Der Femi­nismus als Takt­geber der Revolte in Chile

Das neoli­be­rale Staats­mo­dell in Chile gerät zuneh­me­nend ins Wanken, daran können auch die Menschen­rechts­ver­let­zungen durch die Regie­rung nichts ändern. Mass­geb­lich dazu beigetragen hat die femi­ni­sti­sche Bewe­gung – vereint unter der Dach­or­ga­ni­sa­tion Coor­di­na­dora Femi­nista 8M. Gast­au­torin Karina Nohales über die Erfolge und Heraus­for­de­rungen dieses Kampfes. 
"Es wird Gesetz sein". Der Kampf um das Recht auf Abtreibung war einer der Katalysatoren der feministischen Bewegung in Chile. (Foto: Caterina Muñoz)

Am 18. Oktober 2021, dem zweiten Jahrestag des Beginns der Okto­ber­re­volte in Chile, debat­tiert der Verfas­sungs­kon­vent zum ersten Mal über den Inhalt der neuen Verfas­sung. Im Herzen der Verän­de­rungen sind Perspek­tiven der Pluri­na­tio­na­lität, der Ökologie und des Femi­nismus. Es ist der erste verfas­sungs­ge­bende Prozess welt­weit, in dessen zentralem Organ gleich viele Männer und Frauen sitzen, und die erste Insti­tu­tion des Landes mit Quoten für die indi­genen Völker.

Auch wir, die Coor­di­na­dora femi­nista 8M, sind mit der Dele­gierten Alondra Carillo im Konvent vertreten. Sie wird in der Arbeits­kom­mis­sion 1 über die zukünf­tige Staats- und Regie­rungs­form Chiles debat­tieren und erste Vorlagen an den Konvent zur Abstim­mung über­geben. Für uns als soziale Bewe­gung ist das eine enorme Heraus­for­de­rung. Bislang waren wir darauf konzen­triert, soziale Forde­rungen aufzu­stellen, heute sind wir daran betei­ligt, den Kern des zukünf­tigen poli­ti­schen Systems neu zu definieren.

In diesem Prozess werden die histo­risch ausge­schlos­senen Gruppen eine Stimme erhalten, Initia­tiven aufstellen und über wich­tige Themen wie Grund­rechte und poli­ti­sche Teil­nahme entscheiden können. In einem Klima der poli­ti­schen Pola­ri­sie­rung werden die poli­ti­schen Kräfte von unten eine der kraft­voll­sten Sprüche der Revolte wahr machen müssen: „Der Neoli­be­ra­lismus wurde in Chile geboren und wird in Chile sterben.“

Wie ist es dazu gekommen?

Femi­ni­sti­sche Kräfte gegen Chiles neoli­be­rales Staatsmodell

Am 9. Oktober 2019 sprach der chile­ni­sche Präsi­dent Seba­stián Piñera vor inter­na­tio­naler Presse von einer chile­ni­schen „Oase inner­halb eines erschüt­terten Latein­ame­rikas“. Erst vor Kurzem gab es landes­weite Proteste in Ecuador, Boli­vien hatte einen Staats­streich erlebt und in Peru folgte inner­halb von Monaten ein Präsi­dent nach dem anderem. Doch Chile schien ruhig – zumin­dest in den Augen des Unter­neh­mers und rechten Präsi­denten Piñera.

Er täuschte sich: Nur eine Woche nach seiner Rede begann in Chile eine Revolte bis dahin unbe­kannten Ausmasses. Der Tropfen, der das Fass zum Über­laufen brachte, war die Erhö­hung des Fahr­preises im öffent­li­chen Verkehr von Sant­iago um 30 Pesos, gerade einmal drei Rappen.

„Es sind nicht 30 Pesos, sondern 30 Jahre“, „Ich will mehr Zeit mit meinem Kind als mit meinem Chef verbringen“ oder „Bis es sich lohnt, zu leben“, schrieben die Menschen auf Plakate oder schrien es in Massen auf Demon­stra­tionen. Millionen von Menschen waren auf der Strasse, das Land stand für mehrere Tage still.

In diesen Tagen öffnete sich eine neue poli­ti­sche Perspek­tive, die die Basis der latein­ame­ri­ka­ni­schen „Oase“ ins Wanken brachte.

Für uns als orga­ni­sierte Feminist:innen kam die Revolte nicht aus heiterem Himmel. Sie war Ausdruck eines lang­jäh­rigen Unbe­ha­gens und wich­tiger Mobi­li­sie­rungen gegen die Grund­pfeiler des chile­ni­schen neoli­be­ralen Modells. Die priva­ti­sierte Alters­vor­sorge, der priva­ti­sierte Zugang zu Wasser, der unzäh­lige Gemeinden um das kost­bare Gut bringt, die Mili­tär­ein­sätze und der Land­raub im Wall­mapu – dem Ursprungs­ge­biet der indi­genen Mapuche –, das markt­ori­en­tierte Bildungs­wesen oder die patri­ar­chale Gewalt bildeten in den vergan­genen Jahren Ausgangs­punkte für zahl­reiche kleine Revolten, die zusammen den Weg zur Okto­ber­re­volte von 2019 ebneten.

Eine zentrale Rolle hat hierbei die femi­ni­sti­sche Massen­be­we­gung gespielt, die seit 2018 das poli­ti­sche Geschehen mass­ge­bend geprägt hat. In nur wenigen Jahren entwickelte sich aus einer Bewe­gung mit Forde­rungen wie dem Ende der Femi­zide oder dem Recht auf Abtrei­bung eine poli­ti­sche Alter­na­tive, die alle Gesell­schafts­be­reiche durch­dringt und auf Basis einer femi­ni­sti­sche Analyse der Realität Perspek­tiven zum Wandel vorantreibt.

Mitt­ler­weile sind femi­ni­sti­sche Ideen in allen poli­ti­schen Räumen vertreten, von der Gewerk­schafts­ar­beit über die parla­men­ta­ri­sche Politik bis hin zu sozialen Basisorganisationen.

Als wir am 8. März 2019 erst­mals zum femi­ni­sti­schen Gene­ral­streik aufriefen, ging es nicht mehr nur um „Frau­en­themen“, wir stellten ein ganzes Programm gegen die Preka­ri­sie­rung des Lebens auf. Es ging um Grund­rechte wie das Recht auf ein Zuhause oder das Recht auf ein Leben in einer sauberen Umwelt. Wir haben eine struk­tu­relle Kritik an den herr­schenden Verhält­nissen ange­bracht und die verschie­denen poli­ti­schen Kämpfe unter dem Deck­mantel einer femi­ni­sti­schen Analyse der Realität vereint.

Karina Nohales ist Teil der chile­ni­schen Coor­di­na­dora Femi­nista 8M, eine Dach­or­ga­ni­sa­tion, die die meisten femi­ni­sti­schen Orga­ni­sa­tionen des Landes vereint. Zwischen den Jahren 2019 und 2020 war sie Spre­cherin der Coordinadora. 

Der Femi­nismus hält die Revolte am Leben

Die Okto­ber­re­volte von 2019 begann in Sant­iago, der Haupt­stadt, jedoch veran­lasste die Reak­tion der Regie­rung – Ausru­fung des Ausnah­me­zu­stands, nächt­liche Ausgangs­sperre und Einsatz des Mili­tärs gegen Demon­strie­rende – das ganze Land dazu, aufzu­stehen. Nach vier Wochen der Mobi­li­sie­rungen einigten sich die meisten Parteien mit Vertre­tung im Parla­ment auf einen verfas­sungs­ge­benden Prozess, um die umstrit­tene Verfas­sung von 1980 hinter sich zu lassen.

Diese Verfas­sung wurde während der Mili­tär­dik­tatur von 1973 bis 1990 geschrieben und stellt die Basis für das neoli­be­rale Modell des Landes dar. Hier wird das Privat­ei­gentum über soziale Grund­rechte gesetzt und die tradi­tio­nelle Kern­fa­milie als Basis der Gesell­schaft verankert.

Nach Meinung der Parlamentarier:innen sollte das Abkommen die Proteste für beendet erklären. Doch auch danach hielt die femi­ni­sti­sche Bewe­gung die Revolte über Monate am Leben. Wenige Tage vor den ersten Mass­nahmen zur Bekämp­fung der Corona-Pandemie kamen allein in Sant­iago über zwei Millionen Frauen zum 8. März zusammen. Das ist mehr als ein Viertel der gesamten Bevöl­ke­rung der Hauptstadt!

Breite Teile der sozialen Bewe­gungen mobi­li­sierten ihre Kräfte, um den verfas­sungs­ge­benden Prozess zu beein­flussen. Die Feminist:innen im Parla­ment brachten die Quoten­re­ge­lung ein und erkämpften erst­mals die Möglich­keit, dass partei­un­ab­hän­gige Wahl­li­sten teil­nehmen konnten. Schluss­end­lich gewannen die Bewe­gungen mehrere Sitze im Verfas­sungs­kon­vent, das mit der Ausar­bei­tung der neuen Verfas­sung beauf­tragt ist. Die rechten Parteien ergat­terten nur einen sehr kleinen Teil der 155 Sitze.

Menschen­rechts­lage nichts­de­sto­trotz auf dem Tiefpunkt

Trotz aller Erfolge erlebt Chile einen kontra­dik­to­ri­schen Augen­blick. Die Menschen­rechts­lage hat einen histo­ri­schen Tief­punkt erreicht. Bislang herrscht komplette Straf­lo­sig­keit bezüg­lich der durch die Regie­rung began­genen syste­ma­ti­schen Menschen­rechts­ver­let­zungen seit Beginn der Revolte.

Mehr als vierzig Personen wurden im Kontext von Demon­stra­tionen ermordet, über 500 Personen haben durch Schüsse der Polizei minde­stens ein Auge verloren, mehr als 5’000 Menschen haben bislang Anzeige gegen staat­liche Sicher­heits­kräfte aufgrund von erlebten Menschen­rechts­ver­let­zungen gestellt, minde­stens 500 Personen erlebten sexua­li­sierte Gewalt während der Revolte, und schluss­end­lich befinden sich unzäh­lige junge Aktivist:innen in poli­ti­scher Haft aufgrund der Teil­nahme an Demon­stra­tionen. Zudem setzt die Regie­rung zuneh­mend das Militär gegen die indi­genen Mapuche ein, zuletzt rief die Regie­rung am 12. Oktober in mehreren Provinzen im Süden des Landes den Ausnah­me­zu­stand aus.

Die Repres­sion ist Teil des Alltags geworden und scheint die einzige Form zu sein, in der die Regie­rung auf soziale Forde­rungen reagiert. Mit histo­risch tiefen Zustim­mungs­werten erwartet den Präsi­denten derzeit eine Verfas­sungs­klage vonseiten des Parla­ments, nachdem die Pandora Papers Korrup­ti­ons­vor­würfe gegen ihn bekannt machten und die Staats­an­walt­schaft ange­kün­digt hat, zu ermitteln.

Am 21. November finden die entschei­denden Präsi­dent­schafts­wahlen für die Zukunft des Landes statt. Während auf der linken Seite der ehema­lige Studie­ren­den­führer Gabriel Boric gute Chancen hat, gewählt zu werden, versam­melt sich die poli­ti­sche Rechte um den Neofa­schi­sten José Antonio Kast. Der Sohn von Nazis, die nach dem Zweiten Welt­krieg vor der Justiz der Alli­ierten nach Chile flohen, hat zwar keine reali­sti­schen Erfolgs­aus­sichten, aber wird nach der Wahl wohl eine Führungs­po­si­tion in der poli­ti­schen Rechten über­nehmen und mit seinen anti­de­mo­kra­ti­schen Vorstel­lungen die linken Kräfte vor einige Heraus­for­de­rungen stellen.


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