Dieser Bauernhof zeigt, wie Bauern von ihrem Gemüse leben könnten

Klein, fein und fair: Der radiesli-Hof bei Bern macht vor, wie ein klein­bäu­er­li­cher Betrieb bestehen kann. „Soli­da­ri­sche Land­wirt­schaft” heisst sein Geheimnis — und davon profi­tieren nicht nur die Bauern. 
Vier von fünfhundert zusätzlichen Händen, die beim radiesli mitgärtnern. „Den Traum vom eigenen Garten habe ich aber immer noch”, sagt radiesli-Mitglied Anita. (Foto: zVg)

Der radiesli-Hof mit kleinem R in Worb bei Bern ist eigent­lich ein Auslauf­mo­dell. Mit zehn Hektaren fällt er in die Kate­gorie der Bauern­höfe, die es in den letzten Jahren beson­ders schnell wegge­rafft hat. Ihr Bestand hat sich seit 2000 auf noch gut 10’000 Stück halbiert. Der Grund dafür: Die Produkte der Bauern sind Migros & Co. immer weniger Wert (seit 1990 hat der Real­wert der land­wirt­schaft­li­chen Erzeug­nisse um 30 Prozent abge­nommen). Deshalb können immer weniger Menschen von derselben Fläche leben. Zählte das Bundesamt für Stati­stik im Jahr 2000 noch zwei Beschäf­tigte auf zehn Hektaren, ist es heute noch eine Person, die versucht, einer solchen Fläche ein mageres Einkommen abzu­ringen. Tendenz: weiter sinkend.

Anders beim radiesli: Es kann vier Bauern durch­füt­tern mit insge­samt 250 Stel­len­pro­zenten. Wenn man noch die viele unbe­zahlte Frei­wil­li­gen­ar­beit dieser Bauern ausklam­mert, dann darf man mit Fug und Recht von „guten” Kondi­tionen spre­chen. Denn wo in der Land­wirt­schaft auch 100 Stel­len­pro­zente kaum zum Leben reichen, kann das radiesli immerhin 4’500 Franken netto pro hundert Stel­len­pro­zente ausbe­zahlen. Das ist mehr als doppelt so viel, wie ein ausge­lernter Land­wirt auf einem normalen Betrieb erwarten darf.

Doch damit nicht genug: Dank einer weiteren „Voll­zeit­stelle“ beschränkt sich der Maschi­nen­ein­satz auf ein Minimum. Und dabei werden nicht bloss das Klima und der Boden, sondern auch die Rücken der Bauern geschont. Das funk­tio­niert so: Hinter dieser zusätz­li­chen „Voll­zeit­stelle“ stecken rund 250 Menschen, die jeweils ein bis sieben ganze Tage auf dem Hof mithelfen. Im Gegenzug dürfen sie Gemüse vom Hof beziehen, neu auch Fleisch, Eier, Winter­ge­müse und Getreide. Aber nicht etwa vergün­stigt, sondern zu Preisen, die teils auch etwas über dem Bio-Durch­schnitt liegen.

„Unser Rind­fleisch ist nicht besser als das von anderen über­zeugten Biobauern”, gibt Ursina Töndury vom radiesli frei­mütig zu. „Dennoch wollen die Leute unser Fleisch. Sie finden halt auch das ganze Drum­herum gut.“ Sprich, die soli­da­ri­sche Land­wirt­schaft. Denn diese könnte nicht nur die klein­bäu­er­li­chen Betriebe retten, sondern auch ökolo­gi­sches Essen auf unsere Teller bringen und den Stadt-Land-Graben zuschütten.

„Das ist nicht jeder­manns Sache”

Wie aber funk­tio­niert diese soli­da­ri­sche Land­wirt­schaft? Anfangs klingt das Ganze nach einem ziem­lich schlechten Deal. Die „Konsu­men­tInnen“ werden zur kosten­losen Mitar­beit verpflichtet, ohne dafür einen Rabatt zu erhalten. Ja schlimmer noch, sie bezahlen teils gar Preise, die über dem Bio-Durch­schnitt liegen. Und das für Produkte, die nicht einmal verspre­chen, besser als andere zu sein.

Wer die Sache so darstellt, hat den Kern­ge­danken der soli­da­ri­schen Land­wirt­schaft aller­dings verfehlt, zu dem sich die radiesli-Mitglieder bekennen. Der zielt darauf ab, eine Versor­gung mit Lebens­mit­teln zu orga­ni­sieren, die es insbe­son­dere auch den Bauern ermög­licht, zu einem fairen Lohn (mehr als 5 Franken die Stunde) und guten Kondi­tionen (auch mal Ferien) zu arbeiten.

Das kostet nicht nur Geld, sondern auch Zeit, bringt dreckige Finger­nägel und eine einge­schränkte Gemü­se­wahl auf das, was der Boden bei Worb nach Lust und Saison gerade hergibt. „Der Verein ist nicht nur eine Gemü­se­ta­sche, sondern eine leben­dige, starke Gemein­schaft. Da muss man schon mehr teilen – das Mittag­essen bei Arbeits­ein­sätzen, das gemein­same Arbeiten, kollek­tives Disku­tieren über Anbau­pläne.“ Das sei nicht jeder­manns Sache, weiss Ursina. Wer das aber mag, dem gibt das radiesli mehr zurück: „das ganze Drum­herum“ eben.

Aber gutes Essen und gemein­same Gespräche über Gemü­se­pläne allein würden nicht ausrei­chen, um aus dem radiesli das agrar­öko­no­mi­sche Wunder zu machen, das es ist. Minde­stens drei weitere Elemente müssen dazukommen:

  • Die Ernte wird von den Mitglie­dern vorfi­nan­ziert. Dadurch haften Mitglieder und Ange­stellte soli­da­risch für Ernte­aus­fälle, und sie freuen sich doppelt über eine reiche Ernte.
  • Es werden keine Preise für Endpro­dukte in Rech­nung gestellt, sondern Preise für den Anbau. Statt: „Wieviel kostet ein Rübli?“ heisst die Frage: „Wieviel kostet es uns, 100 Quadrat­meter Rübli anzu­pflanzen?“ Dadurch werden Ernte­schwan­kungen abge­fe­dert: Die Anbau­ko­sten sind bekannt, der Ertrags­erlös ist es nicht.
  • Es gibt kein Wunsch­kon­zert. Auch zu kleines oder zu grosses, krummes und ange­knab­bertes Gemüse kommt ins Körbli. So entsteht nicht bereits auf dem Acker Food­waste – anders als bei Migros & Co., wo es nur jedes zweite (!) Rübli ins Regal schafft.

 

Das radiesli macht die einzig ökotaug­liche Werbung

Doch das radiesli tut mehr, als bloss für faire Arbeits­be­din­gungen zu sorgen. Weil sein Umsatz nicht direkt von der abge­setzten Menge abhängt, sondern von den Anbau­ko­sten, kann es sich die einzig wirk­lich ökotaug­liche Werbung leisten: die Anti-Werbung. Ihr Zweck: Sie soll einem die Lust auf ein Produkt verderben.

„Z’Pro­blem isch, das mir dütschg­seit zviu Eier frässe“, kommen­tiert Ursina ihr Projekt „ei und huhn“. Denn Hühner brau­chen viele pflanz­liche Proteine, um verläss­lich Eier zu legen. Proteine, die wir auch selbst essen könnten. Damit stehen sie, anders als Kühe, die nur mit Gras auskommen können, in direkter Konkur­renz zur mensch­li­chen Ernährung.

Wen das noch nicht über­zeugt, für den hat das radiesli in seiner Anti-Werbe­bro­schüre noch härtere Kost bereit: Die gegen­wär­tige Eier­pro­duk­tion verhöhnt trotz Frei­land oder gar bio alles, was als wesens­ge­rechte Haltung durch­gehen könnte: Die männ­li­chen Hybrid-Küken werden nach dem Schlüpfen geschred­dert, und die weib­li­chen Hybride mittels künst­li­chem Licht und zwei­wö­chiger Hungerkur durch die Winter­pause gemurkst — damit sie im Winter, bei dem kein Vogel in freier Wild­bahn ein Ei legen würde, dennoch fleissig Eier legen. Nach 80 Wochen werden sie dann entsorgt, weil ihre Eier, oft „zu gross“ (!), nicht mehr in die Schachtel passen.

Verzichtet man auf diese Indu­stria­li­sie­rung des Hühner­le­bens, gibt es im Winter keine und übers Jahr viel weniger Eier. Deshalb gibt es für die statt­li­chen 175 Franken im Jahr gerade mal 170 Eier – und alle drei Jahre ein Suppen­huhn zusammen mit einem 4‑monatigen Bruder vom Öko-Eier-Pionier Kurt Brunner (für je 25 gerechte Franken pro Tier). Da ist jedem Ei ein Ehren­platz im sonn­täg­li­chen Brunch sicher, und das Problem des zu grossen Konsums regelt sich von selbst.

Einziger Wermuts­tropfen: Die radiesli-Hühner fressen vorerst noch Soja, wenn auch biolo­gisch ange­bautes aus Europa. Dennoch ist das radiesli-Ei dem Migros-Ei, das neuer­dings statt Soja Sonnen­blu­men­kerne frisst, ökolo­gisch weit über­legen: schlicht, weil es viel weniger gegessen wird.

Gehen Soli­da­rität und Biopreise zusammen?

Das radiesli macht also vieles richtig. Aber: Ist das Projekt wirk­lich soli­da­risch, wenn es den Gewinn für die Bauern und die Natur über einen hohen Preis regelt, der Mitbür­ge­rInnen mit begrenzten finan­zi­ellen Mitteln ausschliesst? Schliess­lich gibt es, obwohl wir noch nie so wenig für Lebens­mittel zahlen mussten wie heute, dennoch Menschen, die nicht 1100 Franken für ein Gemü­seabo für zwei Personen aufbringen können.

Dafür hat das radiesli einen Soli­fonds einge­richtet, auf den Gutver­die­ne­rInnen einzahlen, sodass Menschen mit klei­nerem Einkommen ihr Gemü­seabo zu einem tieferen Preis beziehen können. „Aber es besteht noch Ausbau­be­darf”, meint Ursina. Dann erzählt sie von einem Projekt in Hamburg, das die Preise so fest­legt: In Biet-Runden schreibt jedes Mitglied den Betrag auf, den sie oder er fürs Jahresabo bezahlen kann (und will). Diese Übung dauert so lange, bis die Kosten für den Anbau gedeckt sind. Die Mitglieder müssen dann den Beitrag bezahlen, den sie zuge­si­chert haben. Denn: „Teilen heisst unter unglei­chen Voraus­set­zungen auch, dass die, die mehr haben, auch mehr geben.“ Das radiesli hat schon sehr viel richtig gemacht. Aber der Hof mit dem kleinen Wurzel­ge­müse wird erst zur Ruhe gekommen sein, wenn es seinen Soli­da­ri­täts­ge­danken auf die höchste Stufe gehoben hat.

P.S. Wenn es dich auch juckt, dein Gemüse besser kennen­zu­lernen: Auf dieser Karte findest du bestimmt ein radiesli in deiner Nähe.

 


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