Die Kunst, zu irritieren

Poli­ti­sche Kunst erlebt gerade ein Revival, das in allen Gattungen sichtbar ist: Theater, bildende Kunst, Perfor­mance, Lite­ratur. Doch kann Kunst die Macht­ver­hält­nisse noch immer irri­tieren, wie Max Frisch es einst forderte? Eine Bestandsaufnahme. 
Für die Griechen — oder doch eher für das eigene Gewissen? Der Parthenon of Books an der documenta 14. (CC by Lynne Hand)

Die docu­menta 14 ging letzte Woche ihrem Ende zu – endlich, werden viele sagen. Denn die zur Hälfte in Athen und zur anderen Hälfte in Kassel durch­ge­führte Schau wurde harsch kriti­siert. In der Zeit beispiels­weise erklärte Hanno Rauter­berg sie unter der Schlag­zeile „Im Tempel der Selbst­ge­rech­tig­keit“ für „krachend geschei­tert“. Ange­sichts des poli­ti­schen Anlie­gens der docu­menta – sie sollte als meta­pho­ri­scher deut­scher Arm, ausge­streckt in Rich­tung Grie­chen­land, fungieren – blieb Rauten­berg nichts, als sarka­stisch zu spöt­teln: „Schulden bleiben Schulden, liebe Grie­chen, doch bekommt ihr einen prima Platz auf unserer schönen Kunst­schau. Na gross­artig!“. Poli­ti­sche Kunst also, wie man sie nicht machen sollte.

„Die Funk­tion der Poesie in der Gesell­schaft ist die perma­nente Irri­ta­tion, dass es sie gibt. Nichts weiter”, schrieb Max Frisch. Eine Einschrän­kung macht er dann aller­dings doch: „Jede Kolla­bo­ra­tion mit der Macht, auch mit einer demo­kra­ti­schen Macht, endet mit einem tödli­chen Selbst­miss­ver­ständnis der Kunst. Ihr Ort ist nicht ein Foyer der CHASE MANHATTAN BANK. Dort wird sie zur Affir­ma­tion, zur Deko­ra­tion der Macht.” Braucht es also doch ein biss­chen mehr, damit Kunst nicht zur blossen Deko­ra­tion verkommt? Max Frisch ist zwar lange tot, doch solche Fragen sind jetzt, da die Welt in Aufruhr scheint und Künst­le­rInnen sich vermehrt poli­tisch zeigen, aktu­eller denn je.

Für die Griechen - oder doch eher für das eigene Gewissen? Der Parthenon of Books an der documenta 14. (CC by Lynne Hand)
Für die Grie­chen — oder doch eher für das eigene Gewissen? Der Parthenon of Books an der docu­menta 14. (CC by Lynne Hand)

Von Entköp­pe­lung bis Action!

Auch in der Schweiz mischen sich Künst­le­rInnen in den poli­ti­schen Diskurs ein. Ein grosser Medi­en­knüller gelang im Früh­ling 2016 dem Zentrum für Poli­ti­sche Schön­heit. Das Akti­vi­stIn­nen­kol­lektiv aus Berlin sorgt regel­mässig für Aufsehen mit seiner provo­kanten Akti­ons­kunst. Bei der Perfor­mance in Zürich koope­rierte das Zentrum mit dem Theater Neumarkt. Die Aktion wurde ange­kün­digt als „Entköp­pe­lung der Schweiz“ und war ein Happe­ning mit vielen Über­ra­schungen und einer simplen Aussage: Wir finden Roger Köppel blöd. Das zog eine Beschwerde der Zürcher SVP nach sich, die empört war, dass eine solche Aktion mit öffent­li­chen Geldern finan­ziert wird. Zur Strafe wurde dem Theater das Subven­ti­ons­geld für das Jahr 2017 um 50‘000 Franken gekürzt.

Eben­falls im Früh­ling 2016 wurde im Zürcher Schau­spiel­haus „Die Schutz­be­foh­lenen“ von Elfriede Jelinek aufge­führt. Das Stück ist endlos, denn Jelinek schreibt auf ihrer Website ewig daran weiter. Es setzt sich mit Flucht und Vertrei­bung ausein­ander und verknüpft grie­chi­sche Mythen mit der aktu­ellen Lage. Das Publikum musste für die Zürcher Insze­nie­rung zwischen unter­schied­li­chen Thea­ter­bühnen in der Stadt pendeln, auf jeder wurde ein anderer Ausschnitt des Texts gezeigt, wobei jedes Stück von unter­schied­li­chen Regis­seu­rInnen und Schau­spie­le­rInnen insze­niert wurde.

Doch auch Kunst­mu­seen zeigen sich in der Schweiz enga­giert. Im Kunst­haus Zürich wurde im dies­jäh­rigen Sommer­loch die Tradi­tion der Akti­ons­kunst („Action!“ heisst das dann plump) neu aufge­wärmt. „Die Flücht­lings­krise, das Wieder­erstarken rechts­po­pu­li­sti­scher Parteien und die Infra­ge­stel­lung von grund­le­genden demo­kra­ti­schen Werten lassen die Kunst nicht kalt. Künst­le­rinnen und Künstler stemmen sich gegen Tendenzen, die die Frei­heit des Einzelnen beschneiden“ — so warb die Website. Neue Perfor­mances wurden aufge­führt und alte reinsze­niert. Und einen direkten Appell an das Publi­kums gab’s auch: Jeder Besu­cher, jede Besu­cherin wurde aufge­for­dert, einen Brief an den Papst zu unter­schreiben mit der Bitte, allen geflüch­teten Menschen Asyl in Vati­kan­stadt zu erteilen.

Rebel­len­stra­te­gien

Noch während des Kalten Kriegs war es in der Schweiz vergleichs­weise leicht, den Macht­ap­parat in Schrecken zu versetzen. Harald Nägeli, der berühmt-berüch­tigte Sprayer von Zürich, musste 1983 neun Monate Haft­strafe absitzen. Und das wegen ein paar Strich­männ­chen. Nägeli setzte die inhalt­lich harm­losen Bilder in einen skan­da­lösen Kontext. Indem er sie auf private Haus­mauern sprayte, stellte der Pionier der Streetart die Frage: Wem gehört die Strasse? So wurde nicht in erster Linie über seine Kunst gespro­chen, sondern über Eigentum – ein poli­ti­scher Durchbruch.

Davon kann bei der „Entköp­pe­lung“ nicht die Rede sein. Denn uner­hörte Fragen wurden keine gestellt. Der Grund für das Versagen: Das Zentrum für Poli­ti­sche Schön­heit spielte in einem insti­tu­tio­nellen Rahmen und versuchte, inhalt­lich zu schockieren – genau umge­kehrt also als bei Nägelis Rebel­len­stra­tegie. Das Resultat: Statt dass in der Öffent­lich­keit über Köppels Propa­gan­da­jour­na­lismus geredet wurde, ging es um Kunst­frei­heit. Das Stück lieferte letzt­lich den SVP-Kanonen Muni­tion für ihre immer glei­chen Angriffe auf Kultur­schaf­fende und Intel­lek­tu­elle. Natür­lich ist es trotzdem ein Skandal, dass dem Theater Neumarkt Subven­ti­ons­gelder gestri­chen wurden. Kunst darf schlecht und irrele­vant sein – keine Frage.

Früher Zündstoff, heute sorgfältig restauriert: Nägelis „Undine" an der UZH, eines der wenigen erhaltenen Originale aus den Siebzigern. (cc by anbraendle)
Früher Zünd­stoff, heute sorg­fältig restau­riert: Nägelis „Undine“, eines der wenigen erhal­tenen Origi­nale aus den Sieb­zi­gern. (CC by anbraendle)

Insti­tu­tio­nellen Schaden rich­tete das meist­re­zen­sierte Werk auf der docu­menta 14 zwar keinen an, zahnlos blieb er trotzdem, der über­le­bens­grosse Parthenon der Künst­lerin Marta Minujìn. Ein Gerüst aus Stahl wurde mit gespen­deten Büchern verkleidet. Einzige Forde­rung an die Spen­de­rInnen: Das Buch sollte irgend­wann und irgendwo einmal verboten gewesen sein. Dieses irgend­wann und irgendwo machte das Werk unheim­lich beliebig. Ein Symbol der Demo­kratie, behängt mit Büchern, die wie Narben an den Kampf um Frei­heit erin­nern sollen. Das ist zudem nicht beson­ders gewagt: Demo­kratie gut, Zensur schlecht – diese Meinung ist in Deutsch­land nicht kontro­vers. Anstatt kriti­sches Denken zu verlangen oder Handeln zu provo­zieren, bediente die Künst­lerin eine gefäl­lige Posi­tion. Damit ist die Kunst nicht Irri­ta­tion, sondern Affir­ma­tion. Nicht unbe­dingt Affir­ma­tion der Macht, aber doch Affir­ma­tion einer unkri­ti­schen Haltung, die die Macht nicht hinterfragt.

Ähnli­ches gilt für den „Schutzbefohlenen“-Marathon. Zwischen den einzelnen 15-minü­tigen Auffüh­rungen musste man während 45 Minuten die Zeit totschlagen. War das ein Mittel, um uns zu zeigen, wie eben auch Menschen auf der Flucht viel rumwarten müssen? Viel­leicht. Aber um diese Betrof­fen­heit geht es in Jelineks Stück nicht. Dort werden die Flos­keln, die in der Diskus­sion um Migra­tion oft auftau­chen, entlarvt: „Die Kenntnis Ihrer Werte haben Sie uns vermit­telt, vielen Dank, wir können sie nach­lesen und steigen jetzt auf dieses Funda­ment der gemein­samen Werte, wir wollen die Grund­lage dieser Gesell­schaft kennen­lernen, bitte sagen Sie uns, wie wir zu dieser Grund­lage kommen können, damit wir dann von dort aus auf das Funda­ment der Werte steigen können, bevor die noch auf uns draufsteigen.“ 

Damit wird gezeigt: Was wir hier von unseren euro­päi­schen Werten faseln, hat über­haupt nichts mit den Menschen auf der Flucht zu tun. Die Zürcher Insze­nie­rung des Textes war hingegen ein Wohl­fühlstück, ähnlich dem Parthenon, das den Zuschaue­rInnen verge­wis­serte: Ihr steht auf der rich­tigen Seite! Ihr seid die Guten! Weder eine Ausein­an­der­set­zung mit dem Text, noch eine ernst­hafte Ausein­an­der­set­zung mit den drän­genden poli­ti­schen Fragen kamen aufs Tapet.

Die Schutzbefohlenen am Wiener Burgtheater 2016. (CC by Francisco Peralta Torrejon)
Die Schutz­be­foh­lenen am Wiener Burg­theater 2015. (CC by Fran­cisco Peralta Torrejon)

Anders bei der Gruppe Kunst+Politik. Sie soll ein Gefäss für Kultur­schaf­fende sein, mit dem diese sich in poli­ti­sche Debatten einbringen können. Der Vorteil: Das Projekt wird weder von einem Geld­geber unter­stützt, noch hängt es an einer Insti­tu­tion. Es handelt sich ledig­lich um ein loses und ehren­amt­li­ches Netz­werk von Kultur­schaf­fenden. Bisher entstanden Text­samm­lungen und poli­ti­sche Kunst­ak­tionen. Die Gruppe Kunst+Politik will sich auch direkt poli­tisch enga­gieren. So stellte sie bei den Natio­nal­rats­wahlen 2015 eine eigene Liste. Für einen Sitz im Rat hat es aber nicht gereicht. Kunst+Politik ist ein wilder, bunter und kämp­fe­ri­scher Ideen­strauss, der das Poten­zial hätte, die Schweizer Kunst­szene zu poli­ti­sieren und die Politik aufzumischen.

Blosse Affir­ma­tion

Es ist offen­sicht­lich, dass viele zeit­ge­nös­si­sche Künst­le­rInnen sich nicht damit zufrie­den­geben, dass Kunst durch ihre blosse Existenz irri­tieren soll, so, wie Max Frisch das einst prokla­mierte. Sie wollen auch poli­ti­sche Inhalte vermit­teln. Nur: Ein poli­ti­sches Thema allein macht noch keine poli­ti­sche Kunst. Die Gefahr, dass Kunst Macht­ver­hält­nisse verklärt, anstatt sie aufzu­decken, ist gross – das nennt man dann Polit­kitsch. Der Grund ist viel­leicht, dass viele Künst­le­rInnen mit der Macht koope­rieren. Die docu­menta, das Schau­spiel­haus, das Theater Neumarkt – das sind alles insti­tu­tio­na­li­sierte Formen der Kunst. Sie alle sind abhängig von öffent­li­chen und privaten Geld­ge­bern. Zwar nicht immer ganz so offen­sicht­lich wie bei der sich als subversiv und revo­lu­tionär geba­renden Ausstel­lung „Action!“ – sie wurde von der Swiss Re haupt­fi­nan­ziert. Und doch gilt bei genauerem Hinsehen leider für den Gross­teil aktu­eller Kunst Frischs Zusatz­be­mer­kung: Sie ist Affir­ma­tion, blosse Dekoration.


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