Es ist der 23. Januar 2020, ein regnerischer Donnerstag. Zwei Tage sind vergangen seit der Regierungsbildung durch Universitätsprofessor Hassan Diab, der mit einem Kabinett aus vierzehn Technokraten und sechs Technokratinnen der Forderung der Strasse nach parteipolitischer Unabhängigkeit und mehr Frauenbeteiligung nachkommen will. DemonstrantInnen hatten seit dem 17. Oktober 2019 permanenten Druck auf die politische Führung ausgeübt, worauf diese Ende Oktober zurücktrat.
In einem Café neben einer Schule in Koraytem im Nordwesten von Beirut treffe ich eine der EntscheidungsträgerInnen der Protestbewegung, Darine Dandachly. Sie kommt direkt von der Pressekonferenz zu ihrer neu lancierten Kampagne „Nicht zahlen!“: „Der Beginn einer Art zivilen Ungehorsams. Keine Steuern zahlen, keine Bankschulden zurückzahlen und so weiter.“ Die 42-jährige Darine ist Mitglied des Komitees zur Koordination der Revolution und organisiert den Austausch zwischen dreissig verschiedenen revolutionären Gruppen, um den Protest aus allen Bereichen der Gesellschaft zusammenzuführen. Ob sie Hoffnungen in die neue Regierung legt? „Es sind dieselben Personen und Parteien aus demselben System, nur die Namen sind anders. Anstelle von ParteiführerInnen haben wir nun ehemalige RegierungsberaterInnen“, erklärt sie und fügt an: „Wir vertrauen ihnen nicht.“
Das Misstrauen der Menschen richtet sich nicht primär gegen die einzelnen MinisterInnen, die die Geschicke des Landes leiten sollen, sondern gegen das 1990 nach dem Ende des 15-jährigen Bürgerkriegs etablierte politische System.
Dieses sieht ein Wahlsystem vor, das die drei grossen konfessionellen Strömungen im Libanon gleichermassen repräsentieren soll. So muss das Amt des Präsidenten stets durch einen Christen, dasjenige des Premierministers durch einen Sunniten und dasjenige des Parlamentspräsidenten durch einen Schiiten besetzt sein. Die Wahlberechtigten können nur KandidatInnen der eigenen Konfession ihres Wahlbezirks in das Parlament wählen, in welchem den ChristInnen und MuslimInnen jeweils 64 Sitze zustehen. Dieses System ist Ausgangspunkt von Klientelismus und Korruption. Seit Ende des Bürgerkriegs kontrollieren die grossen Parteien weite Teile von Wirtschaft, Gesellschaft, Medien und Polizei.
Der Zugang der Menschen zu Arbeit und fundamentalen Leistungen liegt damit völlig in den Händen dieser politischen Elite. So könne es vorkommen, dass einem nur durch entsprechende Kontakte Einlass in gewisse Spitäler gewährt wird, sagt Ali, ein Frontline-Aktivist der ersten Stunde und Bankangestellter. „Und danach wirst du dieser Partei bei den nächsten Wahlen deine Stimme geben müssen.“ Seit dreissig Jahren nimmt die Kopplung des Anspruchs auf staatliche Dienstleistungen an politische Loyalität die LibanesInnen in Geiselhaft. Die Krise der seit Jahren stagnierenden Wirtschaft will die Protestbewegung nun nutzen, um sich mit einer Revolution (thawra) von dieser Abhängigkeit zu befreien.
Wiederbelebter Widerstand
Die Abdankung des sunnitischen Multimilliardärs Saad Hariri am 29. Oktober 2019 stellte eine Zäsur in der libanesischen Politik und Kultur dar. Noch nie zuvor ist eine Regierung ohne Intervention äusserer Mächte, sondern aufgrund innerer Forderungen zurückgetreten. Dass die Hariri-Regierung aufgrund der anhaltenden Wirtschaftskrise immer mehr indirekte Steuern wie die Mehrwertsteuer oder Steuern auf Benzin und Telefondienste erhob, brachte nicht nur das Fass der allgemeinen Wut zum Überlaufen. Vielmehr wurde dadurch auch eine Bewegung wiederbelebt, die sich seit dem Ende des Bürgerkriegs als Opposition zum politischen System behauptet.
Die verheerende Finanzpolitik der Regierung und die restriktive Strategie der Banken, pro Person mittlerweile nur noch Geldbezüge von bis zu 200 US-Dollar alle zwei Wochen zuzulassen, trifft den Alltag der LibanesInnen hart: Die Menschen haben kein Geld mehr, immer weniger arbeiten. Manche erhalten für ihre Arbeit keinen Lohn mehr, können ihre Rechnungen nicht bezahlen. Viele kämpfen zudem mit Lebensmittelknappheit, Stromausfällen und unsauberem Trinkwasser. All das trägt zur allgemeinen Depression bei, die das Land erfasst hat.
Für viele ist die Revolution die letzte Hoffnung, bevor sie den Libanon in Richtung Europa verlassen wollen. Die etablierten politischen Parteien – von Saad Hariris sunnitischer Zukunftsbewegung über Michel Aouns christliche Freie Patriotische Bewegung bis zur schiitischen Hisbollah – müssen sich ernsthaft damit auseinandersetzen, wie sie mit der zunehmenden Macht der Strasse umgehen sollen. Die politische Machtelite – bis auf die Hisbollah und die schiitische Partei Harakat Amal – scheiterte bisher mit ihren Versuchen, die Proteste für ihre eigene politische Agenda zu instrumentalisieren. Die Bewegung hielt ihren eisernen Grundsatz ein, sich nicht mit den Parteien an einen Tisch zu setzen.
Erhoben hat sich der neue, alte Widerstand mit dem Aufruf der linken Grassroot-Bewegung Li Haqqi („Für meine Rechte“), die am 17. Oktober 2019 über WhatsApp zum spontanen Protest auf dem Platz Riad al-Solh in der Beiruter Innenstadt aufrief. Zehntausende kamen. „Das System reproduziert seine eigenen Krisen. Wir proklamieren schon seit Jahren die Bildung eines säkularen Systems in einer sozial gerechten Wirtschaft. Das ist nicht neu“, sagt Adham Hassanieh, Mitglied bei Li Haqqi und einer der InitiatorInnen der Proteste. Die Bestätigung für einen Kulturwandel sieht er in der Verbreitung der Forderung nach Veränderung über den ganzen Libanon: „Nach dem 17. Oktober gingen die Leute nicht nur in Beirut auf die Strasse. Sondern überall, in Tripoli, Nabatiye, Sour, Saida, Baalbek.“ Erstmalig sei es der Protestbewegung – vorwiegend Menschen aus der Beiruter Mittelschicht – gelungen, mit dem Ruf nach Veränderung in andere Provinzen vorzudringen.
Ausserdem gebe die Revolution den Menschen neues Selbstvertrauen gegenüber der politischen Klasse. PolitikerInnen trauten sich nicht mehr, mit ihren Konvois hinauszugehen oder sich an öffentlichen Orten zu zeigen aus Angst, angegriffen zu werden. Exemplarisch dazu wurde das Parlamentsgebäude in der Innenstadt von Beirut mit Mauern und Stacheldraht verbarrikadiert. Noch nie zuvor hat sich das Verhältnis der Bevölkerung zu den etablierten Parteien dermassen umgekehrt. Anders als bei den Unruhen im Zuge des Arabischen Frühlings 2011 oder den Demonstrationen gegen die Müllkrise 2015 scheint heute kein Ende in Sicht. Die Proteste haben sich über den ganzen Libanon in eine Bewegung verwandelt, die über die Stärke verfügt, konkret etwas zu verändern. Zuerst muss sie sich aber mit ihrer neuen Macht zurechtfinden.
Im Würgegriff der Macht
Was es bedeutet, die politische Macht im Libanon aufzurütteln, musste Darine Dandachly als Frontline-Aktivistin am eigenen Leib erfahren. Nachdem der Anführer der Hisbollah, Hassan Nasrallah, in der ersten Woche die Proteste über den Propaganda-Sender Al-Manar als von den USA gesteuert bezeichnete, rief er seine AnhängerInnen zur Unterstützung der Hariri-Regierung auf. Daraufhin machten Schlägertrupps der Hisbollah zusammen mit Anhängern von Harakat Amal mit Schlagstöcken und Faustschlägen Jagd auf die Protestierenden. „Ich war eine derjenigen, die in der ersten Woche angegriffen wurden, weil ich die Angriffe der Hisbollah live gestreamt habe und mich geweigert habe, damit aufzuhören.“
Mit Nadelstichen versucht die Hisbollah, der Revolution ihre Grenzen aufzuzeigen und die DemonstrantInnen mit Gewaltakten einzuschüchtern. Mit ihrer vom Iran ausgerüsteten Miliz verfügt die antizionistische Partei über das entscheidende Element in der momentanen Lage im Libanon: Waffengewalt. Ihre gegen Israel gerichteten Raketen nutzt die Hisbollah gleichzeitig zur innenpolitischen Inszenierung. Mit diesen militärischen Muskelspielen setzt sie die anderen politischen Parteien und die neue Regierung unter permanenten Druck. Ausserdem ermöglichte sie die Öffnung des Libanon für den Einfluss Irans, dies, während sich das iranisch-saudische Verhältnis stetig verschlechtert. Damit ist die Hisbollah auch wesentlich für die Abkühlung der langjährigen Wirtschaftsbeziehungen zwischen dem Libanon und Saudi-Arabien mitverantwortlich. Für die Protestbewegung steigt deshalb je länger je mehr der Druck, eine klare Haltung gegenüber der stärksten Kraft und dem eigentlichen Lähmungsfaktor der politischen Verhältnisse im Libanon einzunehmen. Doch die Zeit dafür ist noch nicht gekommen.
Kay, 35 Jahre alt, Aktivistin und Mitarbeiterin bei einer libanesischen NGO, sieht die Stärke der Bewegung in ihrer eigenen Bescheidenheit: „Der Fehler von 2015 lag darin, dass man zu naiv vorging. Zuerst sprach man über die Müllentsorgung, dann über die Entwaffnung der Hisbollah. Typisch Jugendbewegung. Sie haben sich nicht abgesprochen, was sie anprangern wollten und hatten zu hohe Erwartungen. Sie brachten Probleme auf den Tisch, die niemand hier im Libanon lösen kann. Diesmal ist die Bewegung klüger. Wir beschränken uns auf ein Thema: die soziale Frage. Nicht mehr.“
Um nicht alles aufs Spiel zu setzen, legt die Bewegung ihren Fokus abseits der Hisbollah-Thematik auf den antiautoritären Widerstand über zivilen Ungehorsam. Obwohl die organisierten Revolutionsgruppen jeden Machtanspruch von sich weisen und auch keine AnführerInnen bestimmen wollen, ist ihr gesellschaftliches und politisches Gewicht innerhalb der letzten vier Monate unübersehbar geworden.
Doch zu welchen Methoden ist die Revolution bereit zu greifen, um die Verhältnisse im Zedernstaat so fundamental zu verändern, wie ihr das vorschwebt?
Die Frage der Gewalt
„Wir sind keine revolutionäre Bewegung, die nach Herrschaft strebt. Wieso sollten wir also Gewalt anwenden? Wir sind Leute, die für eine bessere Lebensqualität rebellieren“, enerviert sich Adham von der linken Grassroot-Bewegung Li Haqqi auf die Frage, ob ihr Plan den bewaffneten Widerstand vorsehe. Die Bewegung wolle nicht nur eine wütende Intifada sein, sondern den Druck der Strasse langfristig aufrechterhalten. „Bis das System von selbst zusammenbricht.“
Aus diesem Grund lehnen die revolutionären Gruppen internationale Finanzhilfen für den Staat, etwa von der ehemaligen Mandatsmacht Frankreich, kategorisch ab. In ihren Augen überwindet sich das korrupte System gerade von selbst. Der libanesische Wirtschaftskollaps prophezeit den Beginn des Niedergangs eines Staates, der 50 unterschiedliche Banken beherbergt und die dritthöchste Staatsverschuldung im Verhältnis zum BIP auf der Welt aufweist. Dieses System soll in den Augen der revolutionären Bewegung nicht durch symptombekämpfende Notgerüste am Leben gehalten werden. Die politischen Parteien hingegen versuchen verzweifelt, die labilen Strukturen zu retten. Dazu greifen sie über die Armee und die Internen Sicherheitskräfte (ISF) immer mehr zu gewaltsamen Mitteln.
Das Wochenende des 18. und 19. Januars 2020 bedeutete für viele AktivistInnen das definitive Ende des pazifistischen Weges. 450 Verletzte vermeldeten libanesische und internationale Medien am Montagmorgen auf ihren Titelseiten. Zwei Demonstranten verloren jeweils ein Auge durch Gummi-Geschosse der ISF. In der Beiruter Innenstadt versuchten sich die DemonstrantInnen einen Weg zum Parlament zu bahnen, die ISF antwortete mit Tränengas und Wasserwerfern. Ununterbrochen heulten Ambulanz-Sirenen, bewaffnete Soldaten sperrten den Zugang zur Innenstadt ab.
Nach einem Gespräch mit Kay im Stadtteil Hamra werde ich auf dem Rückweg Zeuge der gleichen Szenen. Unter dem Märtyrerplatz liegt Tränengas in der Luft, Helikopter rattern über der Stadt. Ich komme durch verwüstete und mit Steinen übersäte Strassen, am Boden liegen umgeworfene Blumentöpfe und Tränengashülsen. Im Fünfsekundentakt höre ich, wie in der Parlamentsstrasse Gummigeschosse abgefeuert werden. Es ist die Szenerie, die das Bild der Innenstadt in den folgenden Tagen prägt.
Ursprünglich organisierten die DemonstrantInnen Yoga-Strassenblockaden und Menschenketten vom Norden in den Süden des Landes. Nach interner Kritik an dieser Strategie haben AktivistInnen in gezielten Aktionen Bankenfilialen in Hamra verwüstet. Dabei wird darauf geachtet, dass keine anderen Geschäfte oder Menschen attackiert werden. Gewalt gegen Sachen sei legitim, da sie bloss symbolischen Wert habe, meint auch Darine Dandachly. Ausserdem: „Wir können den Leuten keine Vorwürfe machen für die Gewalt auf der Strasse. Wir sind hungrig. Wir haben seit dreissig Jahren keine Grundrechte. Wie sollen wir hungernde Leute davon abhalten, sich gewalttätig auf der Strasse zu verhalten?“ Sie selbst sieht wie viele andere von bewaffneter Gewalt ab: „Für uns und viele andere Gruppen ist das keine Option. Der Libanon unterscheidet sich von anderen Ländern.“ Die Revolution kümmere sich in erster Linie um die alltäglichen Probleme der Menschen.
Wie lange sich die Bewegung noch unter dem nach aussen getragenen Banner des gewaltlosen Widerstands sammeln lässt, während die Situation der Menschen immer schlimmer wird, weiss Darine nicht.
Im Café in Koraytem stellt sich eine Frau neben uns als Chirurgin vor und wendet sich mit einem Bankauszug an Darine. Darauf ist zu sehen, dass sie seit mehreren Monaten keinen Lohn mehr erhalten hat. „Genau das sind die Probleme, mit denen wir konfrontiert sind.“ Darine wird wütend und kommt nochmals auf den ursprünglichen Plan der Revolution zurück: nahe bei den Leuten bleiben und sich nicht mit der Macht einlassen, die über dreissig Jahre lang die Probleme der Menschen missachtet hat.
„Ich weiss, dass die Revolution nicht in absehbarer Zeit erfolgreich sein wird“, sagt Darine. Nach einem Blick auf ihr Smartphone gerät die Aktivistin in Eile. Sie muss ihre beiden Kinder von der Schule abholen. „Seit Beginn der Revolution musste ich sehr viele Opfer bringen in meinem Familienleben. Doch ich sage mir, dass ich das alles für meine Kinder tue. Ich tue es, um ihnen einen besseren Libanon zu hinterlassen.“ Noch einmal blicke ich in ihr ernstes Gesicht, dann füllt sich der Gehweg vor der Schule rasch mit lärmenden Kindern. Ein Hoffnungsschimmer in einem Land, über dem immer düsterere Wolken aufziehen.
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