Die Welt der Incels: Mehr als nur Frauenhass

Es ist die Welt der Chads und Stacys, das Land, wo Black­pills gedealt werden und Normie-Tears fliessen: Will­kommen in der Incel-Commu­nity! Späte­stens seit dem Anschlag in Toronto 2018 sind die unfrei­willig Zöli­ba­t­ären auch in den Leit­me­dien ange­kommen. Doch die Bericht­erstat­tung war oft einseitig – und igno­riert einen Kampf, der seit den 90er-Jahren off- und online tobt. 
Milo Yiannopoulos war lange der medienwirksamste Vertreter der antifeministischen Onlinebewegung und Frontkämpfer in der #Gamegate-Diskussion. (CC by Wikicommons)

Houston, Texas, August 1992. George H. W. Bush befindet sich mitten im Wahl­kampf für seine Wieder­wahl als 41. Präsi­dent der Verei­nigten Staaten. Für die Eröff­nungs­rede der Voll­ver­samm­lung der repu­bli­ka­ni­schen Partei betritt Pat Buchanan die Bühne. In den Monaten zuvor war er als mögli­cher Kandidat an Georg H. W. Bush in den partei­in­ternen Vorwahlen geschei­tert. Buchanan wird sich in seiner halb­stün­digen Brand­rede über Abtrei­bungen auf Bestel­lung [sic!], über die Rechte von Homo­se­xu­ellen und über Frauen im Militär echauf­fieren. Er wird sich über die Demo­kra­tInnen und über radi­kale Libe­rale aufregen. Und er wird einen Krieg ausrufen, der sich an den Fronten der sexu­ellen Orien­tie­rung, der Iden­tität und der Popu­lär­kultur abspielen soll.

Pat Buchanan gibt am 17. August 1992 den gesell­schaft­li­chen Verwer­fungen, die bereits in den 60er-Jahren von Vize­prä­si­dent Sprio Agnew ausfor­mu­liert wurden, den Namen „Kultur­krieg“. Es ist ein Krieg, der bis heute die poli­ti­sche Realität in den Verei­nigten Staaten mass­geb­lich bestimmt – und in dessen Schüt­zen­gräben heute eine obskure Gruppe von männ­li­chen Online-Usern Stim­mung gegen Frauen, Männer und Multi­kul­tu­ra­lismus macht. Die Gruppe gibt sich den Namen „Incel“ – ein Begriff, der eigent­lich einmal Ausdruck der Inter­net­eu­phorie der 90er-Jahre war und nichts mit den heute ausufernden Diskri­mi­nie­rungen am Hut hatte.

Unfrei­willig im Zölibat

Es sind nämlich nur wenige Jahre seit Buchanans Brand­rede vergangen, als sich eine kana­di­sche College-Studentin entscheidet, ihren Mangel an sexu­ellen Erfah­rungen auf einer Home­page zu thema­ti­sieren. Sie gründet 1997 eine Mailing­liste mit dem Titel „Alana’s Invol­un­tary Celi­bacy Project“, welche Menschen mit unbe­frie­di­gendem Sexleben eine Platt­form für Austausch und Trost bieten soll. Wir befinden uns mitten in der Phase des Cyber-Utopismus. Es herrscht der Glaube vor, dass Inter­net­com­mu­ni­ties einen eman­zi­pa­to­ri­schen Einfluss auf die Gesell­schaft haben werden, dass hier­ar­chi­sche Struk­turen zu einem Ding der Antike werden und durch den Cyber­space die demo­kra­ti­sche Parti­zi­pa­tion und Gleich­heit aller mit Inter­net­zu­gang gestärkt werden kann.

Diesem naiven Opti­mismus verfällt auch Alana: Das Internet hatte ihr geholfen, ihre eigene Sexua­lität zu finden. Durch den Inter­net­zu­gang erfuhr sie, dass sie sich nicht nur von Männern, sondern auch von Frauen ange­zogen fühlt. Warum also sollte das Internet nicht auch andere befreien?

Gegen die zweite Welle des Feminismus

Doch Alana fällt bald auf: Obwohl die Seite seit ihrem Launch 1997 von Männern und Frauen glei­cher­massen besucht wird, sind es vor allem die Männer, die sich ständig über ihre fehlenden roman­ti­schen Erfah­rungen beklagen und betont feind­lich auftreten.  2004 gibt Alana ihre Home­page an eine unbe­kannte Person weiter – erst zehn Jahre später wird ihr die Spreng­kraft der Incel-Commu­nity bewusst werden. Längst hatte sich die Gruppe auf Foren wie Reddit, 4chan, 8chan und incel.me ausge­breitet. Inzwi­schen ist sie zu einer Grup­pie­rung geworden, die sich Alanas Wort­schöp­fung nicht nur ange­eignet und exklusiv vermänn­licht, sondern auch perver­tiert hat.

Das passte zur allge­meinen Stim­mung, die sich gegen­über dem soge­nannten Second-Wave-Femi­nismus in den 1990er-Jahren breit macht. Hatte sich die Männer­rechts­be­we­gung am Anfang noch parallel zum Femi­nismus entwickelt, iden­ti­fi­zierten Femi­ni­stinnen und Jour­na­li­stinnen wie Susan Faludi in den 90er-Jahren eine zuneh­mend heftige Reak­tion der Medien und Männer gegen femi­ni­sti­sche Forde­rungen. Als ob sie sich anschickten, die These von Faludi’s Buch Back­lash: The Unde­clared War Against American Women aus dem Jahr 1991 zu bestä­tigen, schrieben männ­liche Autoren wie Warren Farrell (1993) oder Neil Lyndon (1992) gegen den „Mythos von männ­li­chem Privileg“ und „das Versagen des Femi­nismus“ an und fanden bei einer wach­senden Leser­schaft Anklang.

Die Frau­en­be­we­gung wurde von den Medien, Poli­ti­kern und Männer­rechts­be­we­gungen zum wahren Feind der Frauen erklärt. Diese antago­ni­sti­sche Haltung gegen­über den funda­men­tal­sten Forde­rungen der Frau­en­be­we­gung hat sich bis heute gehalten. In den anony­mi­sierten Foren der modernen Incel-Commu­nity wird der Anti­fe­mi­nismus mit Memes und erra­ti­schen Diskus­sionen ausge­lebt. Getrieben wird das ganze durch die zweite Cyber-Utopie, welche die freie Meinungs­äus­se­rung und die Commu­nity ins Zentrum stellt. JedeR soll sagen können, was er oder sie will – anonym und mit grosser Reichweite.

Incels: Zwischen Verzweif­lung, Hass und Selbstmitleid

Späte­stens aber die Amok­fahrt von Toronto vom 23. April 2018 verdeut­lichte, dass sich die Incel-Commu­nity zu einer poten­ziell gefähr­li­chen, dezen­tralen Bewe­gung entwickelt hat. Der 25-jährige Amok­fahrer Alek Minas­sian, der mit seinem Liefer­wagen 10 Menschen tötete und 15 weiter verletzte, hinter­liess ein Beken­ner­schreiben, welches sich wie ein Shout-out an die Inter­net­ge­meinde liest: „Die Incel-Rebel­lion hat bereits begonnen! Wir werden die Chads und Stacys stürzen!“

Wie so oft im Internet, bedient sich auch die Incel-Commu­nity einer eigenen Sprache. Männer, die sexuell aktiv sind, werden „Chads“ genannt. Attrak­tive, ‚hyper­fe­mi­nine‘ Frauen gelten als „Stacys“. Durch­schnitt­liche Frauen erhalten hingegen die Bezeich­nung „Beckys“. In der inneren Logik der Commu­nity mono­po­li­sieren Chads das sexu­elle Spiel­feld, indem sie einen Harem von Stacys und Beckys um sich scharen – mit der Konse­quenz, dass die „Dick­cels“ (Incels mit einem kleinen Penis), „Mental­cels“ (Incels mit einer psychi­schen Krank­heit) und „Curry­cels“ (Indi­sche Incels) dieser Welt zu einem Leben ohne Geschlechts­ver­kehr verdammt sind. Wer das reali­siert, der hat – in Anleh­nung an die berühmte Matrix-Meta­pher – die „Black­pill“ geschluckt. Schon die Alt-Right-Bewe­gung bediente sich mit dem red pilling derselben Popkulturreferenz.

Viele in der Incel-Commu­nity sind auch in Suizid- oder Drogen­foren aktiv, einige stehen offen zu ihren psychi­schen Krank­heiten. Das passt durchaus zur inneren Logik: Entweder akzep­tiere man dann sein Schicksal („cope“) oder man beendet sein Leben („rope).

Alex Minas­sian rief in seinem Mani­fest zu einer Revo­lu­tion gegen die Chads und Stacys auf – und widmete seine Bluttat gleich­zeitig Elliot Rodger, der 2014 sechs Menschen an der Univer­sity of Cali­fornia tötete. Wie schnell bekannt wurde, war Rodger Teil verschie­dener Online­com­mu­ni­ties der „Manos­phere“ – dem losen Inter­net­netz­werk, welches neben Blogs rund um Männer- und Vater­rechts­an­liegen auch die Incels und Pickup-Artists behei­matet. Aus seinen Beiträgen wurde klar, dass die Gründe für sein Massaker in einem tief­grei­fenden Hass gegen­über Frauen verwur­zelt sind.

Von den ameri­ka­ni­schen Leit­me­dien wurde sein Inter­net­leben als Symbol einer neuen Art von Frau­en­hasses disku­tiert – in der Welt der Incels wurde er zum Märtyrer hoch­sti­li­siert. Aber auch in der Schweiz wurde im Nachzug des Toronto-Atten­tats das Phänomen durch­de­kli­niert. Der Tages-Anzeiger disku­tierte den „Terror aus Frau­en­hass“ und Watson titelte stil­voll: „Die Rebel­lion der unge­fickten Männer kommt aus dem Internet! Ein Experte erklärt ‚Incel‘ .

Mehr als Frauenhass

Gerade letz­teres Beispiel steht stell­ver­tre­tend für die ober­fläch­liche Betrach­tung des Phäno­mens. Klar, der Fokus auf die frau­en­ver­ach­tende Ideo­logie der Incels ist wichtig – und nur verständ­lich, wenn man auf Reddit, 4chan, incels.me und lookism.net Posts wie diesen liest: „My fantasy is a sexu­ally repressed virgin wife. We would fuck like there’s no tomorrow to get all that sexual repres­sion out, and virgin brides have been shown to be extre­mely loyal because she doesn’t have anyone else to compare you with sexually.“

Doch so berech­tigt die Kritik und Empö­rung über solche Posts auch ist, darf nicht vergessen werden, dass Frau­en­hass im Internet keine Eigen­heit der Incel-Commu­nity ist. Viel­mehr ist er eine Realität, mit der alle Frauen, die in irgend­einer Form online eine Meinung äussern, konfron­tiert sind. Als Anita Sarkee­sian, eine Femi­ni­stin und selbst­er­klärte Video­spiel­e­lieb­ha­berin, ein Projekt zur femi­ni­sti­schen Analyse der Game-Indu­strie star­tete, wurde sie mona­te­lang mit Mord­dro­hungen und Hack­an­griffen bombar­diert. Die Kontro­verse ging als #Game­gate in die Inter­net­ge­schichte ein. Eine Studie der Inter­net­si­cher­heits­firma Norton aus dem Jahr 2016 zeigt, dass 76% aller Frauen unter 30 Jahren Belä­sti­gungen im Internet erlebt haben. Unsere Gesell­schaft laufe Gefahr, dass die Schi­ka­nie­rung von Frauen im Internet zur Norm werde, so das Fazit der Studie.

Die einsei­tige Konzen­tra­tion auf den Frau­en­hass in der Incel-Commu­nity lässt den Sexismus als Phänomen einer dunklen Ecke des Inter­nets erscheinen. Dabei gehören frau­en­ver­ach­tende Kommen­tare zur leidigen Realität von Kommen­tar­spalten, Blog­ein­trägen und Internetforen.

Die Ideo­logie der Incels ist inter­sek­tional – sie verbindet wahl­weise rassi­sti­sche und sexi­sti­sche Ansichten, verbreitet Verschwö­rungs­theo­rien und unter­gräbt die poli­ti­sche Korrekt­heit. Was aber die meisten Leit­me­dien – und Incels – nicht verstanden haben, ist die Tatsache, dass im Zentrum der Commu­nity vor allem das Schei­tern an Männ­lich­keits­idealen steht. Weil sich viele der Medi­en­be­richte ausschliess­lich auf die frau­en­ver­ach­tenden Kommen­tare konzen­trierten, geht oft vergessen, dass sich ein grosser Teil der Diskus­sionen in Tat und Wahr­heit um das Aussehen und Verhalten von Männern dreht. Und das erschwert die Analyse des Phänomens.

Schei­tern am Patriarchat

Während der klas­si­sche Onlines­exismus oft als eine chau­vi­ni­sti­sche Gegen­re­ak­tion auf die sensible linke Online­kultur erklärt wird, zeichnen sich die Mitglieder der Incel-Commu­nity vor allem durch ihre ausge­prägten und öffent­lich disku­tierten und bebil­derten Minder­wer­tig­keits­kom­plexe aus. Unter dem Hashtag #amiugly laden Incels Bilder von sich hoch und lassen sich von anderen auf einer Skala von eins bis zehn bewerten. Wer in den Augen der Commu­nity zu hübsch für das Incel-Dasein ist, wird als „Volcel“ – volun­tary celi­bate – abge­stem­pelt. Immer wieder werden Schön­heits­stan­dards, welche die Gesell­schaft an Männer stellt, disku­tiert. Incels sehen sich als Opfer einer Gesell­schaft, in der starre Männ­lich­keits­ideale und deren Vertreter – die Chads dieser Welt – das sexu­elle Spiel­feld domi­nieren. Ihnen, die angeb­lich aus diesem Raster fallen, werde der Zugang zu sexu­ellen Erfah­rungen verwehrt.

Hier liegt die tragi­sche Ironie der Incel-Commu­nity. Die Männer, die sich als Incels bezeichnen, schei­tern an den Männ­lich­keits­bil­dern der patri­ar­chalen Gesell­schaft und wähnen sich in einem sozialen Abseits, fern von Sex und Vergnügen, aber auch fern von Liebe, Zärt­lich­keit, Treue und Bezie­hungen. Gepaart mit der Anony­mität eines Reddit-Forums und weit verbrei­tetem Frau­en­hass und Rassismus im Internet verwan­delt sich diese begründ­bare Frustra­tion in latenten Hass gegen Frauen und ethni­sche Mino­ri­täten – ironi­scher­weise also genau gegen jene Menschen, die ihrer­seits unter dem Patri­ar­chat und gesell­schaft­li­cher Normie­rung leiden. Anstatt sich etwa mit Trans*menschen, afro-ameri­ka­ni­schen Frauen oder körper­lich Behin­derten zu soli­da­ri­sieren, stimmen die Incels in den patri­ar­chalen Kanon ein.

Die Bericht­erstat­tung nach dem Attentat in Toronto igno­riert diese zentrale Dimen­sion der Ideo­logie – und feuert mit den simpli­fi­zierten Schlag­zeilen den Frust und das Gefühl der Einsam­keit der Incels weiter an.

27 Jahre Kultur­krieg – und es gibt nur VerliererInnen

Am 17. August 1992 rief Pat Buchanan den Kultur­krieg aus. Er dauert bis heute an und ist toxi­scher und gefähr­li­cher denn je. Der Tenor ist schärfer, die Fronten sind verhärtet, und die Schüt­zen­gräben liegen im dezen­tralen Internet. Heute nehmen die kultu­rellen Verwer­fungen eine zentrale Rolle ein in der Politik. Stim­mung gegen angeb­li­chen Gender­wahn und poli­ti­sche Korrekt­heit gehören längst auch in der Schweiz zum poli­ti­schen Alltag.

Zumin­dest für viele Frauen hat das Internet seine Verspre­chen nicht gehalten. Es wurde zu einem feind­li­chen Ort. Wer seine Stimme erhebt, wird meist mit wüsten Beschimp­fungen abge­kan­zelt. Der Frau­en­hass scheint späte­sten seit #Game­r­gate zur DNA des Inter­nets zu gehören. Gleich­zeitig hat die Distan­zie­rung der Männer­rechts­be­we­gung vom Femi­nismus Ende der 90er-Jahre dazu geführt, dass viele verzwei­felte Männer ihre Sorgen nicht mehr in einer struk­tu­rellen Kritik, sondern als Gegen­po­si­tion zur Frau­en­rechts­be­we­gung äussern. Wenn über­haupt jemand davon profi­tiert, dann viel­leicht selbst­er­nannte Pickup-Arti­sten — mit ihren kosten­pflich­tigen Stra­te­gien für mehr Sex — und die alter­na­tive Rechte.

Die Incel-Commu­nity ist ohne Zweifel rassi­stisch, sexi­stisch und für jedeN, der nicht bereit ist mitzu­mi­schen, ein Minen­feld aus Belei­di­gungen und Gewalt­dro­hungen. Gleich­zeitig beschränkt sich die Gewalt in den aller­mei­sten Fällen auf die (fast ausschliess­lich männ­li­chen) Foren. Wer sich inten­siver mit dem Phänomen ausein­an­der­setzt, wird merken, dass eine Verein­fa­chung der Commu­nity und deren diskus­si­ons­lose Verur­tei­lung den Kultur­krieg weiter anfeuern wird. Damit man die Ängste und Probleme der Incel-Commu­nity verstehen kann, muss man über die Kriegs­gräben hinaus­schauen. Und genau das haben wir gemacht. Wir haben mit einem Schweizer Incel gespro­chen und ihn porträtiert.

 


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