menschen sie von der Ausreise abhält, desto wert­voller wird sie für Europa – und desto mehr Geld erhält sie auch.

Das Lamm: Weshalb bringen euro­päi­sche Schiffe die Geflüch­teten nicht selber zurück nach Libyen?

A.S.: Das dürfen sie gar nicht, so hat der Euro­päi­sche Gerichtshof für Menschen­rechte entschieden. Dafür sind die Zustände zu schlecht. Wir wissen von Geflüch­teten, dass in den dortigen Lagern Folter und Verge­wal­ti­gungen an der Tages­ord­nung sind – und auch Skla­ven­handel wird betrieben. Mit der Unter­stüt­zung der liby­schen Küsten­wache betei­ligt sich die EU trotzdem aktiv daran, Menschen in diesen Lagern einzu­sperren. Das ist abscheulich.

O.A.: Vor zwei Wochen haben wir aber erfahren, dass zum ersten Mal seit Berlus­conis Amts­ab­tritt 2011 wieder ein italie­ni­sches Schiff Geflüch­tete zurück nach Libyen brachte – trotz des besagten Gerichts­ur­teils. Damit hat es gegen inter­na­tio­nales Recht verstossen. Trotzdem ist es gut möglich, dass sich dieser Vorfall wieder­holen wird.

Das Lamm: Die Inten­si­vie­rung der Zusam­men­ar­beit mit der liby­schen Küsten­wache ist Teil einer grös­seren Verschär­fungs­stra­tegie seitens Europas. Was spielt sich zurzeit auf dem Mittel­meer ab?

 A.S.: Im Moment befindet sich kein einziges ziviles Rettungs­boot mehr in den Such- und Rettungs­zonen im Mittel­meer. Fünf solche Rettungs­schiffe wären aber eigent­lich noch aktiv. Die Moon­bird, das Aufklä­rungs­flug­zeug, welches die Gefah­ren­zonen über­flog, wird in Malta festgehalten.

O.A.: Die Seenotretter*innen werden gezielt an ihrer Arbeit gehin­dert [siehe Infobox]. Einige müssen sich vor Gericht vertei­digen, weil ihnen vorge­worfen wird, Schlepper*innen zu unter­stützen. Zudem wurden die Rettungs­ein­sätze inef­fi­zient, seit die Schiffe nicht mehr sofort an euro­päi­schen Häfen anlegen können und statt­dessen während Wochen unter unzu­mut­baren Zuständen auf offener See ausharren müssen. Das ist auch eine Geld­frage: Ein Einsatz, der so lange dauert, ist viel teurer. Einige Orga­ni­sa­tionen mussten deshalb auch aus finan­zi­ellen Gründen aufhören.

Diese Wirkung ist erwünscht. Die euro­päi­schen Politiker*innen betreiben Macht­spiele auf dem Rücken der Geflüch­teten. Hinzu kommt, dass es sich bei der Seenot­ret­tung ange­sichts des poli­ti­schen Klimas in Europa nicht einfach um eine huma­ni­täre Hilfe­lei­stung handelt. Sie ist heute ein Akt des zivilen Unge­hor­sams, ein poli­ti­sches State­ment. Früher waren 14 Rettungs­schiffe auf dem Mittel­meer aktiv. Viele NGOs, die früher Seenot­ret­tung betrieben, werden von einzelnen grossen Geld­ge­bern finan­ziert. Poli­ti­sche Aktion und ziviler Unge­horsam entspre­chen nicht deren Inter­essen: Die Seenot­ret­tung ist ein heikles Enga­ge­ment. Wir vermuten, dass sich deswegen so viele NGOs seit der poli­ti­schen Verschär­fung zurück­ge­zogen haben. Die Orga­ni­sa­tionen, die heute noch aktiv sind, finan­zieren sich fast alle mit Hilfe von Kleinspender*innen.

A.S.: Und weil alle unab­hän­gigen Orga­ni­sa­tionen daran gehin­dert werden, sich in den Such- und Rettungs­zonen aufzu­halten, weiss niemand, was dort genau vor sich geht. Das Mittel­meer ist zurzeit eine Blackbox. Ohne zivile Such- und Rettungs­schiffe können kaum mehr Menschen­rechts­ver­let­zungen doku­men­tiert werden. Dass die Flüge der Moon­bird verhin­dert werden, die ja selber gar keine Rettungen durch­führen kann, macht klar, dass das poli­ti­sches Kalkül ist: Was dort passiert, ist nicht für die Augen der Öffent­lich­keit bestimmt. Einzig das Alarm­phone hat noch die Möglich­keit, von Geflüch­teten in Seenot zu erfahren. Wir sind zwar nicht mit einem Schiff und einer Kamera vor Ort, aber erhalten immerhin noch tele­fo­nisch Infor­ma­tionen. Die Auswir­kungen dieser Politik sind verhee­rend. Allein im Juni sind mehr als 600 Personen im Mittel­meer ertrunken.

Das Lamm: Es ist zudem von einer hohen Dunkel­ziffer auszu­gehen. Habt ihr einen Anhaltspunkt?

O.A.: Die Küsten­wa­chen publi­zieren fast nur Erfolgs­ge­schichten. Sie veröf­fent­li­chen in der Regel nur Zahlen von geret­teten Personen. Erst kürz­lich etwa wurden mehrere tote Körper an die tune­si­sche Küste gespült. Niemand weiss, was da passiert ist. Das Drama spielte sich völlig unbe­merkt ab. Solche Ereig­nisse geben einen Hinweis darauf, wie hoch diese Dunkel­ziffer ist.

A.S.: Ein anderes Beispiel: Das Rettungs­schiff Sea-Watch erhielt den Notruf eines Boots, auf dem sich 180 Personen befanden. Aber das Schiff war zu weit entfernt, ein anderes Rettungs­schiff schritt ein. Ich glaube, es war eines der italie­ni­schen Küsten­wache. Als es die Personen in Not erreichte, war ihr Boot bereits dabei, unter­zu­gehen. 70 Menschen konnten gerettet werden, 20 Leichen wurden geborgen. Diese Zahlen wurden veröf­fent­licht. Die anderen 90 Personen, die zu diesem Zeit­punkt bereits ertrunken waren, wurden nirgends erwähnt. Sie sind nicht einmal mehr eine Nummer in einer Statistik.

Das Lamm: Die Situa­tion auf dem Mittel­meer ist also so drastisch wie noch fast nie. Wie geht ihr damit um?

A.S.: Die Seebrücke-Demos sind sicher ein Weg. Das war auch unsere Initia­tive, mitt­ler­weile sind etwa 50 Orga­ni­sa­tionen invol­viert. Es ist jetzt entschei­dend, auf der Strasse poli­ti­schen Druck aufzu­bauen und unsere Forde­rung zu formu­lieren: Es braucht sichere Flucht­wege, eine stär­kere Seenot­ret­tung, sichere Häfen – und soli­da­ri­sche Städte.

Das Alarm­phone finan­ziert sich über Spenden: „Die Tele­fon­rech­nungen müssen bezahlt werden.„
Spen­den­konto: Watch The Med Alarm­phone Schweiz, PC: 61–172503‑0, IBAN CH21 0900 0000 6117 2503 0

Eben­falls drin­gend benö­tigt werden funk­ti­ons­tüch­tige Smart­phones, mit Hilfe derer Geflüch­tete Kontakt zum Alarm­phone aufnehmen können. Kontakt: info(at)alarmphone.ch

 


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